Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 5. März 2003
Aktenzeichen: 1 BvR 752/02
(BVerfG: Beschluss v. 05.03.2003, Az.: 1 BvR 752/02)
Tenor
1. Das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 8. März 2002 - 10 UF 65/01 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit über die Höhe der Unterhaltsansprüche für die Zeit nach dem 1. Januar 2001 entschieden worden ist. In diesem Umfang wird die Entscheidung aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Hamm zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 5.ooo € (in Worten: fünftausend Euro) festgesetzt.
Gründe
Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Höhe von Unterhaltszahlungen, zu denen er verurteilt worden ist. Er macht insbesondere eine unzumutbare Belastung durch die Annahme einer Nebenerwerbsobliegenheit neben einer vollschichtigen Berufstätigkeit geltend.
I.
1. Der 1958 geborene Beschwerdeführer und die Klägerin des Ausgangsverfahrens sind miteinander verheiratet. Seit September 2000 leben sie getrennt. Aus der Ehe sind zwei 1988 und 1990 geborene Kinder hervorgegangen, die bei der Mutter leben. Der Beschwerdeführer ist hauptberuflich als Elektriker im Untertagebergbau beschäftigt und übte bis Ende 2000 sechs Jahre lang eine Nebenbeschäftigung bei einer Reinigungsfirma aus, mit der er im Durchschnitt monatlich 378,49 DM netto verdiente. Die Nebenbeschäftigung des Beschwerdeführers wurde zum 31. Dezember 2000 wegen rückgängiger Auftragslage beendet.
Während das Amtsgericht den Beschwerdeführer für die Zeit ab 2001 zu Trennungs- und Kindesunterhaltszahlungen ohne Zurechnung fiktiver Einkünfte aus einer Nebentätigkeit verurteilte, verpflichtete ihn das Oberlandesgericht zu Trennungs- und Kindesunterhaltszahlungen ab 2001 unter Berücksichtigung möglicher Einkünfte aus einem Nebenerwerb. Zwar sei die bisherige vom Beschwerdeführer ausgeübte Nebentätigkeit vom Arbeitgeber zum Jahresende 2000 aus betrieblichen Gründen gekündigt worden. Dem Beschwerdeführer sei jedoch abzüglich seiner Fahrtkosten ein Einkommen in der bisher durch die Nebentätigkeit erzielten Höhe zuzurechnen. Er unterliege angesichts der knappen finanziellen Verhältnisse der erhöhten Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB und habe daher neben dem Haupterwerbseinkommen notfalls auch Einkünfte aus einer Nebenbeschäftigung für den Unterhalt einzusetzen. Dem Beschwerdeführer sei zuzumuten, in dem bisherigen Umfang auch nach der Kündigung weiterhin einer Nebenbeschäftigung nachzugehen. Gesundheitliche Einschränkungen von Gewicht, welche einer solchen Tätigkeit entgegen stehen könnten, seien nicht ersichtlich. Soweit sich der Beschwerdeführer auf eine Degeneration der Wirbelsäule sowie Arthropathien beider Knie berufe, könne dahin gestellt bleiben, ob diese bestrittenen Beschwerden tatsächlich vorlägen. Angesichts des Umstandes, dass sie auch der Hauptbeschäftigung nicht entgegen stünden, komme ihnen für die Nebenbeschäftigung ebenfalls keine Bedeutung zu. Mangels anders lautenden Vortrags sei ferner davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei rechtzeitigem Bemühen gleich im zeitlichen Anschluss eine neue Beschäftigung hätte finden können.
2. Mit seiner rechtzeitig eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 und Art. 20 Abs. 3 GG. Die von ihm geforderte Nebentätigkeit sei ihm im Hinblick auf seine geänderte Lebenssituation nach der Trennung, die Belastungen durch seine Haupterwerbstätigkeit und die Arbeitsmarktlage nicht zuzumuten.
3. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, der Bundesgerichtshof, eine Reihe von Verbänden und die Gegnerin des Ausgangsverfahrens haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde, soweit sie sich gegen das Urteil des Oberlandesgerichts wendet, in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang gemäß § 93 b BVerfGG zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 BVerfGG sind gegeben. Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
1. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, soweit er hierdurch ab 1. Januar 2001 zu Unterhaltszahlungen unter Berücksichtigung fiktiver Einkünfte aus einer Nebentätigkeit verpflichtet worden ist.
a) Die Auferlegung von Unterhaltsleistungen schränkt den Verpflichteten in seiner durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Handlungsfreiheit ein, die jedoch nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet ist, zu der auch das Unterhaltsrecht gehört, soweit dieses mit Art. 6 Abs. 1 GG in Einklang steht (vgl. BVerfGE 57, 361 <378>). Dabei darf die Auslegung und Anwendung verfassungsgemäßer unterhaltsrechtlicher Normen nicht zu verfassungswidrigen Ergebnissen führen (vgl. BVerfGE 80, 286 <294>). Der ausgeurteilte Unterhalt darf den Unterhaltspflichtigen nicht unverhältnismäßig belasten (vgl. BVerfGE 57, 361 <388>; 80, 286 <293> unter Hinweis auf BVerfGE 35, 202 <221>). Wird die Grenze des Zumutbaren eines Unterhaltsanspruchs überschritten, ist die Beschränkung der Dispositionsfreiheit des Verpflichteten im finanziellen Bereich als Folge der Unterhaltsansprüche des Bedürftigen nicht mehr Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung und kann vor dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG nicht bestehen (vgl. BVerfGE 57, 361 <381>).
Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Unterhaltsrecht ist § 1603 Abs. 1 BGB, nach dem nicht unterhaltspflichtig ist, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Eltern, die sich in dieser Lage befinden, sind gemäß § 1603 Abs. 2 BGB ihren minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden. Für den Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehegatten bestimmt § 1581 BGB, dass der Verpflichtete, wenn er außerstande ist, ohne Gefährdung des eigenen angemessenen Unterhalts dem Berechtigten Unterhalt zu gewähren, nur insoweit Unterhalt zu leisten braucht, als es mit Rücksicht auf die Bedürfnisse sowie die Erwerbs- und Vermögensverhältnisse der geschiedenen Ehegatten der Billigkeit entspricht (vgl. BVerfG, FamRZ 2001, S. 1686 f.). Für den Unterhaltsanspruch des getrennt lebenden Ehegatten fehlt eine § 1581 BGB entsprechende Vorschrift. Es gelten aber die gleichen Grundsätze wie beim nachehelichen Unterhalt mit der Maßgabe, dass die vor der Scheidung noch bestehende größere Verantwortung der Ehegatten füreinander zu berücksichtigen ist (vgl. BGH, FamRZ 1986, S. 556 <557>).
Grundvoraussetzung eines jeden Unterhaltsanspruchs ist die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten (vgl. Staudinger/Engler/Kaiser, BGB, Neubearbeitung 2000, § 1603 Rn. 2; Johannsen/Henrich, Eherecht, 3. Aufl., 1998, § 1581 Rn. 1; Kalthoener/Büttner/Niepmann, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 7. Aufl., 2000, Rn. 573). Das Unterhaltsrecht ermöglicht es insofern den Gerichten, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen. Die Gerichte haben im Einzelfall zu prüfen, ob der Unterhaltspflichtige in der Lage ist, den beanspruchten Unterhalt zu zahlen oder ob dieser die finanzielle Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen übersteigt. Soweit die Gerichte dabei den Umfang der Erwerbsobliegenheit eines Unterhaltspflichtigen zu beurteilen haben, hat auch dies unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu erfolgen. Eine über die tatsächliche Erwerbstätigkeit hinausgehende Obliegenheit des Unterhaltspflichtigen zur Erzielung von Einkommen, das diesem insoweit bei der Unterhaltsberechnung fiktiv zugerechnet wird, kann nur angenommen werden, wenn und soweit die Aufnahme einer weiteren oder anderen Erwerbstätigkeit dem Unterhaltspflichtigen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbar ist und ihn nicht unverhältnismäßig belastet (vgl. BVerfGE 68, 256 <267>).
b) Zwar ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, bei einem unterhaltspflichtigen Arbeitnehmer, der über die tarifliche Arbeitszeit hinaus Mehrarbeit leistet oder einer Nebentätigkeit nachgeht und deshalb über reale Mehreinnahmen verfügt, der Unterhaltsbemessung auch diese Einkünfte in der - widerlegbaren - Vermutung zugrunde zu legen, die tatsächlich ausgeübte zusätzliche Arbeit sei dem Unterhaltspflichtigen auch zumutbar (vgl. BGH, FamRZ 1982, S. 152 <153>; 1991, S. 182 <184>). Wenn einem Unterhaltsberechtigten aber fiktive Nebenverdienste angerechnet werden sollen, ist am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu prüfen, ob die zeitliche und physische Belastung durch die ausgeübte und die zusätzliche Arbeit dem Unterhaltspflichtigen unter Berücksichtigung auch der Bestimmungen, die die Rechtsordnung zum Schutz der Arbeitskraft vorgibt, abverlangt werden kann.
So ist im Arbeitszeitgesetz das Maß der zeitlichen Belastung der Arbeitskraft angegeben, über das hinaus ein Arbeitnehmer auch zur Sicherung seiner Gesundheit nicht zur Arbeit herangezogen werden soll (siehe §§ 3 und 6 ArbZG). Zusätzlich ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang es dem betreffenden Unterhaltsverpflichteten unter Abwägung seiner von ihm darzulegenden besonderen Lebens- und Arbeitssituation sowie gesundheitlichen Belastung mit der Bedarfslage des Unterhaltsberechtigten zugemutet werden kann, eine Nebentätigkeit auszuüben. Schließlich ist zu prüfen, ob es Nebentätigkeiten entsprechender Art für den Betreffenden überhaupt auf dem Arbeitsmarkt gibt und der Aufnahme einer solchen Tätigkeit wiederum keine rechtlichen Hindernisse entgegenstünden, wobei auch insoweit die Darlegungs- und Beweislast beim Unterhaltsverpflichteten liegt (vgl. BGH, FamRZ 1998, S. 357 <359>; BVerfGE 68, 256 <270>).
c) Unter Zugrundelegung dieses Maßstabes hat das Oberlandesgericht bei der angegriffenen Entscheidung das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG auf Schutz vor einer unverhältnismäßigen Belastung durch Unterhaltsleistungen verkannt. Es hat die Zumutbarkeit einer Nebenbeschäftigung zwar geprüft, ohne jedoch dabei die Belastungsgrenze, die Art. 2 Abs. 1 GG der Unterhaltsverpflichtung setzt, im zu entscheidenden Fall zu berücksichtigen.
Zwar hatte der Beschwerdeführer durch die Ausübung der Nebentätigkeit vor der Trennung ein Indiz für deren Zumutbarkeit gesetzt. Der Verlust dieser Tätigkeit hätte das Oberlandesgericht jedoch veranlassen müssen, die beim Beschwerdeführer vorliegenden und von ihm angeführten besonderen Arbeits- und Lebensumstände in seine Prüfung der Frage einzubeziehen, ob dem Beschwerdeführer eine weitere Erwerbstätigkeit neben seiner schon vollschichtigen Arbeit ab Januar 2001 zumutbar gewesen ist. Dies hat das Gericht verabsäumt. Es hat allein aus der erhöhten Unterhaltspflicht des Beschwerdeführers nach § 1603 Abs. 2 BGB auf die Zumutbarkeit einer Nebenbeschäftigung geschlossen und in den vom Beschwerdeführer vorgetragenen gesundheitlichen Einschränkungen keinen Grund gesehen, der dem entgegenstünde. Dabei hat es wesentliche Gesichtspunkte außer Acht gelassen, die im konkreten Fall bei der Zumutbarkeitsprüfung hätten Berücksichtigung finden müssen.
So ist der Beschwerdeführer nicht nur einer vollschichtigen Tätigkeit nachgegangen. Seinen Hauptberuf hat er im Untertagebau im Schichtdienst ausgeübt. Schon dadurch ist der Beschwerdeführer einer besonderen Belastung ausgesetzt gewesen, die für die Frage der Zumutbarkeit einer darüber hinausgehenden Beschäftigung von Relevanz ist. Hinzu ist der beträchtliche Anfahrtsweg des Beschwerdeführers zu seinem Arbeitsplatz gekommen, den das Oberlandesgericht zwar durch Ansatz entsprechender Fahrtkosten, nicht aber als zusätzlichen zeitlichen Belastungsfaktor für die Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt hat. Auch bei den vom Beschwerdeführer vorgetragenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen wäre zu prüfen gewesen, ob sie zwar der Ausübung seiner vollschichtigen Haupterwerbstätigkeit nicht entgegengestanden haben, aber wegen der besonderen Belastungen, die mit dieser verbunden sind, nicht dazu hätten führen können, dass die Erwartung einer zusätzlichen Nebentätigkeit als unverhältnismäßig anzusehen ist. Schließlich hat das Gericht unberücksichtigt gelassen, dass der Beschwerdeführer nach der Trennung von seiner Ehefrau nunmehr seinen Haushalt hat alleine versorgen müssen, und ihm hat Zeit verbleiben müssen, mit seinen nun von ihm getrennt lebenden Kindern weiterhin Umgang pflegen zu können (vgl. OLG Köln, FamRZ 1984, S. 1108 <1109>; OLG Düsseldorf, FamRZ 1984, S. 1092).
All diese Umstände hat das Oberlandesgericht bei seiner Prüfung übergangen und dadurch dem Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht hinreichend Rechnung getragen.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht bei einer umfassenden Abwägung der Umstände des Falles unter Beachtung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG zu einem für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gekommen wäre und das fiktive Einkommen in Höhe von 325,- DM ab Januar 2001 nicht berücksichtigt hätte.
2. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Gegenstandwerts auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
BVerfG:
Beschluss v. 05.03.2003
Az: 1 BvR 752/02
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