Hessischer Verwaltungsgerichtshof:
Beschluss vom 24. September 1985
Aktenzeichen: 10 TI 1269/85

(Hessischer VGH: Beschluss v. 24.09.1985, Az.: 10 TI 1269/85)

Gründe

I.

Die Kläger sind türkische Staatsangehörige syrisch-orthodoxen Glaubens. Die Klägerin zu 1) ist die Mutter der minderjährigen Kläger zu 2) und 3). Mit ihrer am 28. April 1983 erhobenen Klage begehrten die Kläger ihre Anerkennung als Asylberechtigte sowie die Aufhebung eines gegen die Klägerin zu 1) gerichteten Bescheids der Stadt Gießen.

Durch Beschluß vom 23. Mai 1984 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. In der mündlichen Verhandlung am 11. September 1984 hörte das Verwaltungsgericht die Klägerin zu 1) formlos an. Weiterhin wurden u. a. die Akten des Bundesamts und der Ausländerbehörde, die die Asylklage des Ehemanns der Klägerin zu 1) betreffende Verfahrensakte - IX/2 E 9550/80 - sowie eine Reihe von Auskünften und Gutachten zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Mit Urteil vom 11. September 1984 gab dann das Verwaltungsgericht den Klagen der Kläger statt.

Unter dem 5. November 1984 reichte der Bevollmächtigte der Kläger ein Kostenfestsetzungsgesuch ein und berechnete dabei u, a. eine Beweisgebühr in Höhe von DM 615,--.

Mit Kostenfestsetzungsbeschluß vom 15. März 1985 setzte der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle die Kosten antragsgemäß fest.

Hiergegen beantragte die Beklagte zu 1) am 4. April 1985 die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, soweit eine Beweisgebühr festgesetzt wurde.

Dem traten die Kläger unter Hinweis darauf entgegen, daß eine Beweisaufnahme stattgefunden habe. Eine solche sei zunächst in der Anhörung der Klägerin zu 1) zu sehen, die zu Beweiszwecken erfolgt sei. Ferner stelle die Beiziehung von Dokumentationsmaterialien durch das Gericht eine Beweisaufnahme dar. Schließlich sei eine Beweisaufnahme in der Inaugenscheinnahme des Nüfus zur Feststellung der Religionszugehörigkeit der Klägerin zu 1) zu sehen.

Das Verwaltungsgericht wies mit Beschluß vom 11. Juni 1985, der durch den Einzelrichter erging, den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle an, den Kostenfestsetzungsbeschluß vom 15. März 1985 dahingehend zu ändern, daß bezüglich der von der Beklagten zu 1) zu zahlenden Kosten bei der Kostenberechnung keine Beweisgebühr zugrunde gelegt werde. Zunächst sei durch die Einführung von Dokumentationsmaterialien keine Beweisgebühr entstanden. Hierbei habe es sich um solche Unterlagen gehandelt, welche Tatsachen beträfen, die dem Verwaltungsgericht offenkundig gewesen seien und somit gemäß §§ 173 VwGO, 291 ZPO keines Beweises bedürften. Auch in der Verwertung des Akteninhalts aus dem Verfahren - IX/2 E 9550/0 - sowie der beigezogenen Behördenakten sei keine Beweisgebühr entstanden. Nichts anderes gelte für die Verwertung des Inhalts der Fotokopie des Nüfus in den Behördenakten.

Gegen diesen ihm am 21. Juni 1985 zugestellten Beschluß wandte sich Rechtsanwalt D. mit Schriftsatz vom 24. Juni 1985 - eingegangen am 26. Juni 1985 -, in dem er ausführt, er lege gegen den Beschluß vom 11. Juni 1985 Beschwerde ein. Entgegen der vom Verwaltungsgericht vertretenen Auffassung habe eine Beweisaufnahme stattgefunden mit der Folge, daß die Beweisgebühr zu Recht festgesetzt worden sei. Die Beiziehung von Dokumentationsmaterialien in einem anhängigen Rechtsstreit habe stets den Charakter einer Beweisaufnahme, da das Gericht unter Verwendung dieser Materialien entscheiden müsse, ob den Behauptungen der Kläger oder der Beklagten gefolgt werden könne. Für die Prozeßbevollmächtigten der Kläger habe dies zur Folge, daß sie von den Dokumentationsmaterialien Kenntnis nehmen müßten, um in Wahrung der Interessen der Kläger Stellung nehmen zu können und ggf. ihrerseits heitere Beweismittel zu benennen. Auch die Anhörung der Kläger in der mündlichen Verhandlung stelle materiell eine Beweisaufnahme dar, da sie vornehmlich der Glaubhaftmachung der von diesen vorgetragenen konkreten Verfolgungsumständen gedient habe. Außerdem habe eine Beweisaufnahme in der Inaugenscheinnahme des Nüfus der Klägerin zu 1) und der Beiziehung der Verfahrensakten ihres Ehemanns gelegen.

Die Beklagte zu 1) tritt der Beschwerde unter Bezugnahme auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses entgegen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wund auf den Inhalt der Gerichtsakten Bezug genommen.

II.

1. Die Beschwerde ist zulässig.

Die Kläger sind als Beschwerdeführer anzusehen. Zwar hat der Bevollmächtigte der Kläger die Formulierung verwandt, er lege Beschwerde gegen den Beschluß des Verwaltungsgerichts ein. Allein hieraus kann jedoch nicht entnommen werden, daß die Beschwerde nicht im Namen der Kläger eingelegt werden sollte. Es entspricht einer verbreiteten Übung, daß Bevollmächtigte nicht zusätzlich kenntlich machen, daß sie namens ihres Mandanten einen Rechtsbehelf einlegen. Im übrigen enthält das Kostenfestsetzungsgesuch vom 5. November 1984 keinen Hinweis darauf, daß es nicht namens der Kläger gestellt werden sollte. Im Zweifel ist in derartigen Fällen davon auszugehen, daß eine vom Prozeßbevollmächtigten eingelegte Erinnerung bzw. Beschwerde als im Namen der Partei eingelegt zu betrachten ist (vgl Bayer. VGH, Bay. VBL. 1977, 611). Dies muß um so mehr gelten, als nach zutreffender herrschender Auffassung der Prozeßbevollmächtigte nicht als erinnerungs- bzw. beschwerdebefugt angesehen werden kann, da er nicht, wie in § 165 VwGO vorausgesetzt, "Beteiligter" und mangels einer Verweisung in § 151 Satz 3 VwGO auf § 146 Abs. 1 VwGO auch nicht "sonst von der Entscheidung Betroffener" im Sinne der zuletzt genannten Vorschrift ist (OVG Nordrhein-Westfalen NJW 1966, 2425 und KostRspr. VwGO § 165 Nr. 7; Bayer. VGH, a.a.O., m.w.N.).

2. Die Beschwerde ist auch begründet.

Über die Erinnerung des Beklagten zu 1) gegen den Kostenfestsetzungsbeschluß des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle hat zu Recht der Einzelrichter entschieden, auf den der Rechtsstreit gemäß § 31 Abs. 1 AsylVfG übertragen worden war. "Rechtsstreit" in diesem Sinne ist nicht nur das Klageverfahren als solches. Die Übertragung auf den Einzelrichter umfaßt vielmehr das gesamte weitere Verfahren einschließlich aller in dessen Verlauf notwendig werdenden Entscheidungen (z. B. über Prozeßkostenhilfe, Streitwert; so auch Hillmann in Baumüller/Brunn/Fritz/ Hillmann, AsylVfG § 31 Rdnr. 5). Ohne Bedeutung ist dabei, daß die Endentscheidung bereits ergangen ist. Auch für danach zu treffende Entscheidungen - etwa wie im vorliegenden Fall über die Kosten - ist der Einzelrichter zuständig. Dieser wird durch die Übertragung gesetzlicher Richter dieser Ver fahren im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, die Kammer verliert ihre Zuständigkeit. Ausgenommen von der Übertragung auf den Einzelrichter sind nach § 31 Abs. 5 AsylVfG lediglich Verfahren nach §§ 80 Abs. 5, 123 VwGO. Diese Sonderregelung war erforderlich angesichts der besonderen Bedeutung, die Eilverfahren nach dem Asylverfahrensgesetz vielfach haben. Weitere Ausnahmen von dem Grundsatz, daß der Rechtsstreit insgesamt auf den Einzelrichter übertragen wird, sieht das Gesetz nicht vor. Im übrigen würde es dem Zweck des § 31 AsylVfG, das Asylverfahren zu beschleunigen und die Verwaltungsgerichte zu entlasten, zuwiderlaufen, müßte die Kammer jeweils Neben- und Folgeentscheidungen treffen. Für die Richtigkeit. dieses Ergebnisses spricht auch, daß Rechtsprechung und Literatur für Übertragungen auf den Einzelrichter nach § 348 ZPO - an diese Vorschrift lehnt sich § 31 AsylVfG weitgehend an - ganz überwiegend die gleiche Auffassung vertreten (vgl. Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 42. Aufl. § 148, 1) I A; Thomas/Putzo, ZPO, 13. Aufl. § 348, 3 a; OLG Koblenz, MDR 1978, 851).

Das Verwaltungsgericht hat der Erinnerung der Beklagten zu 1) gegen den Kostenfestsetzungsbeschluß des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu Unrecht stattgegeben, da den Prozeßbevollmächtigten der Kläger eine Beweisgebühr zusteht.

Nach §§ 114 Abs. 1, 31 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO erhält der Rechtsanwalt eine volle Gebühr für die Vertretung im Beweisaufnahmeverfahren. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Eine Beweisgebühr ist dadurch entstanden, daß das Verwaltungsgericht die Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung vom 11. September 1984 angehört hat. Das Verwaltungsgericht hat diese Frage in seinem Beschluß vom 11. Juni 1985 nicht behandelt.

Ohne Bedeutung ist, daß ein förmlicher Beweisbeschluß nicht ergangen ist. Für eine Beweisaufnahme im gebührenrechtlichen Sinne genügt es, daß die Absicht des Gerichts, eine Beweisaufnahme vorzunehmen, objektiv erkennbar ist (vgl. Hartmann, Kostengesetze, § 31 BRAGO Anm. 7 B f).

Die formlose Anhörung eines Beteiligten im verwaltungsgerichtlichen Verfahren stellt nicht notwendig eine Beweisaufnahme dar. Dient sie lediglich der Information des Gerichts und der Sammlung des Prozeßstoffs, so wird keine Beweisgebühr begründet. Eine Beweisaufnahme im Sinne des § 31 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO setzt voraus, daß das Gericht mit der Anhörung die Klärung einer objektiv beweisbaren Tatsache bezweckt hat und das Ergebnis der Anhörung wie das einer förmlichen Beweisaufnahme verwertet worden ist. Liegen diese Voraussetzungen vor, so ist die formlose Anhörung eines Beteiligten gebührenrechtlich einer Beteiligtenvernehmung im Sinne des § 96 Abs. 1 Satz 2 VwGO gleichzusetzen (so auch OLG Nordrhein-Westfalen, Beschluß vom 8. Juli 1985 - 19 B 20911/84 -; Geroldt/Schmidt, BRAGO; 8. Aufl.§ 31 Rdnr. 104; Hartmann, a.a.O., im Ergebnis auch Riedel/Sußbauer,BRAGO, 5, Aufl., § 31 Rdnr. 5).

Entscheidend für die Abgrenzung im Einzelfall ist der objektiv erkennbare Wille des die Anhörung durchführenden Gerichts. Maßgebliches Kriterium ist insbesondere der Zweck einer Beweisaufnahme, Zweifel hinsichtlich der Gewißheit eines entscheidungserheblichen tatsächlichen Umstands auszuräumen.

Im vorliegenden Fall stellt die Anhörung der Klägerin zu 1) durch das Verwaltungsgericht eine Beweisaufnahme im gebührenrechtlichen Sinne dar. Aus den der Klägerin zu 1) vom Verwaltungsgericht gestellten Fragen zur Beherrschung der aramäischer Sprache und zu ihrem persönlichen Schicksal in der Türkei folgt, daß das Gericht die Voraussetzungen einer politischen Verfolgung noch nicht als glaubhaft gemacht ansah. Dementsprechend hat das Verwaltungsgericht das Ergebnis der Anhörung der Klägerin zu 1) im Urteil vom 11. Juni 1985 verwertet und u. a. ihre syrisch-orthodoxe Religionszugehörigkeit sowie ihre Angaben über gegen sie als Christin gerichtete Verfolgungsmaßnahmen moslemischer Türken als glaubhaft angesehen. Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht das Ergebnis der Anhörung: der Klägerin zu 1), auch bei der Entscheidung über die Klagen der Kläger zu 2) und 3), deren gesetzliche Vertreterin die Klägerin zu 1) ist, als Beweis verwertet, da die Zugehörigkeit der Kläger zu 2) und 3) zum syrisch-orthodoxen Glauben u. a. aufgrund der Angaben der Klägerin zu 1) als glaubhaft angesehen und ihr Schicksal im Rahmen der für den Fall der Rückkehr in die Türkei getroffenen Prognoseentscheidung auch hinsichtlich ihrer Kinder berücksichtigt wurde.

Darüber hinaus ist die Beweisgebühr entgegen der vom Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluß vertretenen Auffassung auch aufgrund der Verwertung der die Asylklage des Ehemanns der Klägerin zu 1) betreffenden Verfahrensakte entstanden.

Nach § 34 Abs. 2 BRAGO erhält der Rechtsanwalt eine Beweisgebühr, wenn Akten oder Urkunden durch Beweisbeschluß oder sonst erkennbar zum Beweis beigezogen oder verwertet werden. Es genügt nicht, wenn sich das Gericht lediglich über den Inhalt der beigezogenen Akten informieren will oder wenn Akten zur Ergänzung und Erläuterung des Parteivorbringens beigezogen werden (vgl. Geroldt/Schmidt a.a.0. § 34 Rdnr. 9). Vielmehr muß die Beiziehung bzw. Verwertung der Akten zu Beweiszwecken erfolgt sein. Die Abgrenzung folgt dabei den gleichen Grundsätzen wie im Fall der Anhörung eines Beteiligten.

Es kann offen bleiben, ob bereits die auf Ersuchen der Kläger erfolgte Beiziehung der fraglichen Akte eine Beweisaufnahme darstellt. Die Kläger hatten ihr Ersuchen damit begründet, daß in dieser Akte die Verfolgungssituation der Familie ausführlich unter Beweisantritt dargelegt werde. Jedenfalls ist die Akte im Urteil 11. September 1984 als Beweis verwertet werden. Das Verwaltungsgericht hat nämlich in diesem Urteil längere Passagen aus dem in der beigezogenen Akte befindlichen Urteil der Kammer vom 15. November 1983 betreffend der Asylklage des Ehemanns der Klägerin zu 1) zitiert und die darin enthaltenen tatsächlichen Feststellungen übernommen. Diese werden sowohl im Rahmen der Ausführungen zur Frage der Vorverfolgung wie bei der Prognoseentscheidung tragend berücksichtigt.

Da den Bevollmächtigten der Kläger nach allem eine Beweisgebühr zusteht, kann offen bleiben, ob diese auch aus den weiteren von den Klägern behaupteten Gesichtspunkten gerechtfertigt wäre.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gebührenfreiheit des Erinnerungsverfahrens aus § 128 Abs. 5 Satz 1 BRAGO.

Dieser Beschluß ist unanfechtbar.






Hessischer VGH:
Beschluss v. 24.09.1985
Az: 10 TI 1269/85


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