Sozialgericht München:
Urteil vom 30. September 2011
Aktenzeichen: S 12 R 370/11

(SG München: Urteil v. 30.09.2011, Az.: S 12 R 370/11)

Tenor

I. Der Bescheid vom 20.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.01.2011 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von der Versicherungspflicht für seine Tätigkeit bei der A. ab dem 07.06.2010 gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI zu befreien.

II. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten

Tatbestand

Streitig ist die Befreiung eines Syndikusanwalts von der gesetzlichen Rentenversicherung.

Der 1966 geborene Kläger ist bei der Rechtsanwaltskammer M. zugelassener Rechtsanwalt und Mitglied der Versorgungskammer für Rechtsanwälte. Er wurde mit Bescheid vom 10.03.1997 für seine Tätigkeiten als Underwriter bei der M. von der Rentenversicherungspflicht befreit.

Der Kläger wechselte zum 07.06.2010 seinen Arbeitsplatz und stellte am 17.06.2010 einen Antrag auf Erstreckung der Befreiung bei der Beklagten. Durch einen Headhunter wurde er abgeworben, um bei der A. als weltweiter Leiter der Abteilung für Berufshaftpflichtversicherungen tätig zu sein. Mit Schreiben vom 21.07.2010 bestätigte der Arbeitsgeber, dass der Kläger rechtsberatend, rechtsentscheidend, rechtsgestaltend und rechtsvermittelnd tätig sei. Der Kläger ist laut Arbeitsvertrag vom 29.03.2010 berechtigt, die Gesellschaft im Außenverhältnis zusammen mit einem Vorstandsmitglied oder einem anderen Vertretungsberechtigten zu vertreten.

Mit Bescheid vom 20.08.2010 wurde die Erstreckung der Befreiung abgelehnt. Die Tätigkeit des Klägers setze nicht zwingend die Eigenschaft als Volljurist voraus. Das Kriterium der Rechtsentscheidung liege nicht vor. Der Kläger erhob am 07.09.2010 Widerspruch. Dieser wurde mit Bescheid vom 25.01.2011 abgelehnt. Im Wesentlichen wurde zur Begründung wiederum vorgetragen, dass die Tätigkeit keine Volljuristenausbildung voraussetze.

Am 06.02.2011 erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht München. Die Klage wird schwerpunktmäßig damit begründet, dass die vier Merkmale der rechtlichen Beratung, Entscheidung, Gestaltung und Vermittlung vorlägen, weitere Aspekte dürften nicht gefordert werden. Die Beklagte weist darauf hin, dass die Kriterien der Rechtsentscheidung und Rechtsgestaltung in der Stellen- und Funktionsbeschreibung nicht konkret hinterlegt wurden.

In der mündlichen Verhandlung am 30.09.2011 erläuterte die Kläger seinen Aufgabenbereich im Unternehmen: Er sei in seinem Unternehmen im Bereich der Berufshaftpflichtversicherungen weltweit tätig. Dabei sei er nicht für Verhandlung und Abschluss deutscher Verträge zuständig, sondern müsse auch dem Abschluss von Verträgen, die in anderen Ländern geschlossen werden, gestatten. Der Abschluss von Versicherungspolicen ab einer bestimmten Haftungssumme müssten durch ihn überprüft werden, seine €direct reports€ in den verschiedenen Ländern seien verpflichtet, seine Zustimmung einzuholen. Bei der Prüfung weltweit geltender Verträge seien verschiedene Rechtsordnungen zu prüfen. Aufgrund der Komplexität und Internationalität der Verträge könnten keine Muster verwandt werden. Die Verträge mit einer durchschnittlichen Haftungssumme von 10 bis 20 Millionen Euro werden von ihm und einen weiteren Vertretungsberechtigten unterschrieben.

Die Beklagtenvertreterin verwies auf die Schriftsätze und ihre Vorgaben, wonach die Abgabe eines Anerkenntnisses nicht möglich sei.

Der Kläger beantragt:

€Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 20.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.01.2011 verurteilt, dem Kläger die Befreiung von der Versicherungspflicht ab 07.06.20 10 für seine Tätigkeit bei der AGCS gemäß § 6 Abs. 1 S.1 Nr. 1 SGB VI zu gewähren.€

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Klageakte sowie die beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen.

Gründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage (§§ 87, 90 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) ist auch im Übrigen zulässig und erweist sich als begründet.

Die angegriffenen Bescheide sind nicht rechtmäßig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.

Der Kläger hat in Bezug auf seine Beschäftigung bei der AGCS einen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VI ab dem 07.06.2010.

Die gesetzlich normierten Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 S.1 Nr.1 SGB VI sind insoweit unstreitig erfüllt, als die Klägerin Mitglied der Anwaltskammer M. (§ 60 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) und aufgrund des €Gesetzes über die Bayerische Rechtsanwaltsversorgung€ Pflichtmitglied im Versorgungswerk ist. Die Befreiung nach § 46 BRAO wurde ebenfalls erteilt.

17Des Weiteren liegen auch die ungeschriebenen Tatbestandmerkmale des § 6 Abs. 1 S.1. Nr. 1 SGB VI vor, soweit sie von der Rechtsprechung entwickelt und von der Beklagten anerkannt und angewandt werden. Die Kläger ist überwiegend rechtsberatend, rechtsentscheidend, rechtsgestaltend und rechtsvermittelnd tätig (vgl. zur Anwendung des Kriterienkatalogs, Hessisches LSG, Urteil vom 29.10.2009, Az.: L 8 KR 169/08, Rundschreiben des ABV e.V. vom 30.09.2011 und des BDA vom 23.12.2010 ; u.A. mit dem Argument des grundgesetzlichen Gesetzesvorbehalt SG Düsseldorf, Urteil vom 02.11.2010, Az.: S 52 R 230/09).

Unstrittig ist, dass der Kläger rechtsberatend und rechtsvermittelnd tätig ist. Zu Unrecht macht die Beklagte jedoch geltend, dass der Kläger ausreichend nachgewiesen hätte, dass er rechtsentscheidend und rechtsgestaltend tätig sei.

Der Bereich der Rechtsentscheidung beinhaltet das nach außen wirksame Auftreten als Entscheidungsträger mit eigenständiger Entscheidungskompetenz. Der Kläger wurde laut Arbeitsvertrag mit einer Handlungsvollmacht nach § 54 Handelsgesetzbuch (HGB) ausgestattet. Er hat unwiderlegt vorgetragen, dass er damit Versicherungsverträge in Höhe von mehreren Millionen Euro abschließen kann. Die Notwendigkeit einer zweiten Unterschrift ergibt sich aus gesellschaftsrechtlichen Vorgaben und mindern die Entscheidungskompetenzen des Klägers nicht. Als Leiter des Bereichs Berufshaftpflichtversicherungen trägt der Kläger die fachliche Verantwortung für die von ihm unterschriebenen Verträge.

Dem Bereich der Rechtsgestaltung ist das eigenständige Führen von Vertrags- und Einigungsverhandlungen zuzuordnen. Der Kläger hat überzeugend vorgetragen, dass es seine Aufgabe sei, Verträge, denen hohe Haftungssummen und damit Risiken zugrunde liegen, im internationalen Kontext zu gestalten, nach allen betroffenen Rechtsordnungen zu prüfen und zu verhandeln.

Der Vortrag der Beklagten, die Tätigkeit des Klägers erfordere die Eigenschaft als Volljurist nicht, wurde weder nachvollziehbar begründet noch ist dieses Kriterium ein anerkannter Ausschlussgrund für eine Befreiung. Dazu ist daher nur kurz anzumerken, dass die Tätigkeit des Klägers hoch spezialisiert ist und neben Kenntnissen des deutschen Rechts und Erfahrung im Bereich des Berufshaftpflichtrechts auch die Fähigkeit erfordert, die Vorschriften anderer Rechtsordnungen zu integrieren. Mit diesen Aufgaben wird ein vernünftig handelnder Arbeitgeber weder Betriebswirte noch einfache Wirtschaftjuristen betrauen.

Letztlich sei erwähnt, dass am vorliegenden Fall die mangelnde Nachvollziehbarkeit der Praxis der Beklagten besonders deutlich wird. Im Jahr 1997 wurde der Kläger in den ersten Jahren seiner Berufstätigkeit als ein im Bereich der allgemeinen Haftpflichtversicherung tätiger Underwriter von der Versicherungspflicht befreit. Ob der Kläger bei dieser Tätigkeit bereits Rechtsentscheidungskompetenz hatte ist fraglich, kann jedoch mangels Relevanz dahingestellt bleiben. 13 Jahre später wird ihm aufgrund seiner Erfahrung und Fachkenntnis eine gut dotierte und höchst verantwortungsvolle Position angeboten, in der er nicht nur weltweit Führungsaufgaben übernommen hat, sondern faktisch in Alleinentscheidungskompetenz Verträge mit Haftungssummen von mehreren Millionen Euro verhandelt und abschließt. Aufgrund des Arbeitgeberwechsels wurden nun von der Beklagten, ohne auf die klägerischen Argument und Fakten (bspw. das Vorliegen einer Handlungsvollmacht nach § 54 HGB) im Einzelnen einzugehen, die Kriterien der Rechtsentscheidung und Rechtsgestaltung angezweifelt und eine Erstreckung der Befreiung abgelehnt.

Die Kostenentscheidung beruht auf §193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits in der Sache.






SG München:
Urteil v. 30.09.2011
Az: S 12 R 370/11


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