Sozialgericht Marburg:
Beschluss vom 14. Februar 2008
Aktenzeichen: S 6 KR 72/07

(SG Marburg: Beschluss v. 14.02.2008, Az.: S 6 KR 72/07)

1. Im Fall einer Untätigkeitsklage, die sich nach Klageerhebung ohne weiteres durch Erlass des Widerspruchsbescheids unstreitig erledigt, ist ein deutlich unterdurchschnittliches Klageverfahren gegeben. Dies ist bei der Bemessung der Verfahrensgebühr zu berücksichtigen. Eine Kürzung der Mittelgebühr um 50 % entspricht unter Beachtung der Maßstäbe des § 14 Abs. 1 RVG der Billigkeit.

2. In einem solchen Fall entsteht keine Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV RVG. Dazu fehlt es an einer Beendigung des Verfahrens durch Annahme eines prozessualen Anerkenntnisses.

3. Auch die Voraussetzungen für die Erledigungsgebühr nach Nr. 1006 VV RVG sind nicht erfüllt. Die insoweit nach der Rechtsprechung des BSG, der die Kammer folgt, erforderliche qualifizierte anwaltliche Mitwirkung, die kausal für die Erledigung des Rechtsstreits gewesen ist, liegt nicht vor.

Tenor

Der Kostenfestsetzungsbeschluss vom 7. November 2007 wird aufdie Erinnerung der Beklagten dahingehend abgeändert, dass die vonder Beklagten an den Kläger zu erstattenden außergerichtlichenKosten für das Klageverfahren auf insgesamt 172,55 €festgesetzt werden.

Im Übrigen wird die Erinnerung der Beklagten zurückgewiesen.

Die Erinnerung des Klägers wird zurückgewiesen.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die Höhe der zu Gunsten des Klägers erstattungsfähigen Kosten.

In der Hauptsache begehrte der Kläger mit seiner am 7. September 2007 (Eingangsdatum) erhobenen Untätigkeitsklage die Bescheidung seines Widerspruchs vom 18. April 2007. Dieser richtete sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 13. April 2007, mit dem diese die Krankenversicherung des Klägers auf eine freiwillige Versicherung ohne Anspruch auf Krankengeld umstellte und die Beiträge entsprechend anpasste. Im Klageverfahren teilte die Beklagte in Beantwortung der gerichtlichen Eingangsverfügung mit, der begehrte Widerspruchsbescheid werde voraussichtlich am 27. September 2007 ergehen. Als dies geschah, erklärte der Kläger den Rechtsstreit mit Schriftsatz vom 28. September 2007 für erledigt.

Zugleich beantragte der Kläger, der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen und (sinngemäß) die gerichtliche Kostenfestsetzung. Im Einzelnen begehrte er die Übernahme folgender Gebühren:

- Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3102 VV RVG= 175 €,- Terminsgebühr gemäß Nr. 3106 VV RVG= 140 €,- Post- und Telekommunikationsentgeltpauschale gemäß Nr. 7002 VV RVG = 20 €,- 19 % Umsatzsteuer= 63,65 €,in der Summe also398,65 €.Die Beklagte gab ein Kostengrundanerkenntnis ab, verwahrte sich jedoch gegen die Höhe der Gebühren.

Der zuständige Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des Sozialgerichts Marburg setzte mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 7. November 2007 die zu erstattenden Kosten fest und reduzierte dabei die von der Beklagten zu übernehmenden Anwaltsgebühren auf insgesamt 285,60 €. Zur Begründung führte er aus, dass es sich um eine Untätigkeitsklage gehandelt habe und daher nur eine Verfahrensgebühr in Höhe von 50 % unter der Mittelgebühr des Gebührenrahmens der Nr. 3102 VV RVG gerechtfertigt sei. Ferner sei anstelle der beantragten Terminsgebühr eine Erledigungsgebühr nach Nr. 1006 VV RVG anzusetzen.

Gegen den am 12. November 2007 zugestellten Kostenfestsetzungsbeschluss haben beide Beteiligte fristgerecht beim Sozialgericht Marburg Erinnerung eingelegt, der der zuständige Urkundsbeamte der Geschäftsstelle nicht abgeholfen hat.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes und insbesondere wegen des Vorbringens der Beteiligten zur Begründung der erhobenen Erinnerungen wird auf die Gerichtsakte verwiesen.

II.

Die gemäß § 197 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und form- und fristgerecht erhobenen Erinnerungen gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss des Sozialgerichts Marburg vom 7. November 2007 sind zulässig. Die Erinnerung des Klägers ist jedoch unbegründet; die der Beklagten nur teilweise begründet.

Die angegriffene Kostenfestsetzung durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle ist abzuändern, da sie die Anwaltsgebühren für das vorliegende Klageverfahren zu hoch festsetzt. Gegen die Beklagte sind Kosten in Höhe von insgesamt 172,55 € festzusetzen.

Bezüglich der Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV RVG verbleibt es bei der vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle festgesetzten Höhe von 125,00 €. Zur Begründung wird auf den angefochtenen Kostenfestsetzungsbeschluss vom 7. November 2007 verwiesen. Zu Recht ist der zuständige Urkundsbeamte der Geschäftsstelle bezüglich der Verfahrens- bzw. Geschäftsgebühr von dem Gebührenrahmen der Nr. 3102 VV RVG (40 bis 460 €) ausgegangen. Was die Bestimmung der angemessenen Gebühr innerhalb dieses Gebührenrahmens angeht, ist die Kammer der Auffassung, dass grundsätzlich auch bei einer Untätigkeitsklage zunächst von der Mittelgebühr auszugehen ist. Es entspricht allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum, dass die Mittelgebühr ein angemessenes Äquivalent für die anwaltliche Tätigkeit in einem in jeder Hinsicht durchschnittlichen Streitverfahren darstellt. Davon ausgehend sind sodann Abschläge für unterdurchschnittliche und Zuschläge für überdurchschnittliche Klageverfahren vorzunehmen. Die Maßstäbe für diese Einordnung lassen sich der Regelung des § 14 RVG entnehmen. Bei der Bestimmung der konkreten Gebühr sind nach § 14 Abs. 1 S. 1 RVG alle Umstände des Einzelfalls, vor allem Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, Bedeutung der Angelegenheit und die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers zu berücksichtigen. Bei den hier einschlägigen Betragsrahmengebühren ist außerdem das Haftungsrisiko des Rechtsanwalts zu berücksichtigen (§ 14 Abs. 1 S. 3 RVG).

Unter Würdigung all dieser Umstände ist das Gericht zu der Ansicht gelangt, dass in dem hier vorliegenden Fall einer Untätigkeitsklage, die sich nach Klageerhebung ohne weiteres durch Erlass des Widerspruchsbescheids unstreitig erledigt, ein deutlich unterdurchschnittliches Klageverfahren gegeben ist. Diesem Umstand trägt die streitgegenständliche Gebührenrechnung des klägerischen Prozessbevollmächtigten nicht hinreichend Rechnung. Seine Bestimmung der Verfahrensgebühr ist daher nicht verbindlich, weil sie unbillig ist (§ 14 Abs. 1 S. 4 RVG). Eine Kürzung der Mittelgebühr um (nur) 30% hält das Gericht nicht für ausreichend. Auf der anderen Seite würde die von der Beklagten beantragte Festsetzung lediglich in Höhe der (doppelten) Mindestgebühr keine angemessene Vergütung der anwaltlichen Tätigkeit bedeuten. Die Kammer folgt vielmehr der Festsetzung des zuständigen Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, der im Anschluss an die Rechtsprechung des Sozialgerichts Nürnberg (Beschluss vom 4. Oktober 2006 - S 14 R 813/05 KO) die halbe Mittelgebühr berücksichtigt hat. Eine solche Kürzung der Mittelgebühr um 50 % entspricht unter Berücksichtigung der oben genannten Maßstäbe der Billigkeit (ebenso auch SG Augsburg, Beschlüsse vom 10. August 2007 bzw. 21. November 2006 - S 10 KR 58/06 KO und S 9 AS 286/06). Dabei ist entscheidend zu beachten, dass die Untätigkeitsklage des § 88 SGG eine reine Bescheidungsklage ist. Gegenstand des Verfahrens ist also allein der Erlass des begehrten Verwaltungsakts. Auf die materielle Rechtslage kommt es folglich nicht an; sie muss vom Rechtsanwalt weder geprüft noch dargelegt werden. Der anwaltliche Arbeitsaufwand beschränkt sich daher auf die vorgerichtliche Überwachung der Frist des § 88 SGG, die Fertigung der Klageschrift, die Abgabe der nach Eintritt des erledigenden Ereignisses angezeigten Prozesserklärung sowie den Kostenantrag. Dabei handelt es sich um anwaltliche Tätigkeiten einfacher Art. Andererseits ist aber nicht zu verkennen, dass die Untätigkeitsklage dem betroffenen Bürger mittelbar zur Erreichung seines eigentlichen Ziels dient. Dazu ist der von der Beklagten begehrte Erlass des Verwaltungsakts ein notwendiger Zwischenschritt, da er zwingende Voraussetzung für die Klageerhebung in der Sache ist. Unnötige zeitliche Verzögerungen auf diesem Weg können daher auch ein Haftungsrisiko des Rechtsanwalts begründen. Der vorliegende Rechtsstreit lässt keine Besonderheiten erkennen (insbesondere auch nicht in den Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers), die eine abweichende Festsetzung der Verfahrensgebühr rechtfertigen könnten.

Zu Recht ist in dem angegriffenen Kostenfestsetzungsbeschluss vom 7. November 2007 keine Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV RVG festgesetzt worden. Auch insoweit ist die Gebührenrechnung des klägerischen Prozessbevollmächtigten zu beanstanden, weil die geltend gemachte Terminsgebühr nach Ansicht der Kammer nicht entstanden ist. Dies ist nur der Fall, wenn (1) in einem Verfahren, für das mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist, im Einverständnis mit den Parteien ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, (2) nach § 105 Abs. 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden wird oder (3) das Verfahren nach angenommenem Anerkenntnis ohne mündliche Verhandlung endet. Im vorliegenden Fall ist keine dieser Voraussetzungen erfüllt. Zunächst fehlt es an einer Entscheidung des Gerichts. Darüber hinaus endete das Verfahren auch nicht mit einem angenommenen Anerkenntnis. Vielmehr hat die Beklagte den begehrten Widerspruchsbescheid am 27. September 2007 erlassen. Daraufhin hat der Kläger den Rechtsstreit für erledigt erklärt. In dem mit der Untätigkeitsklage begehrten Erlass des Verwaltungsakts liegt prozessrechtlich kein Anerkenntnis im Sinne von § 101 Abs. 2 SGG bzw. Nr. 3106 VV RVG. Wie der zuständige Urkundsbeamte der Geschäftsstelle folgt auch die Kammer insoweit der Rechtsprechung des Sozialgerichts Nürnberg (a.a.O.). Es liegt in der oben dargelegten Besonderheit der Untätigkeitsklage des SGG als reiner Bescheidungsklage begründet, dass eine Prozesserklärung der Beklagten in Form eines Anerkenntnisses gerade nicht erforderlich ist. Die Untätigkeitsklage findet vielmehr in einer außergerichtlichen Handlung der Beklagten ihren Erfolg. Der begehrte Erlass eines Verwaltungsakts ist daher nicht als Anerkenntnis anzusehen (ebenso auch SG Aachen, Beschluss vom 11. Mai 2007 - S 13 KR 29/06). Die abweichende Argumentation des Sozialgerichts Kassel in dem vom Kläger vorgelegten Kostenfestsetzungsbeschluss vom 27. April 2007 - S 5 AS 1046/06 - überzeugt nicht, da das Verhalten der Beklagten, wollte man ihm einen prozessualen Bedeutungsgehalt beimessen, ebenso gut als konkludente Erledigungserklärung verstanden werden könnte.

Schließlich war der streitgegenständliche Kostenfestsetzungsbeschluss vom 7. November 2007 auf die Erinnerung der Beklagten dahingehend abzuändern, dass eine Erledigungsgebühr nach Nr. 1006 VV RVG im vorliegenden Fall nicht festzusetzen war. Insoweit folgt die Kammer nicht der Rechtsprechung des Sozialgerichts Nürnberg (a.a.O.), die der zuständige Urkundsbeamte der Geschäftsstelle wiederum seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat. Der entsprechende Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg ist vor der Verkündung der grundlegenden Urteile des Bundessozialgerichts zur Erledigungsgebühr vom 7. November 2006 - B 1 KR 13/06 R u.a. - ergangen und steht mit dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht im Einklang. In der zitierten Entscheidung hat das Bundessozialgericht ausgeführt:

€[20] Wie das LSG zutreffend entschieden hat, verlangt die Gebührenposition im Widerspruchsverfahren regelmäßig eine Tätigkeit des Rechtsanwalts, die über die bloße Einlegung und Begründung des Widerspruchs hinausgeht (ebenso zB: von Eicken in: Gerold/Schmidt/von Eicken/ Madert/Müller-Rabe, RVG, 16. Aufl 2004, Nr 1002 VV, RdNr 18 f mwN; Göttlich/Mümmler/ Rehberg/Xanke, RVG, 1. Aufl 2004, S 328 unter 4. mwN; Hartmann, Kostengesetze, 36. Aufl 2006, 1002 VV RVG RdNr 11 mwN). Das ergibt sich aus dem Wortlaut der Nr 1005 VV RVG, ihrem systematischem Zusammenhang mit vergleichbaren Gebührenpositionen, Sinn und Zweck der Regelung sowie ihrer Entstehungsgeschichte.

[21] aa) Um den Begriff der €Erledigung€ auszufüllen, verweist Nr 1005 VV RVG auf Nr 1002 VV RVG. Die Erläuterung zu Nr 1002 VV RVG bestimmt in Satz 1, dass die Gebühr entsteht, wenn sich €eine Rechtssache ganz oder teilweise nach Aufhebung oder Änderung des mit einem Rechtsbehelf angefochtenen Verwaltungsakts durch die anwaltliche Mitwirkung erledigt€. Das Gleiche gilt nach Satz 2, €wenn sich eine Rechtssache ganz oder teilweise durch Erlass eines bisher abgelehnten Verwaltungsakts erledigt€. Nach Satz 1 muss mithin ein Verwaltungsakt mit einem Rechtsbehelf angefochten worden sein, der zu seiner Aufhebung oder Änderung führt; in der Folge (€nach€), dh nach Tätigwerden sowohl der Behörde als auch des Anwalts, muss sich die Rechtssache dann erledigen. Die bloße Rücknahme eines eingelegten Rechtsbehelfs kann damit ebenso wenig für die Erfüllung des Tatbestands ausreichen wie umgekehrt die umgehende vollständige Abhilfe der Behörde ohne besondere anwaltliche Aktivität. Die anwaltliche Mitwirkung muss vielmehr gerade kausal für die Erledigung der Rechtssache gewesen sein (so auch OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21. 2. 2006 - 2 O 223/05, juris RdNr 5; FG des Saarlandes, Beschluss vom 14. 11. 2005 - 2 S 335/05, juris RdNr 15). Bereits das Wort €Mitwirkung€ bedeutet nach dem Sprachgebrauch in diesem Zusammenhang mehr als die bloße €Anwesenheit€, €Einschaltung€ oder €Hinzuziehung€ eines Rechtsanwalts (ähnlich: Hartmann, aaO, 1002 VV RVG RdNr 11) und erfordert deshalb ein auf die Erledigung der Rechtssache gerichtetes Tätigwerden, das über die reine Widerspruchseinlegung und -begründung hinausgeht. Nur in diese Auslegung fügt sich auch der Wortlaut der inhaltlich neuen Erläuterung zu Nr 1002 (Satz 2) VV RVG ein, die den unter Geltung der BRAGO noch nicht ausdrücklich geregelten Fall betrifft, dass sich eine Rechtssache ganz oder teilweise durch Erlass eines bisher abgelehnten Verwaltungsakts erledigt (Verpflichtungswiderspruch). Die Worte €Das Gleiche gilt€ stellen klar, dass es für das Entstehen einer Erledigungsgebühr sowohl in einer Anfechtungssituation als auch bei einem Verpflichtungsrechtsbehelf auf die auf Erledigung gerichtete Mitwirkung des Anwalts ankommt. Nichts anderes kann für eine Verwaltungsentscheidung gelten, die einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) vorgelagert ist.

[22] bb) Die Regelungssystematik des VV RVG bestätigt das Erfordernis einer qualifizierten erledigungsgerichteten Mitwirkung des Rechtsanwalts. Die Erledigungsgebühr der Nr 1002 VV RVG befindet sich nämlich als dritter geregelter Fall der €allgemeinen Gebühren€, die neben den in anderen Teilen bestimmten Gebühren stehen, in einem engen Regelungszusammenhang mit der Einigungsgebühr (Nr 1000 VV RVG) und der Aussöhnungsgebühr (Nr 1001 W RVG). Die Einigungsgebühr entsteht für die Mitwirkung des Anwalts beim Abschluss eines (streitbeendenden) Vergleichsvertrages (vgl dazu zB BAG, Beschluss vom 29. 3. 2006 - 3 AZB 69/05, NJW 2006, 1997), die Aussöhnungsgebühr dann, wenn die anwaltliche Tätigkeit dazu geführt hat, dass sich scheidungswillige Eheleute aussöhnen und die eheliche Lebensgemeinschaft fortsetzen oder wieder aufnehmen. Auch in diesen anderen Fällen ist der Rechtsanwalt in einer Weise tätig geworden, die über die allgemeine Wahrnehmung verfahrensmäßiger bzw rechtlicher Interessen für seinen Mandanten hinausgeht und damit eine Entstehung neben den in anderen Teilen bestimmten Gebühren rechtfertigt. Für die Auslegung der Nr 1002 W RVG und damit insoweit auch der Nr 1005 VV RVG hat dann Gleiches zu gelten.

[23] Auch der systematische Zusammenhang von Nr 1005 mit Nr 1006 VV RVG entsprechend dem von Nr 1002 VV RVG mit der Nr 1003 VV RVG zeigt, dass die anwaltliche Mitwirkung gerade auf die Vermeidung einer gerichtlichen Auseinandersetzung gerichtet sein muss; denn sofern bereits ein gerichtliches Verfahren über eine Rechtssache anhängig ist, verringert sich danach die Gebühr nach Nr 1005 W RVG. Die Erledigungsgebühr entsteht andererseits überhaupt nur dann, wenn es der an sich vom Rechtsuchenden begehrten streitigen Entscheidung des zuständigen Gerichts nicht bedarf. Trotz der Unterschiede zwischen gerichtlichem Verfahren und Widerspruchsverfahren kann daraus jedenfalls entnommen werden, dass die Tätigkeit des Rechtsanwalts primär auf eine nichtstreitige Erledigung gerichtet sein muss, um zu einer zusätzlichen Gebühr nach Nr 1005 VV RVG zu führen. Von einer solchen Form der Erledigung kann indessen nicht stets schon dann die Rede sein, wenn die Abhilfeentscheidung in erster Linie auf einen alsbaldigen Erkenntnisgewinn der Behörde im Rahmen ihrer gesetzlichen Pflicht zur Überprüfung der Sach- und Rechtslage (§ 78 Abs 1 Satz 1 und Abs 3 SGG) zurückzuführen ist.

cc) Sinn und Zweck von Nr 1005 VV RVG entspricht es ebenfalls allein, vom Rechtsanwalt eine besondere Mitwirkung bei der Erledigung der Rechtssache zu verlangen. Die Gebührentatbestände der Nr 1000 ff VV RVG sollen nämlich durch die erfolgende zusätzliche Honorierung die streitvermeidende Tätigkeit des Rechtsanwalts fördern und damit eine gerichtsentlastende Wirkung herbeiführen (vgl Entwurf der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts, BT-Drucks 15/1971 S 204 zu Nr 1002 VV; BAG NJW 2006, 1997, 1998). Nr 1005 VV RVG zielt vor diesem Hintergrund nicht schon darauf ab, Behörden durch das bloße Einschalten und Tätigwerden eines Rechtsanwalts im Widerspruchsverfahren zu einer Abhilfe-Entscheidung zu bewegen. Das erstmalige Auftreten eines Rechtsanwalts für den Widerspruchsführer wird in diesem Verfahrensstadium bereits durch die Gebühr nach Nr 2500 VV RVG abgegolten, das bloße Einlegen eines Widerspruchs bei vorangegangener Tätigkeit im Verwaltungsverfahren durch die Gebühr nach Nr 2501 VV RVG. Dem Ziel der kostenmäßigen Begünstigung eines anwaltlichen Bemühens um die gütliche Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Behörde und Bürger wird regelmäßig ebenfalls nicht bereits dadurch genügt, dass der Widerspruch mit einer kurzen Begründung versehen ist. Abgesehen davon, dass der Rechtsanwalt seinem Mandanten gegenüber verpflichtet ist, ein Verfahren in jedem Stadium mit der gebotenen Sorgfalt zu betreiben (vgl Straßfeld, SGb 2005, 154, 158), lässt sich bei Einlegung und Begründung des Widerspruchs in der Regel noch nicht hinreichend überschauen, ob und in welcher Weise die Behörde vorgetragene Argumente aufnehmen und darauf reagieren wird.

[25] dd) Die Richtigkeit der Auslegung wird schließlich durch die Gesetzesmaterialien zum RVG bestätigt. Danach entstammt Nr 1002 VV RVG, dementsprechend aber auch Nr 1005 VV RVG dem bis 30. 6. 2004 geltenden § 24 BRAGO. Die Regelungen sollen, selbst soweit sie über dessen Regelungsgehalt hinausgehen, der schon zu dieser Vorgängerregelung in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung entsprechen (vgl BT-Drucks 15/1971, aaO, S 204). Nach § 24 BRAGO erhielt der Rechtsanwalt eine volle Gebühr, wenn sich eine Rechtssache ganz oder teilweise nach Zurücknahme oder Änderung des mit einem Rechtsbehelf angefochtenen Verwaltungsaktes erledigte und der Rechtsanwalt bei der Erledigung mitgewirkt hatte (Erledigungsgebühr). In den Verfahren nach § 183 SGG erhöhte sich gem. § 116 Abs 4 BRAGO in diesen Fällen der Betragsrahmen. Das setzte nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ein €besonderes Bemühen€ des Rechtsanwalts um eine außergerichtliche Erledigung des Rechtsstreits voraus. Die alleinige Einlegung und Begründung eines Rechtsbehelfs, einer Klage oder eines Rechtsmittels war dagegen noch nicht ausreichend, um den Gebührentatbestand zu erfüllen (BSG SozR 3-1930 § 116 Nr 4 S 14; BSG SozR 3-1930 § 116 Nr 7 S 23). Um die erhöhte Gebühr beanspruchen zu können, musste der Rechtsanwalt auch im isolierten Vorverfahren vielmehr ein besonderes Bemühen um eine Einigung - sei es durch Einwirkung auf seinen Mandanten oder auf die Behörde - an den Tag legen (vgl BSG SozR 3-1930 § 116 Nr 9 S 29). Diese Rechtsprechung ist nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers auch auf Nr 1005 VV RVG zu übertragen (ebenso: von Eicken in: aaO, Nr 1002 RdNr 1; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29. 9. 2005 - L 2 KR 43/05, juris RdNr 15; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 7. 3. 2006 - L 3 AL 353/06 NZB, BeckRS: 2006 Nr 41412). Insoweit ist auch nichts daraus abzuleiten, dass mit dem RVG erstmals eine Sondergebühr für die Erledigung einer Rechtssache eingeführt wurde (so aber SG Aachen, Beschluss vom 16. 3. 2005 - S 11 RJ 90/04). Dass nach altem Recht lediglich die Erhöhung des einschlägigen Gebührenrahmens vorgesehen war, spricht nicht dafür, dass die Rechtsprechung zur alten Rechtslage nunmehr obsolet wäre. Vielmehr muss für das Entstehen einer gesonderten Gebühr erst recht eine anwaltliche Tätigkeit verlangt werden, die über das Maß desjenigen hinausgeht, das schon durch den allgemeinen Gebührentatbestand für das anwaltliche Auftreten im sozialrechtlichen Widerspruchsverfahren abgegolten wird.€

Von dieser Rechtsprechung, die die anwaltliche Tätigkeit im Widerspruchsverfahren betrifft, abzuweichen, sieht die Kammer keinen Anlass. Sie lässt sich ohne weiteres auf die anwaltliche Tätigkeit im Klageverfahren übertragen, da insoweit die Anforderungen der Nr. 1006 VV RVG und der Nr. 1005 VV RVG übereinstimmen. Eine danach erforderliche qualifizierte anwaltliche Mitwirkung, die kausal für die Erledigung des Rechtsstreits gewesen ist, ist im vorliegenden Fall indes nicht ersichtlich. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat lediglich den erhobenen Rechtsbehelf kurz begründet. Dies reicht jedoch gerade nicht aus, um die Voraussetzungen der Erledigungsgebühr nach Nr. 1006 VV RVG zu erfüllen.

Rechnerisch ergibt sich in der Summe mit der vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zutreffend festgesetzten Pauschale für Post- und Telekommunikation nach Nr. 7002 VV RVG in Höhe von 20 € ein Gesamtbetrag von 145 €. Die darauf entfallende Umsatzsteuer beträgt 27,55 €. Daraus ergibt sich die Festsetzung der Anwaltskosten des Klägers gegen die Beklagte in Höhe von insgesamt 172,55 €.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 197 Abs. 2 SGG).






SG Marburg:
Beschluss v. 14.02.2008
Az: S 6 KR 72/07


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