Bundespatentgericht:
Urteil vom 4. Oktober 2001
Aktenzeichen: 2 Ni 31/00

(BPatG: Urteil v. 04.10.2001, Az.: 2 Ni 31/00)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

III. Das Urteil ist für die Beklagte im Kostenpunkt gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 28.000,-- DM vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des deutschen Patents 36 06 770 (Streitpatent), das am 1. März 1986 angemeldet worden ist und eine gasisolierte gekapselte Mittelspannungs-Schaltanlage betrifft. Das Streitpatent umfaßt 8 Patentansprüche, von denen Patentanspruch 1 (entsprechend der Entscheidung des 19. Senats des Bundespatentgerichts vom 18. September 1996 - Az 19 W (pat) 95/94 - ) folgenden Wortlaut hat:

"Gasisolierte gekapselte Mittelspannungs-Ortsnetzschaltanlage bestehend aus mehreren Schaltfeldern in einer gemeinsamen Gasfüllung im wesentlichen mit Lasttrennschaltern, Antriebselementen, Sammelschienen und angeschlossenen Leitungen, denen Erdungsschalter zugeordnet sind, dadurch gekennzeichnet, daß zumindest alle diejenigen Erdungsschalter (5), die den einspeisenden Leitungen (6, 7, 8) zugeordnet sind, vorgespannte Kraftspeicherantriebe (10) mit einer gemeinsamen mit mindestens einem nachgiebigen Abschnitt (12) der Kapselung verbundenen Auslöseeinrichtung (11, 13, 14, 15) besitzen".

Wegen der Patentansprüche 2 bis 8 wird auf die Patentschrift 36 06 770 C3 Bezug genommen (mit der Abänderung von "den" statt "dem" (Wirkungsbereich) in Spalte 3/Zeile 16 gem. vorgenanntem Beschluß des 19. Senats).

Mit ihrer Nichtigkeitsklage macht die Klägerin geltend, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht patentfähig, da er sich für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergebe. Sie beruft sich hierzu auf folgende vorveröffentlichte Druckschriften:

(1) "Mittelspannungs-Schaltanlagen Typ MINEX-C SF 6-isoliert"

(Fa Fritz Driescher)- Anl.K3

(2) GM 75 20 784 - Anl.K5 (3) DE-OS 31 31 417 - Anl.K7 (4) GM 79 29 553 - Anl.K8 Die Klägerin beantragt, das deutsche Patent 36 06 770 für nichtig zu erklären.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie tritt den Ausführungen des Klägers in allen Punkten entgegen und hält das Streitpatent für patentfähig.

Gründe

Die Klage, mit der der in § 22 Abs.2 iVm § 21 Abs.1 Nr.1 PatG vorgesehene Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit geltend gemacht wird, ist zulässig, aber nicht begründet.

Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt sich die Lehre des angegriffenen Patentanspruchs 1 für den Fachmann, einen Elektroingenieur mit Fachhochschulausbildung und langjährigen Erfahrungen bei der Entwicklung von Mittelspannungs-Ortsnetzschaltanlagen und eingehenden Kenntnissen in der elektrischen Energietechnik, nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik unter Einsatz seiner fachlichen Fähigkeiten. Mit Patentanspruch 1 haben auch die mit angegriffenen Unteransprüche ohne weiteres Bestand (BPatGE 34, 215).

I.

Das Streitpatent betrifft eine gasisolierte gekapselte Mittelspannungs-Ortsnetzschaltanlage, die gemäß dem Oberbegriff des Patentanspruchs 1 aus mehreren Schaltfeldern in einer gemeinsamen Gasfüllung im wesentlichen mit Lasttrennschaltern, Antriebselementen, Sammelschienen und angeschlossenen Leitungen, denen Erdungsschalter zugeordnet sind, besteht.

In der Beschreibungseinleitung erläutert das Streitpatent, daß sich bei Untersuchungen über das Verhalten von SF6-Anlagen im Störlichtbogenfall herausgestellt habe, daß in den Fällen, in denen durch den Druck des Lichtbogens Druckentlastungseinrichtungen ansprechen, mit dem Austreten von Lichtbogenzersetzungsprodukten zu rechnen sei. Vor diesem Hintergrund liegt dem Streitpatent das technische Problem zugrunde, eine Schaltanlage der angegebenen Art so auszubilden, daß eventuell entstehende Zersetzungsprodukte möglichst nicht aus der Schaltanlage austreten und daß die Menge der entstehenden Zersetzungsprodukte möglichst gering bleibt (Sp 1 Z 13 bis 18).

Zur Lösung dieses Problems schlägt das Streitpatent gemäß Patentanspruch 1 vor, daß zumindest alle diejenigen Erdungsschalter, die den einspeisenden Leitungen zugeordnet sind, vorgespannte Kraftspeicherantriebe mit einer gemeinsamen mit mindestens einem nachgiebigen Abschnitt der Kapselung verbundenen Auslöseeinrichtung besitzen.

II.

1. Die offensichtlich gewerblich anwendbare gasisolierte gekapselte Mittelspannungs-Ortsnetzschaltanlage des Patentanspruchs 1 ist unbestritten neu, weil aus keiner der im Nichtigkeitsverfahren entgegengehaltenen Druckschriften eine Mittelspannungs-Ortsnetzschaltanlage mit allen in diesem Anspruch angegebenen Merkmalen bekannt ist.

a) Aus der Firmendruckschrift "Mittelspannungs-Schaltanlagen, Typ Minex¨-C SF6 - isoliert" aus dem Jahr 1984 der Fa. D... in W..., ist eine gas isolierte gekapselte Mittelspannungs-Schaltanlage bekannt, wie sie in Ortsnetzen verwendet wird. Sie besteht aus drei Schaltfeldern mit Lasttrennschaltern, Antriebselementen, Sammelschienen und angeschlossenen Leitungen, denen - mit vorspannbaren Kraftspeicherantrieben versehene - Erdungsschalter zugeordnet sind (Abb 1 und 5 re Bild i.V. m. dem Text 1.S re Sp le Abs bis 2.S Abs 3). Bei der Ausführungsform mit integriertem Sicherungsfeld (2.S li Sp le Abs) ist in weiterer Übereinstimmung mit den Merkmalen im Oberbegriff von Patentanspruch 1 vorgesehen, daß ein gemeinsames Gehäuse mit der Gasfüllung der Anlage in Verbindung steht, so daß eine allen Schaltfeldern gemeinsame Gasfüllung vorhanden ist.

Von diesem Stand der Technik unterscheidet sich die Schaltanlage des Patentanspruchs 1 durch dessen kennzeichnende Merkmale; denn Auslöseeinrichtungenfür die Erdungsschalter sind in der Firmendruckschrift weder erwähnt noch in den Abbildungen dargestellt. Auch finden sich keine Hinweise auf eine Störlichtbogenfestigkeit dieser Schaltanlage oder auf Maßnahmen, die die Entstehung oder den Austritt von Zersetzungsprodukten durch Störlichtbögen begrenzen bzw. verhindern könnten.

b) Aus dem deutschen Gebrauchsmuster 75 20 784 ist eine gekapselte elektrische Schaltzelle mit einem einzigen Schaltfeld für Schaltanlagen bekannt. Das Schaltfeld weist ein Schaltgerät 2 mit (nicht beziffertem) Antriebselement, Sammelschienen (Fig 1,2 oben) sowie einer angeschlossenen Leitung (unten re) auf, der ein Erdungsschalter mit Schwenkkontakt 5, Gegenkontakt 6 und Kraftspeicherantrieb 4 zugeordnet ist (Fig 1 und 2). Zur Auslösung des Erdungsschalters ist eine an sich feststehende, unter Druck nachgiebige Kapselungswand 1" (Fig 4, S 5 Abs 2) über eine Stange 8 und ein Kurbelgelenk 7 mit dem vorgespannten Kraftspeicherantrieb 4 verbunden; hierdurch wird die Energiezufuhr zu einem in dieser Schaltzelle auftretenden Störlichtbogen - aufgrund des Druckanstiegs in dieser Schaltzelle - unterbrochen und ein Gasaustritt nach außen verhindert.

Die Ausbildung einer Schaltanlage mit mehreren Schaltfeldern ist dort nicht angesprochen.

Somit unterscheidet sich die Mittelspannungs-Ortsnetzschaltanlage des Patentanspruchs 1 von dieser bekannten Schaltanlage dadurch, daß mehrere Schaltfelder in einer gemeinsamen Gasfüllung mit je einem Erdungsschalter vorhanden sind und zumindest diejenigen Erdungsschalter, die den einspeisenden Leitungen zugeordnet sind, eine gemeinsame Auslöseeinrichtung besitzen.

c) Aus der deutschen Offenlegungsschrift 31 31 417 sind Betätigungsvorrichtungen für Erdungsschalter oder Kurzschließer in drucklos gekapselten Schaltanlagenteilen (Zusammenfassung) von Hochspannungs- oder Mittelspannungsschalt- und -verteileranlagen mit geschotteten Räumen (S17, Abs 2) bekannt. Im Störlichtbogenfall trifft die damit einhergehende Druckwelle auf einen Drucksensor 65, der einen vorgespannten Kraftspeicherantrieb 73 eines (nicht dargestellten) Erdungsschalters (Fig. 8 und 9) ansteuert und diesen mittels eines Kraftübertragungsgliedes (71 in Fig 8) unmittelbar auslöst (vgl Anspr 1 sowie S 20 Abs 2 bis S 22 Abs 1). Dieser Drucksensor kann insbesondere aus einem Faltenbalg 45 (Fig 4) bestehen, der im Bereich der Durchtrittsöffnung der Kolbenstange 48 aus einem nachgiebigen Abschnitt der Kapselung gebildet ist und mit den die Auslöseeinrichtung bildenden Kraftübertragungsgliedern verbunden ist. Bedarfsweise können auch zwei oder mehr Drucksensoren auf ein gemeinsames Betätigungsglied wirken (Anspr 9 sowie S 10, Abs 2).

Über die Verwendung und Funktion derartiger Sensoren in einer Schaltanlage mit mehreren Schaltfeldern in einer gemeinsamen Gasfüllung sind keine Angaben gemacht.

d) In dem von der Patentinhaberin eingeführten Zeitschriftenartikel "Begrenzung der Auswirkungen von inneren Lichtbogenstörungen" von H..., N... und St..., in: etz Bd. 104 (1983) Heft 18, Seiten 975 bis 978, der das Fachwissen des zuständigen Fachmanns repräsentiert, wird ausgeführt, daß durch geeignete Maßnahmen das Auftreten innerer Lichtbögen in Schaltanlagen in der statistischen Häufigkeit erheblich verringert, aber nicht ganz ausgeschlossen werden kann (S 975 li Sp Abs 1). Hierzu werden Lichtbogenwächter in Schaltanlagen vorgeschlagen. Der innere Lichtbogen in einer Schaltanlage erlischt bei Unterbrechung seiner Energiezufuhr durch Abschalten des bzw der Leistungsschalter, über die in den gestörten Bereich eingespeist wird, oder in besonderen Fällen auch durch Zuschaltung eines Erdungskurzschließers, der die spannungsführenden Teile des gestörten Bereichs erdet. Es wird vorgeschlagen, Lichtbogenwächter mit lichterfassenden Detektoren einzusetzen, da sie die selektive Erfassung gestörter Bereiche ermöglichen. Dadurch kann nur der gestörte Bereich abgeschaltet werden, während der nicht gestörte Bereich das Schaltanlage in Betrieb bleibt. Dadurch wird die Verfügbarkeit der Schaltanlage weiter erhöht (S 977 re Sp).

e) Das im Nichtigkeitsverfahren noch genannte deutsche Gebrauchsmuster 79 29 553 liegt vom Gegenstand des Patentanspruchs 1 weit entfernt, so daß diese Druckschrift in der mündlichen Verhandlung weder von den Beteiligten noch vom Senat aufgegriffen wurde. Sie bringt auch keine neuen Gesichtspunkte, so daß auf sie nicht weiter eingegangen zu werden braucht.

2. Die gasisolierte gekapselte Mittelspannungs-Ortsnetzschaltanlage des Patentanspruchs 1 beruht auch auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Ausgehend von der aus der Firmendruckschrift "Mittelspannungs-Schaltanlagen" aaO bekannten gasisolierten gekapselten Mittelspannungs-Ortsnetzschaltanlage mit den Merkmalen des Oberbegriffs von Patentanspruch 1 stellt sich dem Fachmann das dem Streitpatent zugrundeliegende technische Problem bei der Weiterentwicklung des Standes der Technik bereits aus wirtschaftlichen Gründen in der Praxis von selbst. Denn in dem hier angesprochenen Bereich der Energietechnik ist eine hohe Verfügbarkeit der Ortsnetzschaltanlagen aufgrund des herrschenden Wettbewerbsdrucks und des Verbraucherinteresses an einer möglichst ununterbrochenen Versorgung mit Strom ein zwingend anzustrebendes Ziel, wie es auch in dem Zeitschriftenartikel "Begrenzung der Auswirkung von inneren Lichtbogenstörungen" aaO angesprochen ist.

Weder die betrachteten Druckschriften noch seine Fachkenntnisse vermögen dem Fachmann jedoch eine Anregung zu geben, bei der aus der Firmendruckschrift "Mittelspannungs-Schaltanlagen" aaO bekannten Ortsnetzschaltanlage zur Problemlösung zumindest allen denjenigen Erdungsschaltern, die den einspeisenden Leitungen zugeordnet sind, vorgespannte Kraftspeicherantriebe mit einer gemeinsamen Auslöseeinrichtung, die mit mindestens einem nachgiebigen Abschnitt der Kapselung verbunden ist, zuzuordnen.

Denn hierdurch wird die patentgemäße Ortsnetzschaltanlage im Fehlerfall vollständig abgeschaltet und nicht selektiv, wie dies in dem Zeitschriftenartikel "Begrenzung der Auswirkung von inneren Lichtbogenstörungen" aaO dem Fachmann empfohlen wird. Die aus dem deutschen Gebrauchsmuster 75 20 784 und der deutschen Offenlegungsschrift 31 31 417 bekannten Schaltanlagen weisen -wie bereits dargelegt- jeweils nur ein einziges Schaltfeld auf und können deshalb dem Fachmann keine Anregung zum patentgemäßen Vorgehen bei mehreren Schaltfeldern geben.

Es ist demnach nicht ersichtlich, warum der Fachmann diesen bekannten Stand der Technik kombinieren und auf Grund seines Fachwissens die noch fehlenden Merkmale hinzufügen sollte. Das anspruchsgemäße Vorgehen ist demnach durch den bekanntgewordenen Stand der Technik nicht nahegelegt und übersteigt übliches fachmännisches Handeln; es erfordert erfinderische Überlegungen, um von der bekannten Ortsnetzschaltanlage zu der Anlage des Patentanspruchs 1 zu gelangen. Eine gegenteilige Beurteilung, wie sie von der Klägerin vertreten wird, wenn sie meint, daß der Fachmann ausgehend von der bekannten Ortsnetzschaltanlage nach der Firmendruckschrift "Mittelspannungs-Schaltanlagen" aaO in Kenntnis der deutschen Offenlegungsschrift 31 31 417 und dem deutschen Gebrauchsmuster 75 20 784 durch einfache Überlegungen und Untersuchungen zum Patentgegenstand gelangt, würde auf einer unzulässigen rückschauenden Betrachtung in Kenntnis der Erfindung beruhen (vgl Busse, PatG, 5. Auflage, Rdnr 26 zu § 4 mit Rechtsprechungsnachweisen).

Bei dieser Sachlage kann es dahingestellt bleiben, ob der Beschluß des 19. Senats vom 18. September 1996 Widersprüche aufweist, wie die Klägerin meint.

Die ebenfalls angegriffenen und auf den rechtsbeständigen Patentanspruch 1 direkt oder indirekt rückbezogenen Unteransprüche 2 bis 8 haben in Verbindung mit Patentanspruch 1, ohne daß es hierzu weiterer Feststellungen bedurfte (BPatGE 34, 215), ebenfalls Bestand.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs 2 PatG iVm § 91 Abs 1 Satz 1 ZPO, der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs 1 PatG iVm § 709 ZPO.

Meinhardt Kalkoff Dr. Mayer Gutermuth Dr. Hartung Pr






BPatG:
Urteil v. 04.10.2001
Az: 2 Ni 31/00


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