Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 29. Juli 2003
Aktenzeichen: 1 BvR 2145/02
(BVerfG: Beschluss v. 29.07.2003, Az.: 1 BvR 2145/02)
Tenor
Das Urteil des Amtsgerichts Norden vom 13. August 2002 - 8 Cs 111 Js 19982/01 (197/02) - und der Beschluss des Landgerichts Aurich vom 21. Oktober 2002 - 12 Ns 154/02 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Dem Beschwerdeführer sind die notwendigen Auslagen von dem Land Niedersachsen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 6.000 € (sechstausend Euro) festgesetzt.
Gründe
I.
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist eine strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung.
1. Der Beschwerdeführer betreibt eine Herberge. In deren Nähe befindet sich eine Windkraftanlage, an der es zu einem Störfall kam. Der Geschädigte des Ausgangsverfahrens war in seiner Eigenschaft als Stadtdirektor und als Prokurist der gemeindlichen Wirtschaftsbetriebe mit der Angelegenheit befasst. Außerdem ermöglichte er es einem ortsansässigen Unternehmen, die Internet-Domain "N.de" der Insel für sich in Anspruch zu nehmen. Durch dessen Nutzung erlitt der Beschwerdeführer nach seiner Auffassung wirtschaftliche Nachteile beim Betrieb der Herberge.
Als der Geschädigte sich um das Amt des Bürgermeisters bewarb, verbreitete der Beschwerdeführer eine zwei Seiten umfassende Postwurfsendung, in der er den Lesern die politischen Konkurrenten des Geschädigten empfahl. Er schilderte dessen Verhalten im Zusammenhang mit den Folgen des Störfalls und der Einrichtung der Internet-Seite und äußerte sich im Textzusammenhang unter anderem wie folgt:
...
(Der namentlich genannte Geschädigte) hatte keine Skrupel, eine Lüge mit der nächsten Lüge beschönigen zu wollen, und das, wo das Gericht daneben stand.
...
Sprichwörtlich "über Leichen" ging er, als er seine illegale Idee umsetzte, dem Wettbewerbsunternehmen, ..., die Alleinrechte an der Insel-Internet-Seite zu gewähren.
...
Ein Mann wie (der Geschädigte), der unsere Rechtsordnung mit "Füßen" tritt, sollte den Mund halten und sich nicht als Verwaltungsfachmann betiteln! ...
2. Diese Äußerungen waren Grundlage der angegriffenen Verurteilung wegen Beleidigung. Das Amtsgericht sah in ihnen eine Schmähkritik. Straflosigkeit nach § 193 StGB komme daher nicht in Betracht. Die Berufung wurde durch Beschluss nach § 313 Abs. 2 Satz 2 StPO als unzulässig verworfen.
II.
Der Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG stattgegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat die insoweit maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden; die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
1. Die streitigen Äußerungen fallen in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Sie stellen schwerpunktmäßig Wertungen dar. Selbst eine polemische oder verletzende Formulierung entzieht sie nicht dem Schutzbereich der Grundrechtsnorm (vgl. BVerfGE 54, 129 <138 f.>; 93, 266 <289>; stRspr). Der doppelte Vorwurf der Lüge enthält auch ein tatsächliches Element. Vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erfasst ist die Äußerung von Tatsachen, die anderen zur Meinungsbildung dienen können (vgl. BVerfGE 90, 241 <247>).
2. Das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gilt allerdings nicht schrankenlos. Vielmehr findet es seine Schranken unter anderem in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, namentlich in dem hier einschlägigen § 185 StGB (vgl. BVerfGE 93, 266 <290 ff.>).
Bei der Anwendung des § 185 StGB verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eine - regelmäßig im Rahmen des § 193 StGB vorzunehmende - Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Geschädigten und der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers (vgl. BVerfGE 93, 266 <293>; 94, 1 <8>; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 2001, S. 503 <505>). Bei dieser Abwägung hat das Amtsgericht Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungsfreiheit verkannt.
Die Äußerungen des Beschwerdeführers lassen sich abweichend von der im Strafurteil vertretenen Auffassung nicht als Schmähkritik einordnen. Mit Rücksicht auf seinen den Schutz der Meinungsfreiheit verdrängenden Effekt ist der Begriff der Schmähung eng auszulegen. Eine Äußerung nimmt dann den Charakter der Schmähung an, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht; sie muss jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der Herabsetzung der Person bestehen (vgl. BVerfGE 82, 272 <284>; 93, 266 <294>; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 1993, 1462). So besehen ist die Annahme einer Schmähkritik hier nicht vertretbar. Sämtliche Äußerungen des Beschwerdeführers sind ungeachtet ihrer überzogenen Formulierungen mit Tatsachen unterlegt. Sie sind eine sehr scharfe und drastisch formulierte Kritik am Verhalten des Geschädigten. Indes finden sie ihre Grundlage letztlich in einer Auseinandersetzung um umstrittene Geschehnisse und die Kandidatur des Geschädigten zur Wahl als Bürgermeister.
Hält ein Gericht eine Äußerung fälschlich für eine Schmähung und unterlässt es in der Folge eine konkrete Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, so ist dies ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn diese darauf beruht (vgl. BVerfGE 82, 272 <281>; 93, 266 <294>). So liegt es hier.
Die in den Entscheidungsgründen vorfindlichen weiteren Abwägungsgesichtspunkte können die angegriffene Entscheidung nicht für sich rechtfertigen. Das Amtsgericht hat die Äußerung des Beschwerdeführers nicht als erlaubte Übertreibungen eingeordnet. Dabei hat es erkannt, dass sie im politischen Meinungskampf und zwar insbesondere im Wahlkampf gefallen sind. Es hat aber nicht geprüft, ob sie mit Rücksicht auf den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Gesichtspunkt hinzunehmen sind, dass bei Äußerungen zu den die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Fragen eine Vermutung für die freie Rede streitet (vgl. BVerfGE 7, 198 <208, 212>; 61, 1 <11>). Von einem solchen Bezug auf die die lokale Öffentlichkeit berührenden Fragen ist im Hinblick auf die von den Windrädern ausgehenden Sicherheitsrisiken und die Zuweisung der Internetseite auszugehen. Im Übrigen ist in der Abwägung zu berücksichtigen, dass die tatsächlichen Elemente der Äußerung nach den vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen "zunächst wahr" sind. Das ist bisher nicht geschehen. Daher lässt sich der Entscheidung des Amtsgerichts nicht entnehmen, mit welchen Argumenten die Abwägung zu Lasten des Beschwerdeführers ausgeht, wenn von der Anwendung der Rechtsfigur der Schmähkritik abgesehen wird (vgl. BVerfGE 94, 1 <8>; 99, 185 <197>). Es ist dem Bundesverfassungsgericht verwehrt, eine solche Abwägung anstelle des Amtsgerichts vorzunehmen.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
4. Die Festsetzung des Gegenstandswerts erfolgt auf der Grundlage von § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
BVerfG:
Beschluss v. 29.07.2003
Az: 1 BvR 2145/02
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