Oberlandesgericht Köln:
Urteil vom 15. Juli 2011
Aktenzeichen: 6 U 192/10

(OLG Köln: Urteil v. 15.07.2011, Az.: 6 U 192/10)

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das am 21.10.2010 verkündete Urteil der 31. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 31 O 304/06 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Urteilsformel zu Nr. 1 folgende Fassung erhält:

Die Beklagte wird unter Androhung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungs­geldes bis zu 250.000,00 € - ersatzweise Ordnungs­haft - oder von Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, zu vollziehen an der Geschäftsführerin der Beklagten, verurteilt es zu unterlassen,

im geschäftlichen Verkehr das Produkt „Ling Zhi Pilz Sporenpulver 100 %“ als Mittel zur Nahrungsergänzung anzubieten und/oder zu vertreiben, sofern das Produkt nicht nach der Verordnung (EG) Nr. 258/97 (Novel-Food-Verord­nung) zugelassen oder notifiziert ist.

Die weiteren Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung des Unterlassungsanspruchs durch Sicherheitsleistung in Höhe von 30.000,00 € abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Sie kann die Vollstreckung wegen der Kosten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Beklagte bot im Dezember 2005 über das Internet „Ling Zhi Pilz Sporenpulver 100 %“ als Nahrungsergänzungsmittel an (Anl. K 3 und 6, Bl. 26 f., 49 der Akten; Anl. A 3 und 6, Bl. 24 f., 37 der Beiakten 31 O 876/05). „Ling Zhi“ (chinesisch) oder „Reishi“ (japanisch) wird ein in Deutschland als „Glänzender Lackporling“ bekannter Baumschwamm (Ganoderma lucidum) genannt, der als ungenießbar (nicht giftig) gilt.

Der Kläger, ein Wettbewerbsverein, nimmt die Beklagte wegen unzulässigen Vertriebs ihres Pilzpulvers auf Unterlassung in Anspruch und behauptet, Zubereitungen aus Bestandteilen des Pilzes seien in Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.01.1997 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten (Novel-Food-Verordnung, NFV) nicht in nennenswertem Umfang zum menschlichen Verzehr verwendet worden. Die Beklagte hat sich für ihre gegenteilige Behauptung auf den Vertrieb von Erzeugnissen näher bezeichneter Unternehmen, Privatgutachten, Angaben und Listen in- und ausländischer Stellen sowie der EU-Kommission, Gerichtsentschei­dungen und weitere Unterlagen bezogen.

Mit dem angefochtenen Urteil, auf das wegen aller Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes und der Beurteilung durch die Kammer verwiesen wird, hat das Landgericht die Beklagte gemäß dem (nach einer Teilrücknahme verbliebenen) Klageantrag unter Androhung von Ordnungsmitteln verurteilt, das Anbieten und/oder den Vertrieb des Produkts „Ling Zhi Pilz Sporenpulver“ zu unterlassen.

Mit ihrer den Klageabweisungsantrag weiter verfolgenden Berufung rügt die Beklagte logische Widersprüche des Urteils und fehlerhafte Anforderungen des Land­gerichts an die Substantiierung des beiderseitigen Sachvortrags. Sie macht gel­tend, die Kammer habe ihr Vorbringen nicht vollständig gewürdigt und rechtsfehlerhaft eine Darlegung des Vertriebs identischer Produkte in Europa vor dem Stichtag verlangt. In der Berufungsverhandlung sowie mit Schriftsatz vom gleichen Tag hat sie weitere Dokumente vorgelegt, auf die verwiesen wird. Sie hält eine enge Auslegung der den Vertrieb neuartiger Lebens­mittel beschränkenden Vorschriften für geboten und regt an, dem Europäischen Gerichtshof mehrere im Schriftsatz vom 01.07.2011 ausformulierte Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.

II.

Die zulässige Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg.

1. Die entsprechend dem Antrag des Klägers in der Berufungsverhandlung vorgenommene Ergänzung der erstinstanzlichen Urteilsformel ist lediglich redaktioneller Natur. Sie dient zum einen der Vervollständigung der unstreitigen Bezeichnung des angegriffenen Produkts („100 %“) und zum anderen der Klarstellung des mit der Klage geltend gemachten Verbotsumfangs („sofern das Produkt nicht nach der Verordnung [EG] Nr. 258/97 [Novel-Food-Verordnung] zugelassen oder notifiziert ist“), ohne damit den Wegfall des Anspruchs oder die Entstehung einer Unterlassungspflicht aus ande­ren Gründen auszuschließen.

2. Das Landgericht hat den aus §§ 3, 4 Nr. 11, 8 Abs. 1 und 3 Nr. 2 UWG, Art. 1 Abs. 2 lit. d, Art. 3 Abs. 2 und 4, Artt. 4 ff. NFV folgenden Unterlassungsanspruch des Klägers auf der Grundlage des erstinstanzlichen Sach- und Streitstands zu Recht und mit zutreffenden Erwägungen bejaht. Der Senat nimmt zur Vermeidung überflüssiger Wiederholungen vorab auf die sorgfältigen, die in erster Instanz aufgeworfenen Fragen gründ­lich abhandelnden, abgewogenen und im Ergebnis überzeugenden Ausführungen der Kammer zustimmend Bezug. Das Vorbringen der Beklagten im Berufungsrechtszug rechtfertigt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht keine andere Entscheidung.

a) Ersichtlich zutreffend hat das Landgericht das von der Beklagten angebotene Pilz-Sporen­pulver - auf der Grundlage ihrer eigenen Angaben - als ein aus Pilzen bestehendes (oder daraus isoliertes) Lebensmittel (oder eine Lebensmittelzutat) im Sinne der Definition des Art. 1 Abs. 2 lit. d NFV eingeordnet. Die Berufung bringt dagegen nichts vor. Ihre Rüge, es sei widersprüchlich, das Produkt einerseits als Lebensmittel zur Nahrungsergänzung zu qualifizieren und andererseits seinen Vertrieb als Nahrungsergänzungsmittel zu verbieten, verkennt den - mit der Neufassung des Tenors klargestellten - Umfang des vom Landgericht ausgesprochenen, allein auf einen Vertrieb ohne Genehmigung oder Notifi­zierung als neuartiges Lebensmittel abzielenden Verbots.

b) Soweit die Berufung unter Hinweis auf die vom Bundesgerichtshof bejahte partielle Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des im deutschem Recht bestehenden präventiven Verbots mit Erlaubnisvorbehalt für Lebensmittel-Zusatz­stof­fe (BGH, GRUR 2011, 355 = WRP 2011, 220 - Gelenknahrung II) die Statuierung eines Genehmigungsvorbehalts für neuartige Lebensmittel prinzipiell in Frage stellt und stattdessen eine vom Kläger konkret darzulegende Gesundheitsgefahr fordert, weil es an einem dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ge­nü­genden, leicht zugänglichen, transparenten und in angemessener Zeit abzuschließenden Verfahren zur Erlangung einer Vertriebsgenehmigung fehle, kann sie damit keinen Erfolg haben.

Während der Bundesgerichtshof vom europäischen Mindeststandard abweichende nationale Bestimmungen zur Lebensmittelsicherheit an primärem Unionsrecht gemessen hat, beruht das Vertriebsverbot mit Erlaubnisvorbehalt für neuartige Lebensmittel und Lebensmittel­zutaten auf einer Entscheidung des Unionsgesetzgebers selbst, der solche Lebensmittel zum Schutz der öffentlichen Gesundheit einer einheitlichen Sicherheitsprüfung in einem Gemeinschaftsverfahren unterwerfen wollte, bevor sie in der Gemeinschaft in Verkehr gebracht werden (Erwägungsgrund 2). Die deutsche Verordnung zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten (NLV) trifft insoweit keine weitergehenden Regelungen, sondern bestimmt im Wesentlichen nur die in Deutschland zuständigen Prüfstellen. Anhaltspunkte für eine rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechende Ausgestaltung des vom europäischen Gesetzgebers vor­gese­henen Genehmigungs- oder Notifizierungsverfahrens zeigt die Beru­fung im Übrigen nicht auf. Die faktische Zeitdauer anderer anhängiger Verfahren allein lässt keine Schlüsse in diese Richtung zu und unzumutbare Verzögerungen der Entscheidung über eigene Anträge legt die Beklagte nicht dar. Insbesondere behauptet sie selbst nicht, sich für das streitgegenständliche Produkt vergeblich um eine Genehmigung oder Notifizierung (im vereinfachten Verfahren gemäß Art. 3 Abs. 4, Art. 5 NFV, § 3 Abs. 2 NLV) bemüht zu haben.

c) Die das Marktverhalten regelnden Bestimmungen der Novel-Food-Verord­nung sind auf das Pilz-Sporenpulver der Beklagten anwendbar, sofern es sich dabei um ein in der Europäischen Union neuartiges Lebensmittel oder eine neuartige Lebens­mittelzutat handelt. Das ist nach den fehlerfrei getroffenen und ungeachtet des ergänzenden Vorbringens der Beklagten in der Berufungsinstanz weiterhin zutreffenden Feststellungen des Landgerichts der Fall.

aa) Gemäß Art. 1 Abs. 2 NFV kommt es für die Neuartigkeit darauf an, ob das betreffende Lebensmittel oder die betreffende Lebensmittelzutat bis zum Inkrafttreten der Verordnung in der Europäischen Union noch nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurde. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Slg. 2005, I-5141 = WRP 2005, 863 = BeckRS 2005, 70422 - HLH Warenvertrieb und Orthica) und des Bundesgerichtshofs (GRUR 2008, 625 = WRP 2008, 924 - Fruchtextrakt; GRUR 2009, 413 = WRP 2009, 300 - Erfokol-Kapseln) hat das Landgericht zutreffend darauf abgestellt, ob unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls feststeht, dass Pilz-Sporenpulver der streitbefangenen Art vor dem 15.05.1997 in keinem Mitgliedstaat in erheblicher Menge für den menschlichen Verzehr verwendet wurde.

Maßgebend dafür sind qualitative und quantitative Kriterien (BGH, GRUR 2009, 413 = WRP 2009, 300 [Rn. 30] - Erfokol-Kapseln). In diesem Zusammenhang ist der Umstand, dass das betreffende Lebensmittel oder die betreffende Zutat vor dem Bezugszeitpunkt auf dem Markt eines Mitgliedstaats oder mehrerer Mitgliedstaaten vertrieben worden sind, lediglich mit von Bedeutung. Die berücksichtigten Umstände müssen das Lebensmittel oder die Zutat selbst betreffen, auf das oder auf die sich die Prüfung erstreckt, und nicht ein ähnliches oder vergleichbares Lebensmittel oder eine ähnliche oder vergleichbare Zutat. Denn auf dem Gebiet der neuartigen Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten lässt sich nicht ausschließen, dass selbst gering erscheinende Abweichungen ernst zu nehmende Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung nach sich ziehen können, zumindest solange nicht die Unschädlichkeit des fraglichen Lebensmittels oder der fraglichen Zutat durch angemessene Verfahren nachgewiesen ist (EuGH, a.a.O., Rdnrn. 83 ff.; BGH, GRUR 2008, 625 = WRP 2008, 924 [Rn. 16] - Fruchtextrakt)

Im Streitfall kann sich die Prüfung mithin nicht allgemein auf den Vertrieb beliebiger Ling-Zhi- oder Reishi-Pilz-Zubereitungen vor dem Stichtag beschränken; abzustellen ist vielmehr auf das konkret beanstandete, ausschließlich (zu 100 %) aus den Sporen des Ling-Zhi-Pilzes hergestellte Pulver, das in Mitglieds­staaten der Europäischen Union in erheblicher Menge zum Verzehr, nicht allein zu arzneilichen Zwecken verwendet worden sein muss. Diese Prüfung hat das Landgericht mit großer Sorgfalt vorgenommen, wobei der von ihm benutzte Begriff der Produktidentität erkennbar nicht auf spezifische Erzeugnisse eines bestimmten Unternehmens in bestimmter Darreichungsform und Aufmachung, sondern auf den Verzehr identischer Lebensmittel im vorbeschriebenen Sinn abzielt. Der Senat teilt nicht die Auffassung der Beklagten, dass es für die Beurteilung allein darauf ankomme, ob die stofflichen Bestandteile des beanstandeten Produkts ohne Rücksicht auf die Art der Zubereitung und mögliche weitere Bestandteile schon vor dem Stichtag in Europa von Menschen über den Verdauungstrakt aufgenommen wurden; an der Neuartigkeit fehlt es vielmehr bereits dann, wenn keine hinreichend umfangreiche Verwendung gleichartiger Zubereitungen als Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel - unabhängig von einer etwaigen Verwendung als Arzneimittel - stattgefunden hat. Hiervon geht letztlich auch die Beklagte selbst aus, wenn sie gegenüber dem Vorbringen des Klägers zur Ungenießbarkeit des „Glänzenden Lackporlings“ als Pilz darauf verweist, dass das von ihr angebotene Pulver aus den Sporen dieses Pilzes etwas ganz anderes (ernährungsphysiologisch wertvolleres) sei.

bb) Das Landgericht hat angenommen, dass zur Nahrungsergänzung angebo­tenes Ling-Zhi-Pilz-Sporen­pulver ein neuartiges Lebensmittel im vorgenannten Sinn ist. Zu dieser Feststellung ist die Kammer unter umfassender Würdigung des erstinstanzlichen Vorbringens beider Parteien gelangt, ohne für die Darlegungslast in Bezug auf den Kläger von zu geringen und in Bezug auf die Beklagte von zu hohen Anforderungen auszugehen.

(1) Darlegungs- und beweisbelastet für die seinen Unterlassungsanspruch mitbegründende negative Tatsache, dass ein Lebensmittel oder eine Zutat vor dem 15.05.1997 in der Gemeinschaft nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurde, ist zwar der Kläger (BGH, GRUR 2008, 625 = WRP 2008, 924 [Rn. 18] - Fruchtextrakt). Die beklagte Anbieterin eines beanstandeten Produkts trifft aber eine sekundäre Darle­gungs­last; erst wenn sie konkrete Umstände vorträgt, aus denen auf einen vor dem Stichtag erfolgten hinreichend umfangreichen Verzehr des gerade von ihr angebotenen Lebensmittels geschlossen werden kann, muss der Kläger darauf seinerseits - gegebenenfalls unter Beweisantritt - eingehen. Dafür spricht zum einen, dass an den Beweis einer negativen Tatsache keine unerfüllbaren Anforderungen gestellt werden dürfen (BGH, GRUR 2007, 629 = WRP 2007, 781 [Rn. 12 f.] - Zugang des Abmahnschreibens). Zum anderen wird auch der Beklagten nichts Unzumutbares abverlangt, weil sie als Lebensmittelunternehmerin Sorge dafür zu tragen, dass die von ihr beworbenen und vertriebenen Lebensmittel die Anforderungen des Lebensmittelrechts erfüllen (BGH, GRUR 2008, 625 = WRP 2008, 924 [Rn. 19] - Fruchtextrakt).

(2) Seiner primären Darlegungslast in Bezug auf die negative Tatsache der fehlenden Verwendung von Ling-Zhi-Pilz-Sporen­pulver in der Gemeinschaft hat der Kläger gemäß der zutreffenden Annahme des Landgerichts und entgegen den Angriffen der Berufung genügt. Er hat nicht nur wiederholt auf die Ungenieß­barkeit des Pilzes selbst verwiesen (was der Sache nach durchaus als ein Indiz gegen eine Verwendung von Pilzbestandteilen als Nahrungsergänzungsmittel in Betracht kommt), sondern ebenso eindeutig (beispielsweise in seinen Schriftsätzen vom 04.07.2006, 28.04.2010 und vom 28.07.2010 und mit Vorlage des Gutachtens Engel zu 9HK O 8523/06 LG München I = 29 U 3012/09 OLG München als Anlage K 24 / K 26) einen relevanten Verzehr von aus dem Pilz gewonnenen Zubereitungen, für die es keinen Bedarf gebe, in Abrede gestellt. Soweit von der Beklagten aufgestellte Tatsachenbehauptungen dazu Anlass gaben, hat er sich nicht allein mit Nichtwissen erklärt, sondern substantiiert dargelegt, warum er das Vorbringen für unerheblich halte.

(3) Das Landgericht hat das Vorbringen der Beklagten und den Inhalt der von ihr vorgeleg­ten Dokumente in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils (S. 7 - 12 der Ausfertigung) im Einzelnen gewürdigt, im Ergebnis aber nicht für ausreichend zur Darlegung eines Sachverhalts erachtet, der in Verbindung mit den oben dargestellten Rechtsgrundsätzen den Schluss zuließ, bei dem von der Beklagten angebotenen Pilz-Sporenpulver handele es sich um ein bereits vor dem 15.05.1997 in der Europäischen Union in erheblichem Umfang zum Verzehr von Menschen verwendetes Lebensmittel. Die Berufung zeigt weder konkrete Anhaltspunkte auf, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit dieser Feststellungen begründen, noch legt sie im Berufungsrechtszug neue berücksichtigungsfähige Tatsachen dar (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 und 2 ZPO).

(a) Soweit die Berufung sich konkret und nicht nur pauschal auf den Vortrag der Beklagten in erster Instanz bezieht, bleibt sie eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den sorgfältigen Erwägungen des Landgerichts weithin schuldig. Sie rückt - aus den oben dargestellten Gründen ohne Erfolg - den Aspekt in den Vordergrund, dass die Kammer von einem falschen Verständnis ihrer sekundären Darlegungslast und einem rechtlich unzutreffenden Begriff der Produktidentität im Lebensmittel­recht ausgegangen sei, verstellt sich damit aber den Blick für die abgewogenen und zutreffenden Ausführungen, mit denen das Landgericht die inhaltliche Insuffizienz der von ihr für einen Verzehr von Pilz-Sporenpulver der in Rede stehenden Art angeführten Belege begründet hat:

• Die Bezugnahme auf das Vorbringen in zwei erstinstanzlichen Schriftsätzen (vom 17.08. 2006 und vom 21.06.2010, gemeint ist wohl der Schriftsatz vom 29.06.2010) zu Unternehmen, die „entsprechende“ Produkte in Verkehr gebracht hätten, genügt für sich allein nicht, die Erheblichkeit des Vorbringens oder gar die Notwendigkeit einer Vernehmung der in erster Instanz benannten Zeugen zu begründen. Angesichts der sorgfältigen Ausführungen im angefochtenen Urteil hätte die Beklagte vielmehr zumindest vortragen können und müssen, welche konkreten, vom Landgericht für nicht erheblich angesehenen Tatsachenbehauptungen ihrer Ansicht nach zur Darlegung der fehlenden Neuartigkeit von Ling-Zhi-Pilz-Sporenpulver als Lebensmittel oder Lebensmittelzutat geeignet sind. Auf die überzeugenden Argumente des Landgerichts (insbesondere zu Ziffer 1, 2, 6, 7, 8, 9, 10, 11 und 26 der Urteilsgründe) zur fehlenden Erheblichkeit des Vertriebs in nur geringem Umfang oder zu arzneilichen Zwecken - auch als Erzeugnis der traditionellen chinesischen Medizin - geht die Berufung nicht ein.

• Mit den Bedenken der Kammer an der Aussagekraft der vorgelegten Privatgutachten setzt sich die Berufung inhaltlich ebenfalls nicht auseinander. Dazu hätte aber um so mehr Anlass bestanden, als sogar der Gutachter M. (Anlage BKH 9, behandelt unter Ziffer 14 der Urteilsgründe) im Jahr 2004 bestätigt hat, dass der Pilz hier früher als wertlos gegolten habe; wieso es vor diesem Hintergrund für einen Verzehr durch Menschen in erheblichem Umfang schon vor Mitte 1997 sprechen soll, dass es „inzwischen“ auch hier „mehrere“ Kultivateure gebe und das Pulver „in erheblichem Umfang zum Würzen von Speisen verwendet“ werde, erschließt sich nicht, wie das Landgericht richtig ausgeführt hat. Die übrigen Gutachten (Anlagen BKH 30 bis 33) befassen sich - ersichtlich zu Prozesszwecken - mit Fragen der Genehmigungsfähigkeit, aber nicht substantiiert mit einem Verzehr von Ling-Zhi-Pilz-Sporenpulver in erheblicher Menge vor 1997 in Europa. In der Analyse des Chemikers U. (Anlage BKH 33) ist von einer Verwendung in Europa keine Rede.

• Soweit sich die Beklagte auf verschiedene instanzgerichtliche Entschei­dungen, Markenanmeldungen, Auskünfte von Behörden des Bundes, der Länder und anderer europäischer Staaten sowie die Erwähnung des Pilzes Ganoderma lucidum in einem von der EU-Kommission verantworteten Verzeichnis im Internet („Novel food catalogue“) als „Non novel food“ beruft, krankt ihre Darlegung abgesehen von der fehlenden Auseinandersetzung mit den insoweit im angefochtenen Urteil (insbesondere zu Ziffer 4, 5, 12, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 27) im Einzelnen aufgezeigten Bedenken vor allem daran, dass sie jeweils nur das Ergebnis der von einem Dritten überwiegend lange nach dem Stichtag abgegebe­nen Bewertung, nicht aber konkrete Tatsachen mitteilt, an Hand derer die inhaltliche Richtigkeit dieser Bewertung überprüft und ihre Anwendbarkeit gerade auf das im Streitfall gegenständliche Pilz-Sporenpulver nachvollzogen werden kann. In dieser Form ist ihr Vorbringen indes nicht einlassungsfähig und schon im Ansatz unge­eignet, den erhöhten Anforderungen an die sekundäre Darlegungslast eines Lebensmittelanbieters zu genügen, dem es zugemutet werden kann, sich jedenfalls in einem seit Jahren anhängigen Rechtsstreit, in dem es um die Neuartigkeit des von ihm angebotenen Nahrungsergänzungsmittels geht, über die tatsächlichen Grundlagen der angeführten Drittbewertungen zu informieren und diese Tatsachen dem Gericht als Grundlage für seine eigene Entscheidung vorzutragen.

(b) Die von der Beklagten in der Berufungsverhandlung und kurz danach vorgelegten Dokumente und der von ihr dazu gehaltene, schriftsätzlich nur rudimentär aufbereitete Vortrag stellen neue Verteidigungsmittel dar, die bei gehöriger prozessualer Sorgfalt schon in erster Instanz, spätestens aber in der Berufungsbegründung hätten geltend gemacht werden können, so dass sie nicht zuzulassen (§ 531 Abs. 2 ZPO) oder jedenfalls als verspätet zurückzuweisen (§§ 530, 520, 296 ZPO) waren.

Für das im Wesentlichen in der Vorlage umfangreicher Listen bestehende Vorbringen, aus denen sich die behördlich als zulässig angesehene Verwendung des Pilzes Ganoderma lucidum als Nahrungsergänzungsmittel oder Lebensmittel in mehreren europäischen Staaten - darunter Italien und dem Vereinigten Königreich - ergeben soll, gelten im Übrigen die vorstehend aufgezeigten Bedenken entsprechend: Die tatsächlichen Grundlagen und weithin auch weitere - den Zeitpunkt der Entscheidung, die Prüfungskompetenz und die Arbeitsweise der listenführenden Stellen betreffenden - Bedingungen der vorgetragenen Bewertungen werden von der Beklagten nicht mitgeteilt und dem Kläger wird eine substantiierte Stellungnahme ebenso wenig wie der Antritt des Negativbeweises ermöglicht.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO. Das Urteil betrifft die tatrichterliche Anwendung höchstrichterlich hinlänglich geklärter Rechtsfragen auf einen Einzelfall, so dass weder ein Anlass bestand, die Revision zuzulassen, noch dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, deren Beantwortung der Sache nach auf eine - den nationalen Gerichten vorbehaltene - Würdigung von Tatsachen hinauslaufen würde.






OLG Köln:
Urteil v. 15.07.2011
Az: 6 U 192/10


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