Bundespatentgericht:
Urteil vom 4. Mai 2005
Aktenzeichen: 4 Ni 31/03
(BPatG: Urteil v. 04.05.2005, Az.: 4 Ni 31/03)
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents EP 0 548 044 (Streitpatent), das am 18. Dezember 1992 unter Inanspruchnahme der Priorität der österreichischen Patentanmeldung AT 2514/91 vom 19. Dezember 1991 angemeldet worden ist. Das Streitpatent ist in der Verfahrenssprache Deutsch veröffentlicht und wird beim Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nr. DE 592 09 335 geführt. Es betrifft ein Schienenfahrzeug und umfasst 10 Patentansprüche, von denen lediglich die Ansprüche 1 bis 4 und 10 angegriffen sind. Patentanspruch 1 lautet wie folgt:
Schienenfahrzeug mit mehreren gegeneinander schwenkbaren Wagenkasten, deren jeder an Rädern abgestützt ist, wobei zwischen zwei abgestützten Wagenkasten, eine als schwebender Wagenkasten ausgebildete Brücke angeordnet ist, die je über eines von zwei in Fahrzeuglängsrichtung voneinander beabstandeten Gelenken mit den benachbarten, abgestützten Wagenkasten gekoppelt ist, dadurch gekennzeichnet, dass die abgestützten, nicht als Brücke ausgebildeten Wagenkasten mittels Sekundärfedern je an einem einzigen Drehgestell abgestützt sind, dessen Rahmen (6) über eine Koppeleinrichtung mit dem Wagenkasten verbunden ist, wobei die Sekundärfedern als Flexicoilfedern ausgebildet sind, so dass die Wagenkasten quer- und drehelastisch am Drehgestellrahmen (6) abgefedert sind, und dass mit dem Drehgestellrahmen (6), insbesondere als Puffer (18) ausgebildete Anschläge verbunden sind, die mit Gegenanschlägen (19) am Wagenkasten (1, 2) zusammenwirken, um die unter dem Einfluss der Flexicoilwirkung der Sekundärfederung (27) stehende Relativbewegung zwischen Drehgestell (4) und Wagenkasten (1, 2) zu begrenzen, und dass die Koppeleinrichtung den abgestützten, nicht als Brücke ausgebildeten Wagenkasten (1, 2) längssteif oder längsstarr mit dem Drehgestell (4) verbindet.
Wegen der unmittelbar und mittelbar auf Patentanspruch 1 rückbezogenen Ansprüche 2 bis 4 und 10 wird auf die Streitpatentschrift EP 0 548 044 B1 Bezug genommen.
Die Klägerin behauptet, in der Voranmeldung AT 2514/91 vom 19. Dezember 1991 seien die Merkmale K4, K9, K11' und K11'' des Anspruchs 1 des Streitpatents nicht verwirklicht, so dass die Priorität der Voranmeldung nicht wirksam in Anspruch genommen sei. Im übrigen fehle es dem Gegenstand des Streitpatents an Neuheit und er beruhe nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Zur Begründung beruft sie sich u.a. auf folgende Druckschriften:
N1d "Elektrische Bahnen", 1965, Heft 10, Seiten 235 bis 238 N2a H. Hondius, "ÖPNV-Niederflur-Fahrzeuge im Kommen (3), Teil II" in "stadtverkehr" 4/92, 37 Jahrgang, Seiten 19 bis 31, insbesondere Seiten 20 bis 26 N2b DUEWAG-Schreiben vom 5. Dezember 1991, Seiten 1 und 2 N2c DUEWAG-Zeichnung 05 703 603 N2d DUEWAG-Baubeschreibung vom 18. Januar 1991, Seiten 1 bis 7 und 29 bis 31 N2e "stadtverkehr" 1/04, (49. Jahrgang), S 10 N2f G.H. Köhler, Niederflur-Fahrzeuge für Frankfurt am Main in "stadtverkehr" 5-6/91 (36. Jahrgang), S 42-44 N2g L. Uebel, "Die Entwicklung des Niederflur-Gelenktriebwagens GT 6 N der Bremer Straßenbahn AG" in "stadtverkehr" 4/89, S 7 -10 N3a "ETG-Fachbericht 31", Seite 47 bis 68 und 277 bis 285, zur ETG-Fachtagung vom 13. bis 14. März 1990 in Kassel, erschienen am 12. März 1990 N3c L. Uebel ua, "Das Fahrwerk des Niederflur-Gelenktriebwagens GT6N", in: "Der Nahverkehr", 1989, Heft 2, Seiten 40 bis 47 N3e K.G. Pommereit und W. Völkening, "Elastomerfedern für Schienenfahrzeuge", in: "nahverkehrspraxis", 1991, Nr 9, Seiten 322 bis 325 N3f Schriftwechsel der Klägerin mit der Bremer Straßenbahn AG vom 10./29. Juli 2003 N3g CH-PS 153 359 N3h DE-PS 465 820 N4 EP 0 290 782 B1 N5 H. Hondius, "UITP-Kongress und Ausstellung in Stockholm" in: "stadtverkehr" 9/91, Seiten 16 bis 30, insbesondere Seite 28, Abb 24 N5a H. Hondius, "ÖPNV-Niederflurfahrzeuge im Kommen (2)", in "stadtverkehr" 5/90, S 12 - 38.
Die Klägerin beantragt, das europäische Patent EP 0 5498 044 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland im Umfang der Ansprüche 1 bis 4 und 10 für nichtig zu erklären.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Nach ihrer Auffassung ist die Priorität der österreichischen Voranmeldung wirksam in Anspruch genommen und der Gegenstand des Streitpatents patentfähig. Die Merkmale des Patentanspruchs 1 würden durch den genannten Stand der Technik nicht nahegelegt.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Senat konnte nicht feststellen, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents und damit der der abhängigen Ansprüche 2 bis 4 und 10 nicht patentfähig ist (Art II § 6 Abs 1 Nr 1 IntPatÜG iVm Art 138 Abs 1 lit a, Art 54, 56 EPÜ).
I Das Streitpatent betrifft ein Schienenfahrzeug mit mehreren gegeneinander schwenkbaren Wagenkasten. Bei derartigen Schienenfahrzeugen ist jeder Wagenkasten an Rädern abgestützt, wobei zwischen zwei abgestützten Wagenkasten eine als schwebender Wagenkasten ausgebildete Brücke angeordnet und mit den benachbarten Wagenkasten über Gelenke gekoppelt ist. Solche Fahrzeuge haben sich vor allem in der Niederflurbauweise im Nahverkehr, zB als Straßenbahn, bewährt, um den Fahrgästen ein bequemes Ein- und Aussteigen zu ermöglichen. Im Stand der Technik haben sich bei der Gestaltung von Niederflurfahrzeugen Drehgestelle unter den Wagenkastengelenken für die Spurführung als gut erwiesen. Wegen der engen zu befahrenden Bögen müssen sie jedoch in geringen gegenseitigen Abständen angeordnet werden, was dazu führt, dass durch die geringe Fußbodenhöhe bei Niederflurausführungen jedes Fahrwerk in den Fahrgastraum hineinragt und diesen unterteilt. Deshalb wurden selbstlenkende Einzelachsfahrwerke mit Losrädern entwickelt, die einen geringen Platzbedarf und eine größtmögliche Ausnutzung der zulässigen Achslast gewährleisten. Durch das sog. Gelenksteuerprinzip, bei dem ein Drehgestell mittig unter dem Wagenkasten angeordnet wird und zwei benachbarte Wagenkasten durch ein biegesteifes Vertikalgelenk verbunden werden, sollen Drehgestelle eingespart werden. Nachteilig ist, dass der bei klassischen Straßenbahnnetzen erforderliche relativ große Ausdrehwinkel des Drehgestells einen großen Hüllraum erfordert, der mit steigender Zahl an Wagenkasten steigt. Darüber hinaus wird über den Fahrwerken der Durchgangsraum stark eingeschränkt. Nachteilig ist weiter, dass der Wagenkasten ab Einfahrt in eine Kurve die Bewegung des Drehgestells mitmacht, sofern dieses drehstarr mit diesem Wagenkasten verbunden ist. Die spontane Drehung des Wagenkastens, die hierbei auftritt, wird von den Fahrgästen unangenehm registriert. Auf das Fahrverhalten des Schienenfahrzeugs wirkt sich weiter ungünstig aus, wenn eine Drehbewegung des Drehgestelles gegenüber den Wagenkasten nicht begrenzt werden kann.
Ziel der Erfindung ist es, die genannten Nachteile zu vermeiden.
Patentanspruch 1 beschreibt demgemäß ein OB1) Schienenfahrzeug, OB2) das Schienenfahrzeug hat mehrere gegeneinander schwenkbare Wagenkasten (1, 2), OB3) jeder der Wagenkasten (1, 2) ist an Rädern (5) abgestützt, OB4) zwischen zwei abgestützten Wagenkasten (1) ist ein schwebender Wagenkasten (3) angeordnet, OB5) der schwebende Wagenkasten (3) ist als Brücke ausgebildet, OB6) die Brücke (3) ist über je eines von zwei Gelenken (9) mit den benachbarten, abgestützten Wagenkasten (1, 2) gekoppelt, OB7) die Gelenke (9) sind in Fahrzeuglängsrichtung voneinander beabstandet.
Oberbegriff K1) die abgestützten, nicht als Brücke ausgebildeten Wagenkasten (1, 2) sind je an einem einzigen Drehgestell (4) abgestützt, K2) die Abstützung erfolgt mittels Sekundärfedern (27), K3) der Rahmen jedes Drehgestells (4) ist über eine Koppeleinrichtung (8 in Fig. 19 und 21 oder 10 und 11 in Fig. 23) mit dem Wagenkasten (1, 2) verbunden, K4) die Sekundärfedern (27) sind als Flexicoilfedern ausgebildet, so dass die Wagenkasten (1, 2) quer- und drehelastisch am Drehgestellrahmen (6) abgefedert sind, K5) mit dem Drehgestellrahmen (6) sind Anschläge verbunden, K6) die Anschläge sind insbesondere als Puffer (18) ausgebildet, K7) am Wagenkasten (1, 2) sind Gegenanschläge (19) vorhanden, K8) die Gegenanschläge (19) wirken mit den Anschlägen zusammen, um K9) die unter dem Einfluss der Flexicoilwirkung der Sekundärfederung (27) stehende Relativbewegung zwischen Drehgestell (4) und Wagenkasten (1, 2) zu begrenzen, K10) die Koppeleinrichtung (8 bzw. 10 und 11) verbindet den abgestützten, nicht als Brücke ausgebildeten Wagenkasten (1, 2) mit dem Drehgestell (4), wobei K11') in einer ersten Variante die Verbindung längsstarr ist oder K11'') in einer zweiten Variante die Verbindung längssteif ist.
Kennzeichen II Der Gegenstand des Streitpatents ist neu und erfinderisch.
1. Die Priorität der österreichischen Voranmeldung AT 2514/91 ist wirksam in Anspruch genommen.
Die Priorität für einen Anspruch in einer europäischen Patentanmeldung kann nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der Fachmann den Gegenstand des Patentanspruchs unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmen kann; es muss sich um dieselbe Erfindung handeln (BGH GRUR Int. 2004, 335 - Elektronische Funktionseinheit; GRUR 2002, 146 - Luftverteiler; vgl auch die Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts v. 31. Mai 2001 GRUR Int. 2002, 80). Der Inhalt der Prioritätsanmeldung bestimmt sich damit nach der Gesamtheit der Anmeldungsunterlagen, nicht etwa nach dem Inhalt der dortigen Ansprüche. Maßgeblich ist das Verständnis des Fachmanns zum Zeitpunkt der Einreichung der prioritätsbeanspruchenden Anmeldung.
Maßgeblicher Fachmann im vorliegenden Fall ist ein Dipl.-Ing. des Maschinenbaus mit einem Universitäts- oder Hochschulabschluss, der berufliche Erfahrung auf dem Gebiet der Schienenfahrzeuge und der Lagerung von Wagenkasten in Drehgestellen aufweist.
Im vorliegenden Fall ist in der Beschreibungseinleitung der Voranmeldung (s Anlage N1b) auf Seite 3 ua ausgeführt, dass im bekannten Stand der Technik erstmals das sogenannte Gelenksteuerprinzip verwirklicht wurde, bei dem ein Drehgestell mittig unter dem Wagenkasten angeordnet ist. Zwei benachbarte Wagenkasten sind dabei durch ein biegesteifes Vertikalgelenk verbunden. Während der Kreisbogenfahrt eines nach dem Gelenksteuerprinzip zusammengestellten Zuges stehen alle Drehgestelle radial. Bei Krümmungsänderung tritt ein Drehgestell-Ausdrehwinkel auf. Die Rückstellung des Drehgestells erfolgt durch bekannte Flexicoilwirkung der Sekundärfederung. Dieses Rückstellmoment ist auch zur Sicherstellung des stabilen Geradeauslaufes notwendig.
In der Beschreibung der Erfindung auf S 8 ist unter Verweis auf die Figuren 7 bis 11 im Absatz 2 ausgeführt, dass die Abfederung des Wagenkastens 1 bzw 2 gegen das Drehgestell über Primär- und Sekundärfedern erfolgt. Die Primärfeder ist dabei als Gummifeder 26 ausgebildet. Die Sekundärfeder ist mit 27 bezeichnet.
Dem Fachmann ist dabei bekannt, dass die Sekundärfedern die Federung zwischen dem Drehgestell und dem Wagenkasten übernehmen. Es ist für den Fachmann offensichtlich, dass die Sekundärfedern der Erfindung auch die für den Stand der Technik beschriebene Flexicoilwirkung aufweisen. Zwar ist den Figuren 7 bis 11 und der Beschreibung nicht zu entnehmen, wie die Sekundärfedern am Wagenkasten angelenkt sind. Der Fachmann wird eine gleitende Lagerung der Federn ausschließen, da so eine definierte Führung des Wagenkastens nicht möglich erscheint, der Wagenkasten vielmehr vor allem bei Geradeausfahrten instabil wäre. Wenn die Sekundärfedern aber fest mit dem Wagenkasten verbunden sind, ist auch ihre Flexicoilwirkung gegeben, denn diese Federn sind die einzigen vorhandenen Federn, die eine Querbewegung des Wagenkastens zum Drehgestell bzw ein Ausdrehen ermöglichen und auf Grund ihrer Federkraft wieder zurückstellen können. Für dieses Verständnis der Wirkung der Sekundärfedern sprechen auch die Ausführungen auf Seite 4, 3. Absatz, wonach im Zusammenhang mit den die Drehbewegung zwischen Wagenkasten und Drehgestell begrenzenden Anschlägen ausgeführt ist, dass die Querfedercharakteristik (der Sekundärfeder) nicht linear ist. Aufgrund der Koppeleinrichtung zwischen Wagenkasten und Drehgestell allein, ohne Flexicoilwirkung der Sekundärfedern, würden sich die Wagenkasten nicht zurückstellen. Mit der Flexicoilwirkung der Sekundärfedern ergibt sich, dass diese die Relativbewegungen zwischen Drehgestell und Wagenkasten beeinflussen. Die Merkmale K4 und K9 sind daher den prioritätsbegründenden Unterlagen (Anlage N1b) zu entnehmen.
Bei Sekundärfedern mit Flexicoilwirkung zwischen Wagenkasten und Drehgestell folgt bei einer Auslenkung des Drehgestells der Wagenkasten verzögert der Bewegung des Drehgestells mittels der beanspruchten Koppeleinrichtungen, wie der Fachmann ohne weiteres erkennt. Jede Koppeleinrichtung bildet damit im Zusammenhang mit der Sekundärfederung ein Verzögerungsglied. Insofern deckt sich dieses Verhalten mit dem auf Seite 4 im ersten Absatz der N1b beschriebenen Fahrverhalten des Fahrzeugs. Dem Fachmann erschließt sich auch, dass die dort beschriebenen Varianten der Koppeleinrichtung nach den Figuren 6, 7 bzw 8, 9, die als Alternativen im Kennzeichen des ursprünglichen Patentanspruchs 1 beansprucht werden, eine Wirkung auf Wagenkasten und Drehgestell aufweisen, die als "längsstarr" bzw "längssteif" bezeichnet werden kann. Denn diese weisen entweder ein in Längsrichtung starres Gelenkparallelogramm oder ein sich in Längsrichtung erstreckendes Federpaket auf, das zu einer steifen Verbindung führt. Insofern stellen die beanspruchten Merkmale K11' und K11'' des Patentanspruchs 1 nur eine zulässige Verallgemeinerung der beschriebenen Koppeleinrichtungen dar.
2. Das Schienenfahrzeug nach Patentanspruch 1 ist neu.
Da dem Gegenstand nach Patentanspruch 1 die beanspruchte Priorität zukommt ist die Druckschrift N2a nachveröffentlicht und bei der Beurteilung der Neuheit nicht zu beachten. Hinsichtlich der weiteren Druckschriften hat die Klägerin mangelnde Neuheit nicht geltend gemacht.
Die Baubeschreibung N2d im technischen Angebot an die Stadt Frankfurt, die daraus resultierende Bestätigung einer Bestellung N2b und die Zeichnung N2c sind nach Auffassung des Senats keine der Öffentlichkeit zugängliche Informationen. Derartige Unterlagen gehören nach den allgemeinen Lebenserfahrungen zu Dokumenten, bei denen auch ohne besondere Absprache eine Verschwiegenheit erwartet wird.
Das Schienenfahrzeug nach der N1d weist keine schwebende Brücke auf, die zwischen zwei Wagenkasten aufgehängt ist. Auf S 237 ist hierzu vielmehr angegeben, dass sich der Brückenträger mit je vier Schraubenfedern mit Flexicoilwirkung auf die Längsträger eines Drehgestells abstützt.
Die Druckschriften N3g und N3h zeigen Schienenfahrzeuge, bei denen zwischen zwei abgestützten Wagenkasten eine als schwebender Wagenkasten ausgebildete Brücke ausgebildet ist. Die Wagenkasten weisen jedoch keine Drehgestelle auf, sondern starre Achsen bzw Triebachsen.
In keiner der genannten weiteren Druckschriften - N2e, N2f, N2g, N3a, N3c, N3e, N4, N5, - wird ein Fahrzeug gezeigt, das eine als schwebender Wagenkasten ausgebildete Brücke aufweist, die zwischen zwei Wagenkasten abgestützt ist.
Die N5a zeigt verschiedene Schienenfahrzeuge, bei denen jeweils nicht alle Merkmale des Anspruchs 1 verwirklicht sind.
3. Das Schienenfahrzeug nach Patentanspruch 1 beruht auch auf einer erfinderischen Tätigkeit. Es war für den Fachmann durch den Stand der Technik nicht nahegelegt.
Die Dokumente N2a bis N2d haben - wie zur Neuheit ausgeführt - bei dieser Beurteilung außer Betracht zu bleiben.
In der N5 ist ein Bericht zu dem UIPT-Kongress und Ausstellung in Stockholm enthalten, der vom 2. bis 7. Juni 1991 stattfand. Auf Seite 25 ff des Berichts wird ein dort ausgestellter Prototyp eines Niederflurfahrzeugs der Firma Socimi beschrieben. In Abb 24 ist eine Zeichnung des Fahrzeugs gezeigt. Das Fahrzeug besteht aus mehreren gegeneinander schwenkbaren Wagenkasten, wobei jeweils zwischen zwei auf Drehgestellen abgestützten Wagenkasten, hier als Mittelwägelchen bzw Antriebsköpfe bezeichnet, eine als schwebender Wagenkasten ausgebildete Brücke, hier als Fahrgast-Modul bezeichnet, angeordnet ist. Aus der Bildunterschrift zu Abb 24 folgt, dass die Brücken (Fahrgast-Module) vorn und hinten horizontal drehbar an den Drehgestellmodulen befestigt sind. Die Ankopplung der Wagenkasten erfolgt ersichtlich über nicht dargestellte Gelenke hinter den balgartigen Außenverkleidungen. Somit weist dieser Prototyp bzw die Abb des Fahrzeugs alle Merkmale des Oberbegriffs des Anspruchs 1 des Streitpatents auf.
Auf Seite 26, erster Absatz des Berichts ist ausgeführt, dass als "Drehgestell, soweit bis jetzt bekannt ist, die bestehende Konstruktion des S-350 LRV Prototyps gebraucht" werde. Ferner wird auf Seite 24, 2. Absatz unter Angabe der Literaturstelle darauf verwiesen, dass der Prototyp bereits in der N5a beschrieben worden sei. In diesem Dokument N5a wird ab Seite 19, ein Prototyp S-350 LRV der Firma Socimi beschrieben. In Abb 13 ist das Antriebsdrehgestell dargestellt. Die Bildunterschrift dazu erläutert ua, dass eine Luftsekundär-Federung mit Drehkranzbefestigung zwischen Kasten und Drehgestell vorhanden ist, dass die Kraftübertragung durch zwei Lenker erfolgt und dass keine Hydraulikstoßdämpfer verwendet werden. Damit sind aus dieser Druckschrift die kennzeichnenden Merkmale K1, K2, und K3 des Patentanspruchs 1 des Streitpatents bekannt.
Da das Drehgestell dieses Fahrzeugs einen Drehkranz aufweist, können die Sekundärfedern nur zwischen Wagenkasten und Drehkranz angelenkt sein und somit keine Flexicoilwirkung zwischen Wagenkasten und Drehgestell aufweisen. Der Fachmann erhält deshalb aus dieser Druckschrift keine Anregung, die Sekundärfedern, wie in Merkmal K4 beansprucht, als Flexicoilfedern auszubilden und gemäß den Merkmalen K5 bis K9, eine mit Federn mit Flexicoilwirkung mögliche Relativbewegung zwischen Wagenkasten und Drehgestell mittels Anschlägen und Gegenanschlägen zu begrenzen.
In der N1d ist auf S 237 ausgeführt, dass eine Abstützung vom Brückenträger am Wagenkasten und Drehgestell mit Federn mit Flexicoilwirkung eine ähnliche Wirkung aufweist, wie die bewährte Wiege, ohne deren unerwünschtes Gewicht. Der Fachmann wird diese, dem Fachwissen zuzurechnende Lehre aber nicht aufgreifen und auf das Drehgestell S-350 LRV für den Prototypen der Firma Socimi nach der N5 bzw N5a übertragen, da er befürchten muss, dass mit derartigen Sekundärfedern zwischen Wagenkasten und Drehgestell - bei nur einem Drehgestell pro Wagenkasten - das Fahrzeug einen großen Hüllraum bei Kurvenfahrten benötigt und nicht in allen Fahrsituationen ein stabiles Fahrverhalten möglich ist. Er wird daher, wenn er das Drehgestell der Firma Socimi verändern will, auf die als risikolos bekannte Starrachse nach der N3g oder N3h zurückgreifen, von der das Streitpatent ausgeht.
Für den Fachmann besteht aber auch kein Anlass zur Verbesserung des Drehgestells des Fahrzeugs nach der N5 auf das Drehgestell des Fahrzeugs nach der N4 zurückzugreifen. Denn das Drehgestell nach der N4 ist laut Beschreibungseinleitung für ein Fahrzeug gemäß der DE-AS 10 10 094 vorgesehen, bei dem keine schwebenden Wagenkasten vorhanden sind. Dort sind vielmehr zwei Wagenkasten mit ihren jeweiligen Enden auf einem gemeinsamen Drehgestell gelagert (vgl DE-AS 1 010 092, Abb 7-9). Es werden keine Hinweise auf eine Eignung des Drehgestells für Fahrzeuge mit anderen Wagenkasten gegeben, insbesondere nicht von Fahrzeugen mit schwebenden Wagenkasten zwischen zwei abgestützten Wagenkasten.
Das Niederflur-Schienenfahrzeug GT6N der Bremer Straßenbahn AG ist in den Druckschriften N3a, N3c und N3f abgehandelt. Der N3a ist zu entnehmen, dass das Fahrzeug mehrere gegeneinander schwenkbare Wagenkasten aufweist, die auf je einem Drehgestell mittig gelagert sind (vgl Bild 5). Zwei Wagenkasten sind dabei durch jeweils ein Gelenk miteinander gekoppelt (Beschreibung S 51, 3. Abs, S 278, 279 Gliederungspunkt 2, Fig 5). Die Anlenkung des Drehgestells am Wagenkasten erfolgt mit Längslenkern, die eine "längsstarre" Koppeleinrichtung bilden (S 52, letzter Abs). Zwischen Wagenkasten und Drehgestell sind Sekundärfedern angeordnet, die laut Seite 51, 2. Absatz, nicht nur den Wagenkasten tragen, sondern ihn auch zusätzlich bei Auslenkung in Gleisbögen oder bei Lateralbewegungen durch die auftretenden Rückstellkräfte selbsttätig in die Neutrallage zurückführen. Damit weisen diese Sekundärfedern die bekannte Flexicoilwirkung auf. Der Fachmann entnimmt mit seinem Fachwissen der Abb 3 in der Druckschrift N3c und dem Bild 5 der Druckschrift N3f auch noch ein weiteres Merkmal des Drehgestells, nämlich dass am Drehgestell, an dessen Längsrahmen, Anschläge vorhanden sind, die in Bild 5 als Drehgestellausschlagbegrenzung bezeichnet werden. Diese Anschläge müssen, wie der Fachmann ohne weiteres schließt, mit Gegenanschlägen am Wagenkasten zusammenarbeiten, die jedoch nicht abgebildet sind.
Somit ergeben sich für den Fachmann aus der Zusammenschau der Druckschriften N3a, N3c und N3f neben den oberbegrifflichen Merkmalen OB1 bis OB3 die Merkmale K1 bis K11' des kennzeichnenden Teils des Patentanspruchs 1 des Streitpatents.
Das Fahrzeug GT6N fand bei seiner Vorstellung wegen seiner innovativen Ausgestaltung bei den interessierten Kreisen ein beträchtliches Interesse, was sich in den vielen Abhandlungen zeigt. Es bestand für den Fachmann daher kein Anlass, dieses Fahrzeug zu verbessern, zumal für ihn keine Nachteile der Konstruktion oder im Fahrverhalten des Fahrzeugs erkennbar waren. Insbesondere ergab sich kein Anlass, bei dem Fahrzeug nunmehr schwebende Wagenkasten vorzusehen, die zwischen zwei abgestützten Wagenkasten angeordnet sind. Denn für eine Verwendung schwebender Wagenkasten in Zusammenhang mit durch ein einziges Drehgestell abgestützten Wagenkasten lagen dem Fachmann keinerlei Erfahrungen vor und er konnte auch nicht mit seinem Fachwissen das Fahrverhalten eines solchen Zuges bestimmen.
Insofern kommt für den Fachmann auch eine Kombination des Fahrzeugs nach der N5 mit den Drehgestellen nach den Druckschriften N3a, N3c und N3e auch nicht in Frage, da er dann vor die selbe Situation gestellt würde, wie zuvor abgehandelt.
Der von den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung nicht mehr aufgegriffene übrige Stand der Technik liegt dem Beanspruchten noch ferner, und ist daher weder für sich noch in einer Zusammenschau geeignet, die Merkmale des Patentanspruchs 1 nahezulegen.
Patentanspruch 1 hat daher Bestand. Die Patentansprüche 2 bis 10 sind als vorteilhafte Ausgestaltungen des Gegenstands nach Anspruch 1 rechtsbeständig.
4. Da dem Antrag der Patentinhaberin stattgegeben wurde, war auf die Hilfsanträge 1 bis 5 nicht einzugehen.
III Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs 2PatG iVm § 91 Abs 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs 1 PatG iVm § 709 ZPO.
Winkler Küstner Schuster Bülskämper Reinhardt Be
BPatG:
Urteil v. 04.05.2005
Az: 4 Ni 31/03
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