Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 7. November 2002
Aktenzeichen: 1 BvR 580/02

(BVerfG: Beschluss v. 07.11.2002, Az.: 1 BvR 580/02)

Tenor

Das Urteil des Oberlandesgerichts München vom 8. Februar 2001 - 29 U 4292/00 - und der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 21. Februar 2002 - I ZR 155/01 - verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.

Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.

Den Beschwerdeführern sind die notwendigen Auslagen von der Bundesrepublik Deutschland zu erstatten.

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf bis 35.000 Euro festgesetzt.

Gründe

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sind zivilgerichtliche Entscheidungen, mit denen die Veröffentlichung optisch hervorgehobener Rangeinstufungen (Ranking-Listen) in einem Handbuch über wirtschaftsrechtlich orientierte Anwaltskanzleien untersagt wird.

I.

1. Die Beschwerdeführerin zu 1 gibt seit dem Jahre 1998 das jährlich erscheinende "JUVE-Handbuch" heraus. Die Kläger des Ausgangsverfahrens, zwei niedergelassene Rechtsanwälte, nahmen die Beschwerdeführer wegen der in dem Handbuch enthaltenen Anwalts-Ranglisten nach § 1 UWG auf Unterlassung in Anspruch. Das Oberlandesgericht gab im Berufungsrechtszug der Klage statt (vgl. NJW 2001, S. 1950 = ZIP 2001, S. 1116). Der Bundesgerichtshof hat die Revision nicht zur Entscheidung angenommen.

Die Verfassungsbeschwerde rügt eine Verletzung der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG. Mit der einstweiligen Anordnung vom 1. August 2002 hat die Kammer die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Oberlandesgerichts München im Hinblick auf die geplante 5. Auflage des Handbuchs einstweilen eingestellt.

2. Die Kläger des Ausgangsverfahrens, die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein, die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs und der Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft haben zur Verfassungsbeschwerde Stellung genommen.

II.

Die Voraussetzungen einer Stattgabe durch die Kammer nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG sind gegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat im Urteil vom 12. Dezember 2000 (BVerfGE 102, 347 - Benetton-Werbung) eine Grundsatzentscheidung zur Bedeutung des Grundrechts auf Meinungs- und Pressefreiheit im Wettbewerbsrecht getroffen. Damit sind die für den vorliegenden Fall maßgeblichen Fragen im Wesentlichen geklärt. Nach den in dieser Entscheidung niedergelegten Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde begründet.

Im Anschluss an das Urteil vom 12. Dezember 2000 hat die Kammer in den Beschlüssen vom 1. August 2001 (NJW 2001, S. 3403) und vom 6. Februar 2002 (NJW 2002, S. 1187) zu Bedeutung und Tragweite des Grundrechts für den Inhalt von Werbeaussagen Stellung genommen. Für die vorliegende Sache gilt unter Bezugnahme hierauf Folgendes:

1. Das Oberlandesgericht hat bei Auslegung und Anwendung von § 1 UWG Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG verkannt.

a) Die untersagten Ranglisten enthalten schwerpunktmäßig wertende Äußerungen, nicht jedoch Tatsachenbehauptungen.

Eine Meinung ist im Unterschied zur Tatsachenbehauptung durch das Element des Wertens, insbesondere der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt (vgl. BVerfGE 61, 1 <9>; 85, 1 <14>). Die Listen geben eine von der Redaktion erstellte Rangordnung der aufgeführten Kanzleien wieder. Sie lassen erkennen, dass dadurch über deren Leistungen ein Werturteil abgegeben wird. Dieses baut allerdings auf Interviews auf, also auf Auskünften Dritter, wie der jeweils am Ende wiedergegebene Hinweis zeigt. Die Fundierung der Wertungen in tatsächlichen Erhebungen ändert aber nichts daran, dass Werturteile formuliert werden. Auch in den Interviews wurden wertende Äußerungen erhoben und zur Grundlage der Auswertung genommen.

Soweit sich den Entscheidungsgründen Anhaltspunkte entnehmen lassen, geht das Oberlandesgericht demgegenüber davon aus, bei den Ranglisten handele es sich um die Äußerung von Tatsachen. Den aus den Ranggruppen zu ersehenden Angaben zur Qualifikation der genannten Rechtsanwälte wird ausdrücklich tatsächlicher Charakter beigemessen. Im gleichen Zusammenhang ist von objektiven Vergleichskriterien die Rede. An anderer Stelle werden die Ranggruppen als objektiv nicht zu rechtfertigende und als unrichtige Information charakterisiert, deren sachliche Richtigkeit auch von den Beschwerdeführern nicht behauptet werde. Dies alles setzt ein Verständnis der Tabellen als Tatsachenäußerung voraus.

b) Auf der unzutreffenden Einordnung der Äußerungen als Tatsachenbehauptungen beruht das Berufungsurteil. Werden die Äußerungen bei erneuter Verhandlung der Sache als Werturteil eingeordnet, besteht die Möglichkeit, dass ein dem Beschwerdeführer günstigeres Ergebnis erzielt wird. Die dahingehende Möglichkeit reicht für die Annahme eines Zusammenhangs zwischen der Grundrechtsverletzung und der angegriffenen Entscheidung aus (vgl. BVerfGE 61, 1 <13>; 99, 185 <201 f.>).

aa) Die Einordnung einer Äußerung als Werturteil oder als Tatsachenbehauptung ist für die rechtliche Beurteilung von Eingriffen in das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nach der Rechtsprechung der Fachgerichte und des Bundesverfassungsgerichts von weichenstellender Bedeutung (vgl. BVerfGE 61, 1 <7 f.>; 99, 185 <196 f.>; stRspr). Führt eine Tatsachenbehauptung zu einer Rechtsverletzung, hängt das Ergebnis der Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter vom Wahrheitsgehalt der Äußerung ab. Bewusst unwahre Tatsachenäußerungen genießen den Grundrechtsschutz überhaupt nicht (vgl. BVerfGE 54, 208 <219>). Ist die Wahrheit nicht erwiesen, wird die Rechtmäßigkeit der Beeinträchtigung eines anderen Rechtsguts davon beeinflusst, ob besondere Anforderungen, etwa an die Sorgfalt der Recherche, beachtet worden sind. Werturteile sind demgegenüber keinem Wahrheitsbeweis zugänglich. Sie sind grundsätzlich frei und können nur unter besonderen Umständen beschränkt werden (vgl. BVerfGE 85, 1 <16 f.>).

bb) Wird die Rangliste zutreffend als Werturteil eingeordnet, lässt sich nach den bisherigen Erkenntnissen des Oberlandesgerichts nicht feststellen, dass sie ein in § 1 UWG geschütztes Rechtsgut gefährdet und dessen Schutz Vorrang vor der Freiheit der Meinungsäußerung hat.

(1) Schutzgut des § 1 UWG ist nach der fachrichterlichen Rechtsprechung insbesondere der Leistungswettbewerb. Zum Schutz der Wettbewerber und sonstiger Marktbeteiligter, aber gegebenenfalls auch gewichtiger Interessen der Allgemeinheit, werden durch die Norm Verhaltensweisen missbilligt, welche die Funktionsfähigkeit des an der Leistung orientierten Wettbewerbs im wettbewerblichen Handeln einzelner Unternehmen oder als Institution stören, so zum Beispiel durch unlautere Einflussnahmen auf die freie Entschließung der Kunden (vgl. BGHZ 140, 134 <138 f.>; BGH NJW 2000, S. 864; BGHZ 144, 255 <265 f.>; Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 22. Aufl., München 2001, Einl UWG, Rn. 100 ff.). Diese Schutzgutbestimmung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerfG, NJW 2001, S. 3403 <3404>; 2002, S. 1187 <1188>). Ob § 1 UWG noch weitere Schutzgüter umfasst (so, wenn auch ohne Spezifizierung, BGH, VersR 2002, S. 456 <462> - "H.I.V. Positive" II), brauchte vom Bundesverfassungsgericht in den bisher entschiedenen Sachen nicht erörtert zu werden; auch der vorliegende Fall bietet hierzu keinen Anlass. Die Auslegung des einfachen Rechts und damit auch die Herleitung von Schutzgütern aus einer Rechtsnorm ist Aufgabe der Fachgerichte (BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 84, 372 <379>; 85, 248 <257 f.>; 102, 347 <362>).

(2) Berührt ist vorliegend der Wettbewerb zwischen Rechtsanwälten. Die streitigen Ranglisten betreffen insbesondere die Transparenz des Anwaltsmarktes. Durch Beschränkung auf verhältnismäßig wenige Kanzleien, insbesondere auf Großkanzleien, geben die Ranglisten diesen einen Wettbewerbsvorsprung. Die Listen beeinflussen auch die Offenheit des Anwaltsmarktes, weil sie neu gegründete Kanzleien im Regelfall nicht oder doch nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung einbeziehen.

(3) Eine auf § 1 UWG gestützte Einschränkung der Meinungsfreiheit setzt im konkreten Fall Feststellungen zur Gefährdung des Leistungswettbewerbs durch sittenwidriges Verhalten voraus. Das Oberlandesgericht stellt unter Bezugnahme auf die vom Bundesgerichtshof in den Urteilen "Die Besten" I und II (BGH, NJW 1997, S. 2679; 2681) erarbeiteten Grundsätze tragend auf die Fallgruppe der getarnten Werbung ab, also eine Fallgruppe, die einen Bezug auf den auch im Medienrecht enthaltenen Grundsatz der Trennung von redaktionellem Text und Werbung herstellt. Allein auf die Anwendbarkeit dieser Fallgruppe wird die Annahme der Sittenwidrigkeit im Sinne des § 1 UWG gestützt. Das ist mit den sich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG herleitenden Vorgaben nicht vereinbar.

Die Orientierung an Fallgruppen und damit an typischen Situationen der Gefährdung des Schutzguts ist verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn die betreffenden Fallgruppen den miteinander kollidierenden grundrechtlichen Positionen hinreichend Rechnung tragen. Dies kann in abstrakter Weise geschehen. Verweist die Fallgruppe aber auf Prognosen und die Anwendung unbestimmter, insbesondere wertausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriffe, ist die Rechtsanwendung nicht eindeutig vorgegeben. Dann sind auf den konkreten Fall bezogene Feststellungen zur Gefährdung des von § 1 UWG geschützten Rechtsgutes und bei Kollisionen unterschiedlicher Rechtsgüter eine die betroffenen Interessen erfassende Abwägung erforderlich (vgl. BVerfG, NJW 2002, S. 1187 <1188>). Dementsprechend ist das Bundesverfassungsgericht im Benetton-Urteil nicht von den Tatbestandselementen der einschlägigen Fallgruppe ausgegangen, sondern hat das angegriffene Unterlassungsgebot selbständig am Maßstab des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bewertet (vgl. BVerfGE 102, 347 <364 ff.>).

Von den Tatbestandselementen der von der Rechtsprechung zu § 1 UWG entwickelten Fallgruppen kann eine aus praktischer Erfahrung gewonnene Indizwirkung für die Gefährdung des Leistungswettbewerbs und damit zusammenhängend die Sittenwidrigkeit ausgehen. Allerdings müssen die Fachgerichte prüfen, ob die Indizwirkung im konkreten Fall ausreicht, um die Rechtsfolge, eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, zu rechtfertigen (vgl. BVerfG, NJW 2002, S. 1187 <1188>).

Die Fallgruppe der getarnten Werbung ist nicht eindeutig eingegrenzt, sondern bei der Rechtsanwendung in hohem Maße auf wertende Einschätzungen und Prognosen der Folgen einer solchen Werbung angewiesen. Das gilt insbesondere für die Merkmale der sachlichen Unterrichtung, der Werbewirkung und deren Übermaß beziehungsweise Einseitigkeit. Wird die Fallgruppe der getarnten Werbung auf die journalistische Tätigkeit durch ein Medienunternehmen angewandt, bieten die im Wettbewerbs- und Medienrecht entwickelten Grundsätze über die Trennung von redaktionellem Teil und Anzeigenteil Anhaltspunkte der Bewertung und damit der Feststellung einer Gefährdung des Schutzgutes im konkreten Fall.

Eine spezifische Gefahr für den Leistungswettbewerb, die von den Ranglisten als solchen ausgeht, wird in den Entscheidungsgründen nicht dargelegt. Dass ein journalistischer Beitrag über Anwaltskanzleien mit Werbewirkung allgemein oder im konkreten Fall dem Leistungswettbewerb in der Anwaltschaft zuwiderläuft, etwa mit Rücksicht auf die Funktion der Anwaltschaft als Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO), hätte der näheren Begründung bedurft. Soweit das Oberlandesgericht auf die begrenzte Offenlegung der Bewertungsgrundlagen und -kriterien abstellt, fehlen im Berufungsurteil Feststellungen insbesondere dazu, dass die angesprochenen Kreise die Erläuterungen nicht selbst angemessen zu werten wissen oder dass die verbleibenden Unklarheiten Gefahren für den Leistungswettbewerb bedingen.

Es ist auch nicht festgestellt worden, dass durch die Veröffentlichung von Ranglisten in sittenwidriger Weise auf die Aufgabe von Inseraten hingewirkt wird. Auch dies hätte einer die spezifische Gefährdung des Leistungswettbewerbs einbeziehenden Begründung bedurft. Dafür reicht der Hinweis auf das Interesse der Beschwerdeführer an der Akquisition von Anzeigenaufträgen nicht aus. Anzeigenfinanzierte Medien sind regelmäßig darauf angewiesen, zur Schaltung von Anzeigen zu motivieren. Die Bewertung als sittenwidrig erfordert die Feststellung zusätzlicher Umstände, die etwa gegeben sind, wenn durch Vortäuschung einer neutralen redaktionellen Leistung ein werbender, auf die Akquisition gerichteter Inhalt verborgen wird. Entsprechende Feststellungen hat das Oberlandesgericht nicht getroffen.

cc) Schließlich fehlt es für den Fall, dass eine hinreichende Gefährdung des Schutzguts festgestellt werden sollte, an tragfähigen Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit des Unterlassungsgebots.

Ein umfassendes Unterlassungsgebot ist nicht erforderlich, wenn klarstellende Zusätze, etwa Hinweise auf die Quellen der Ranglisten, ausreichen, um Irreführungen und eine hierdurch hervorgerufene Beeinträchtigung des Leistungswettbewerbs auszuschließen. Eine dahingehende einschränkende Verurteilung ist, wenn nicht der Klageantrag diese Möglichkeit ohnehin berücksichtigt, nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung auch bei einem umfassenden Unterlassungsbegehren zulässig (vgl. BGHZ 78, 9 <18 ff.>). Im Zuge des Verfahrens über die einstweilige Anordnung haben die Beschwerdeführer zum Teil neue klarstellende Formulierungen für die Neuauflage des Handbuchs angekündigt, mit denen sie den Bedenken des Oberlandesgerichts Rechnung tragen wollen. Bei der Neuverhandlung der Sache wird zu prüfen sein, ob eine vom Oberlandesgericht möglicherweise bejahte Gefährdung des Leistungswettbewerbs auf solche Weise abgewehrt werden kann. Die neuen Formulierungen sind vom Bundesverfassungsgericht bislang allerdings nur im Rahmen der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG vorzunehmenden Abwägung, nicht hingegen in der Sache selbst einer Würdigung unterzogen worden.

2. Da die Entscheidung des Bundesgerichtshofs möglicherweise auf denselben Erwägungen beruht wie das Berufungsurteil, verletzt auch sie die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

3. a) Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung der Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG festzustellen. Auf die weiter gehenden Grundrechtsrügen kommt es nicht an. Die angegriffenen Entscheidungen werden gemäss § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen, weil die erneute Bearbeitung in einer Tatsacheninstanz angezeigt ist.

b) Gemäß § 34 a BVerfGG sind den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen von der Bundesrepublik Deutschland zu erstatten. Die Festsetzung des Gegenstandswertes folgt aus § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.






BVerfG:
Beschluss v. 07.11.2002
Az: 1 BvR 580/02


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