Oberlandesgericht Düsseldorf:
Beschluss vom 1. Dezember 2015
Aktenzeichen: VII-Verg 20/15

(OLG Düsseldorf: Beschluss v. 01.12.2015, Az.: VII-Verg 20/15)

Tenor

Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss der 2. Vergabekammer des Bundes vom 16. März 2015 (VK 2-7/15) wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden der Antragsgegnerin auferlegt.

Gründe

I. Die Antragsgegnerin, eine gesetzliche Krankenkasse, schrieb durch Auftragsbekanntmachung vom 14. Januar 2015 (Nr. 2015/S 009-010770) den Abschluss von Rahmenrabattvereinbarungen nach § 130a Abs. 8 SGB V für 46 wirkstoffbezogene Fachlose im offenen Verfahren unionsweit aus. Vorgesehen waren eine Vertragsdauer vom 1. Juli 2015 bis zum 30. Juni 2017 sowie ein Abschluss mit bis zu drei Wirtschaftsteilnehmern.

Los 41 betrifft den Wirkstoff Pregabalin, der zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen, von Epilepsie sowie von Angststörungen eingesetzt wird. Pregabalin wird in Deutschland unter dem Arzneimittelnamen LYRICA® von der Antragstellerin, einem pharmazeutischen Unternehmen, vertrieben. Es war hinsichtlich der Indikationen Epilepsie und Angststörungen als sog. Anwendungspatent geschützt - das Patent ist insoweit inzwischen ausgelaufen - und ist zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen bis Juli 2017 weiterhin geschützt (Europäisches Patent 0 934 061). Patentinhaberin ist die X,,,/USA. X... hat der Antragstellerin zum Zweck des Vertriebs eine einfache Lizenz erteilt und sie zur Prozessführung im Nachprüfungsverfahren gegen die Antragsgegnerin schriftlich ermächtigt. Seit Ende des Jahres 2014 sind für Pregabalin in Deutschland Generika verfügbar. Für die Kalkulation stellte die Antragsgegnerin Daten zu den im Zeitraum vom 1. Juli 2013 bis zum 30. Juni 2014 abgegebenen Einzeldosen bei Pregabalin zur Verfügung.

Mit Anwaltsschreiben vom 20. Januar 2015 ließ die Antragstellerin, die in der Folgezeit ein Angebot einreichte, das Ausschreibungskonzept der Antragsgegnerin rügen. Sie beanstandete unter anderem eine Verletzung ihrer patentgeschützten Wettbewerbsposition bei der Anwendung von Pregabalin gegen neuropathische Schmerzen durch Generika-Anbieter. Die Antragsgegnerin wies die Rügen mit Schreiben vom 28. Januar 2015 zurück. Unter dem 9. Februar 2015 ließ die Antragstellerin einen Nachprüfungsantrag anbringen, von dem die Vergabekammer die Antragsgegnerin am selben Tag unterrichtete.

Im Verfahren vor der Vergabekammer hat die Antragstellerin im Wesentlichen geltend gemacht:

Die Ausschreibung nehme fehlerhaft die patentgeschützte Indikation "neuropathische Schmerzen" von den abzugebenden Gesamtmengen an Pregabalin nicht aus. Dadurch werde von der Antragsgegnerin veranlasst und billigend in Kauf genommen, dass nach § 129 Abs. 1 SGB V auch in dem patentgeschützten Bereich in einem erheblichen Umfang Substitutionen und mithin Patentverletzungen stattfänden, gegen die sie, die Antragstellerin, faktisch schutzlos sei. Das Ausschreibungskonzept verletze ihre patentrechtlich geschützte Stellung, was durch Vorschriften des § 129 SGB V nicht zu rechtfertigen sei. Die Antragsgegnerin sei verpflichtet, die Apothekenverbände und die Kassenärztlichen Vereinigungen über den weiterhin bestehenden Patentschutz zu unterrichten.

Die Antragstellerin hat beantragt,

die Antragsgegnerin anzuweisen, das Vergabeverfahren in Bezug auf das Fachlos 41 (Pregabalin) aufzuheben,

hilfsweise,

das Vergabeverfahren in den Stand vor Versenden der Vergabeunterlagen (oder vor die Vergabebekanntmachung) zurückzuversetzen und der Antragsgegnerin aufzugeben, bei Korrekturen die Rechtsauffassung der Vergabekammer zu beachten.

Die Antragsgegnerin hat beantragt,

den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin ist dem Nachprüfungsantrag entgegengetreten und hat schon die Zulässigkeit in Frage gestellt, weil die geltend gemachte patentrechtliche Position im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren nicht zu überprüfen sei. Davon abgesehen sei sie, die Antragsgegnerin, bei Ausschreibungen weder aus vergabe- noch aus sozialrechtlichen Gründen verpflichtet, einer Verletzung von Patentrecht entgegenzuwirken. Der in § 129 SGB V geregelte Ersetzungsmechanismus gestatte im Gegenteil eine Substitution auch bei patentgeschützten Arzneimitteln.

Die Vergabekammer (2. Vergabekammer des Bundes, Beschluss vom 16. März 2015 - VK 2-7/15) hat der Antragsgegnerin untersagt, hinsichtlich des Loses 41 (Pregabalin) einen Zuschlag zu erteilen. Sie hat der Antragsgegnerin aufgegeben, das Vergabeverfahren in den Stand vor Versenden der Vergabeunterlagen zurückzuversetzen, die Vergabeunterlagen gemäß ihrer Rechtsauffassung zu überarbeiten und den am Auftrag interessierten Unternehmen Gelegenheit zu einer erneuten Angebotsabgabe zu geben. In die Gründe der Entscheidung hat die Vergabekammer auch die Verpflichtung der Antragsgegnerin aufgenommen, in den Vergabeunterlagen festzulegen, dass sie die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Apothekenverbände über einen bestehenden Patentschutz informiert. Im Übrigen wird auf die Gründe der Entscheidung der Vergabekammer verwiesen.

Dagegen hat die Antragsgegnerin sofortige Beschwerde erhoben, mit der sie der Ansicht ist, die Vergabekammer habe den Einfluss des Patentrechts auf das Vergaberecht überdehnt. Die Antragsgegnerin hält an ihren erstinstanzlich vertretenen Rechtsmeinungen fest und vertieft diese durch Erweiterung ihres Vortrags.

Die Antragsgegnerin beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses den Nachprüfungsantrag abzulehnen.

Die Antragstellerin beantragt,

die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.

Die Antragstellerin verteidigt die Entscheidung der Vergabekammer.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze und die Anlagen sowie auf die Verfahrensakten der Vergabekammer und die beigezogenen Vergabeakten Bezug genommen.

II. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist zulässig und begründet.

1. a) Die Antragstellerin ist antragsbefugt (§ 107 Abs. 2 GWB). Sie macht geltend, Generika-Händler oder -hersteller, die für den patentgeschützten Indikationsbereich (zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen) eine Belieferung mit dem Wirkstoff Pregabalin anböten, begingen eine Patentverletzung und setzten sich patentrechtlichen Unterlassungs- und Schadensersatzansprüchen aus, weil sie ein Erzeugnis, das Gegenstand eines Patents ist, verbotenerweise anbieten und in Verkehr bringen (§ 139 Abs. 1, § 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 PatG). Dabei handelt es sich zwar nicht um die Verletzung einer Vergabevorschrift, die im Vergabenachprüfungsverfahren zu überprüfen ist (vgl. § 197 Abs. 2 Satz 1 GWB). Doch sind Bieter, denen das Angebot eines Erzeugnisses patentrechtlich untersagt werden kann, aus rechtlichen Gründen als nicht leistungsfähig anzusehen. Sie sind vom Bieterwettbewerb als ungeeignet auszuschließen (vgl. § 16 Abs. 5, § 6 Abs. 3 Satz 1 VOL/A). Die Patentverletzung ist im Rahmen der Eignungswertung (also vergaberechtlicher Anknüpfungsnormen) im Vergabenachprüfungsverfahren inzident zu überprüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Juni 2012 - X ZB 9/11; OLG Düsseldorf, Beschlüsse vom 21. Februar 2005 - VII- Verg 91/04, S. 12 ff., 17 ff.; vom 9. November 2012 - VII-Verg 35/11; vom 1. August 2012 - VII-Verg 105/11; der Beschluss vom 17. Februar 2014 - VII-Verg 2/14, S. 9 ff., ändert die vorstehende Rechtsprechung nicht ab). Die Antragstellerin beruft sich auf einen Eignungsmangel. Die Antragsgegnerin will davon betroffene Bieter (Generika-Händler oder -hersteller) gleichwohl uneingeschränkt zu der Ausschreibung zulassen und dadurch, so die Antragstellerin, Patentrechtsverstöße rechtswidrig unterstützen. Das Interesse der Antragstellerin am Auftrag und das Drohen eines Schadens sind nicht zu verneinen.

Der auf eine hilfsweise durchgeführte Wirtschaftlichkeitswertung gestützte Vortrag der Antragsgegnerin, das bislang auf dem fünften oder sechsten Rang liegende Angebot der Antragstellerin sei ohne Aussichten auf einen Zuschlag, mit der Folge, dass ihr kein Schaden entstehen könne, ist im Rechtssinn unerheblich. Denn sofern sich der Vortrag der Antragstellerin, die Antragsgegnerin förderte durch die Ausschreibung Patentverletzungen, als richtig erweist, wird sie den Zuschnitt der Ausschreibung zu ändern und neue Angebote, auch der Antragstellerin, zu ermöglichen haben (zweite Chance). Dabei ist nicht auszuschließen, dass die Antragstellerin ein Angebot mit besseren Zuschlagschancen anbringen kann. Ungeachtet dessen ist die hilfsweise angestellte Wirtschaftlichkeitswertung von der Antragsgegnerin in keiner Weise nachvollziehbar dargelegt worden; sie ist darum im Prozess nicht verwertbar. Es sind lediglich Ergebnisse vorgetragen worden.

b) Die Rügeobliegenheit ist von der Antragstellerin beachtet worden. Die am sechsten Tag nach der Auftragsbekanntmachung ausgesprochene anwaltliche Rüge ist unverzüglich (§ 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB) und vor Ablauf der Angebotsfrist (24. Februar 2015) angebracht worden (§ 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GWB).

2. Der Nachprüfungsantrag ist begründet.

a) Die Antragstellerin ist im Prozess aktivlegitimiert, Patentverletzungen geltend zu machen. Sie ist zwar lediglich Inhaberin einer sog. einfachen Lizenz und als solche nur berechtigt, den Wirkstoff Pregabalin unter dem Arzneimittel-Namen LYRICA® zu vertreiben, ohne aber Ansprüche gegen Dritte selbständig verfolgen zu können. Jedoch ist sie, rechtlich im Sinn einer Prozessstandschaft, vom Inhaber des Patents durch zu den Gerichtsakten gereichte schriftliche Erklärung vom 29. Juni 2015 zur Geltendmachung von patentrechtlichen Ansprüchen im vorliegenden Nachprüfungsverfahren zulässigerweise ermächtigt worden (vgl. dazu auch Benkard/Ullmann/Deichfuß, Patentgesetz, 11. Aufl., § 15 PatG Rn. 100, 102 m.w.N.). Das zur Wirksamkeit der Ermächtigung erforderliche rechtliche Interesse der Antragstellerin geht daraus hervor, dass sie zur Benutzung des patentgeschützten Erzeugnisses berechtigt ist.

b) Bei dem in Kraft stehenden Patent EP 0 934 061 handelt es sich um ein sog. Anwendungs- oder Verwendungspatent. Gegenstand des Verwendungspatents ist die Benutzung des in ihm bezeichneten Gegenstands zu dem dort genannten Zweck (vgl. Benkard/Bacher, § 1 PatG Rn. 38, 75 m.w.N.). Im Streitfall betrifft dies die Benutzung des Wirkstoffs Pregabalin zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen.

Beim Zuschnitt der Ausschreibung der Antragsgegnerin ist das Patent in dem Anwendungsbereich, für den es noch besteht (zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen), indes davon bedroht, verbotswidrig im Sinn des § 9 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 PatG benutzt zu werden (§ 139 Abs. 1 PatG). Das Patent darf zum Zweck einer Anwendung des Wirkstoffs Pregabalin im geschützten Bereich von Dritten nicht hergestellt, angeboten, in Verkehr gebracht, gebraucht und zu dem genannten Zweck nicht eingeführt oder besessen werden. Es darf nur patentfreien Zwecken, nämlich einer Behandlung von epileptischen Anfällen sowie von Angststörungen zugeführt werden.

Nach dem gegenwärtigen Zuschnitt der Ausschreibung in Verbindung mit den Vorschriften des SGB V ist eine derartige Beschränkung des Einsatzbereichs von Pregabalin nicht sicherzustellen. Es beginnt damit, dass der Zweck der Verschreibung in der ärztlichen Verordnung ungenannt bleibt und Apotheker aufgrund der Verordnung folglich nicht erkennen können, ob der patentgeschützte Bereich tangiert ist. Auch wenn die Behandlungszwecke Epilepsie und Angststörungen patentfrei sind, wird immer wieder vorkommen, dass Pregabalin auch zur Behandlung von neuropathischen Schmerzzuständen verschrieben wird, ohne dass dies aus der Verordnung erkennbar ist. Die Annahme, Ärzte und/oder Apotheker verhielten sich bei Verordnungen und Abgaben stets oder auch nur überwiegend rechtskonform und vermieden Patentverletzungen, ist in der Praxis, die überwiegend ein Massengeschäft ist, unrealistisch.

Aufgrund dessen sind Pregabalin und LYRICA® im patentgeschützten Anwendungsbereich in der Gefahr, aus Unwissenheit oder aus anderen Gründen durch Generika substituiert zu werden, sofern Ärzte eine Ersetzung (aut idem) in der Verordnung nicht ausgeschlossen haben (vgl. § 129 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Sätze 2 und 3 SGB V). Zumindest Generika-Anbieter, die diese Zusammenhänge kennen, aber auch Apotheker sowie möglicherweise ebenfalls Ärzte und die gesetzliche Krankenkasse setzen sich bei einer derartigen patentrechtlichen Zuwiderhandlung Unterlassungsansprüchen des Patentinhabers oder der von ihm durch Erteilen einer ausschließlichen Lizenz oder sonst ermächtigten Personen und Unternehmen aus. Der Hinweis der Antragsgegnerin auf die Rechtsprechung zur Austauschbarkeit von Erzeugnissen (vgl. dazu u.a. Senatsbeschluss vom 30. Januar 2012 - VII-Verg 103/11) geht an der im Streitfall anzutreffenden Problemstellung insoweit vorbei. Ebenso wenig hat der Fall mit der Bestimmungsfreiheit des Auftraggebers beim Leistungsgegenstand zu tun.

Deswegen sind bei Generika-Anbietern im Fall von Ausschreibungen der vorliegenden Art aufgrund gesicherter Erkenntnisse aus rechtlichen Gründen Zweifel an der (technischen) Leistungsfähigkeit angebracht, denen der Auftraggeber nur dadurch entsprechen kann, indem er solche Bieter vom Vergabeverfahren ausschließt. Darüber setzt sich die Antragsgegnerin hinweg. Der Zuschnitt der Ausschreibung lässt Patentverletzungen durch ungeeignete Bieter (und möglicherweise durch weitere Beteiligte) zu. Er nimmt diese sowie eine "wilde" Substitution unter dem rechtlichen Deckmantel des SGB V in Kauf und wirkt daran mit, was rechtlich zu missbilligen ist.

Das SGB V, insbesondere dessen § 129 Abs. 1, steht entgegen der Ansicht der Beschwerde nicht über dem Patentrecht, sondern hat dieses zu respektieren, zumal dem Patentrecht als geistigem Eigentum nach Art. 14 Abs. 1 GG ein grundrechtlicher Schutz zuzuerkennen ist. Aufgrund dessen ist § 129 Abs. 1 SGB V im Licht des Art. 14 Abs. 1 GG auszulegen und ist das Patentrecht darin zu integrieren, ohne dass, wie die Beschwerde meint, davon zu sprechen ist, dadurch werde, keineswegs auch in der Absicht des Senats liegend, eine Anwendung des § 129 Abs. 1 SGB V verworfen - was nach Art. 100 Abs. 1 GG allerdings eine Vorlage der Sache an das Bundesverfassungsgericht erforderte.

c) Im Hinblick auf das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass zur Umgehung der im vorliegenden Prozess entschiedenen Problematik sowie im Sinn eines sichersten Wegs bei der Ausschreibung einzelne Fachlose in Bezug auf den patentgeschützten Anwendungsbereich von Pregabalin sowie für die beiden nicht mehr geschützten Anwendungsbereiche gebildet werden können. Dies setzt grundsätzlich allerdings eine Berichtigung der Vergabebekanntmachung oder eine Neubekanntmachung voraus.

Mit der gegenwärtigen Ausschreibung hat die Antragsgegnerin Bieterunternehmen die im Zeitraum vom 1. Juli 2013 bis zum 20. Juni 2014 insgesamt abgegebenen Einzeldosen von Pregabalin-Präparaten bekannt gegeben. Im Fall einer weiteren Losaufteilung, wie vorstehend angesprochen, werden freilich die auf den patentgeschützten Indikationsbereich einerseits sowie die auf die Bereiche Epilepsie und Angststörungen andererseits entfallenden Abgabemengen auszuweisen sein. Dass es, wie die Antragsgegnerin geltend macht, unmöglich oder unzumutbar sei, insoweit an valides und repräsentatives Zahlenmaterial zu gelangen, ist nicht anzunehmen. Die Antragstellerin hat aufgezeigt, dass indikationsbezogene Daten, sofern die Krankenkasse diese nicht selbst schon gesammelt und abgespeichert hat, sowohl über private Diensteanbieter (wie J...) als auch über die amtliche Diagnoseklassifikation ICD-10-GM beschafft werden können. Sollten die beigezogenen Daten Zweifel hinsichtlich ihrer Repräsentativität erwecken, kann dem durch ein Verbreitern der Datengrundlage, durch eine Mittelwertbildung sowie im Übrigen auch durch maßvolle Schätzungen begegnet werden.

d) Die in den Gründen der Entscheidung der Vergabekammer getroffene Anordnung, wonach die Antragsgegnerin nach einem Zuschlag die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Apothekerverbände über den Patentschutz zu informieren habe (VKB 16), hebt der Senat auf.

Insoweit hat die Vergabekammer eine Anordnung getroffen, die nicht das Vergabeverfahren betrifft, sondern die sich auf den Zeitraum nach Erteilen des Zuschlags bezieht und die ein Verhalten der Antragsgegnerin gegenüber am Vergabeverfahren Unbeteiligten regelt. Dies ist durch § 104 Abs. 2 GWB nicht gedeckt.

3. Die nicht nachgelassenen Schriftsätze der Antragsgegnerin vom 18. August 2015 sowie vom 16. Oktober 2015 geben zu einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung keinen Anlass (§ 156 Abs. 1, Abs. 2 ZPO, § 73 Nr. 2 GWB, § 120 Abs. 2 GWB).

a) Der Vortrag im Schriftsatz vom 18. August 2015, mittlerweile (seit wann genau€) sei auch für Apotheker aus Teilen der Apothekensoftware (welchen€) erkennbar, dass der Wirkstoff Pregabalin für die Indikation neuropathische Schmerzen einem Patentschutz unterliege, ist ungeachtet seiner Verspätung für die Entscheidung unerheblich.

Das Vorbringen der Antragsgegnerin ist hinsichtlich Zeit und näherer Umstände völlig unsubstantiiert und ist bereits deswegen für die Entscheidung nicht verwertbar. Darüber hinaus geht der Vortrag an dem Umstand vorbei, dass die Ausschreibung der Antragsgegnerin zu beanstanden ist, weil sie Patentverletzungen begünstigt und einen Mangel der Eignung bei einer bestimmten Gruppe von Bietern ignoriert. Solche Rechtsverstöße zu beheben, liegt in der alleinigen Verantwortung der Antragsgegnerin. Sie ist nicht dazu berechtigt, anstelle dessen auf eine Heilung von Fehlern zu verweisen, die sich gewissermaßen zufällig daraus ergibt, dass die Apotheker bei dem Massengeschäft der Arzneimittelabgabe überobligationsmäßig gründlich vorgehen und einen etwaigen Patentschutz von sich aus erforschen. Abgesehen davon ist vorstehend auch bereits ausgeführt worden, dass auf ein patentrechtskonformes Abgabeverhalten der Apotheker nicht vertraut werden kann.

b) Mit Schriftsatz vom 16. Oktober 2015 trägt die Antragsgegnerin das Urteil des High Court of Justice, London, vom 10. September 2015 vor ([2015] EWHC 2548 (Pat)), wonach bestimmte Rechtsansprüche des angelsächsischen Teils des Europäischen Patents 0 934 061, das auch im vorliegenden Fall den Ausgangspunkt der Streitigkeit bildet, nicht rechtsbeständig seien. Der Vortrag trägt jedoch nicht die Feststellung, dass die im UK gegebene Rechtslage auf den maßgebenden deutschen Teil des Patents zu übertragen ist. Der Wortlaut der deutschen Patentansprüche ist nicht vorgetragen worden, ebenso wenig ein Grund, der an ihrem Bestand zweifeln lässt. Auch die zentralen rechtlichen Erwägungen des im Übrigen nicht rechtskräftigen Londoner Urteils und die Gründe für einen mangelnden Rechtsbestand der englischen Patentansprüche sind nicht herausgearbeitet worden. Ein Vergleich mit der deutschen Rechtslage ist nicht angestellt worden.

Darüber hinaus hat der Vortrag des Schriftsatzes vom 16. Oktober 2015, selbst wenn er erheblich wäre, bei der Entscheidungsfindung außer Betracht zu bleiben. Das folgt aus § 156 ZPO sowie aus § 113 Abs. 2 Satz 1, § 120 Abs. 2 GWB.

Nach § 113 Abs. 2 Satz 1 GWB haben die Verfahrensbeteiligten an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, wie es einem auf Förderung und raschen Abschluss des Verfahrens bedachten Vorgehen entspricht. Die Regelung dient der Verfahrensbeschleunigung und soll gewährleisten, dass das Vergabenachprüfungsverfahren in möglichst kurzer Frist abgeschlossen werden kann. Sie normiert zu diesem Zweck die Pflicht aller Verfahrensbeteiligten, von sich aus - und nicht erst auf Aufforderung der Vergabekammer oder des Beschwerdegerichts - sämtliche Angriffs- und Verteidigungsmittel so rasch wie möglich im Prozess vorzubringen. Kommt ein Beteiligter dieser Förderungspflicht nicht nach, hat er die daraus folgenden Verfahrensnachteile zu tragen. Diese bestehen zwar nicht ohne Weiteres in der Präklusion des betreffenden Angriffs- oder Verteidigungsmittels. Denn das Gesetz sieht in § 113 Abs. 2 Satz 2 GWB; die Möglichkeit, Sachvortrag unberücksichtigt zu lassen, nur für den Fall vor, dass die Vergabekammer dem Beteiligten für einen Vortrag eine angemessene Frist gesetzt hat und diese fruchtlos verstrichen ist. Aus dieser Normlage ist indes nicht abzuleiten, dass eine Verletzung der allgemeinen Verfahrensförderungspflicht des § 113 Abs. 2 Satz 1 GWB folgenlos bleibt.

So muss ein Vorbringen bei der Entscheidung unberücksichtigt bleiben, wenn ein Beteiligter es unter Missachtung der Verfahrensförderungspflicht derart spät anbringt, dass den gegnerischen Verfahrensbeteiligten bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung, auf den die Entscheidung ergeht (vgl. § 112 Abs. 1 Satz 1 GWB, §§ 120 Abs. 2, 69 Abs. 1 GWB), eine Erwiderung unter zumutbaren Bedingungen nicht mehr möglich ist (vgl. ausführlich: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19. November 2003 - Verg 22/03, VergabeR 2004, 248, 250 f.).

Im Streitfall hat die Antragsgegnerin überhaupt erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung vorgetragen. Der Vortrag ist deshalb grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Dies ist nur anders, sofern das Gericht die Wiedereröffnung der Verhandlung anordnet (§ 156 Abs. 1 ZPO). Dies steht in seinem Ermessen. Der Senat macht von dem ihm zustehenden Ermessen in der Weise Gebrauch, dass die Verhandlung nicht wiedereröffnet wird, wofür die folgenden Gründe maßgebend sind:

Die Antragsgegnerin hat erheblich gegen die ihr obliegende Prozessförderungspflicht verstoßen. Ihrem Vorbringen zufolge weiß sie, dass gegen das Patent zugleich eine Nichtigkeitsklage vor dem Bundespatentgericht anhängig ist, und zwar nicht erst seit dem Monat September 2015, in dem das Urteil des Londoner High Court ergangen ist. Bereits im Schriftsatz vom 25. Juni 2015 (S. 4) hat die Antragsgegnerin davon berichten lassen, das Patent werde von dritter Seite angegriffen. Bei dieser Sachlage hätte einem auf Förderung und raschen Abschluss des Verfahrens bedachten Vorgehen entsprochen, nicht nur die Tatsache des Nichtigkeitsverfahrens, sondern auch die geltend gemachten Gründe rechtzeitig vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung am 1. Juli 2015 in das Nachprüfungsverfahren einzuführen. Aus welchen Gründen dies nicht möglich gewesen sein sollte, trägt die Antragsgegnerin nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 78, § 120 Abs. 2 GWB.






OLG Düsseldorf:
Beschluss v. 01.12.2015
Az: VII-Verg 20/15


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