Bundesgerichtshof:
Urteil vom 2. Mai 2002
Aktenzeichen: I ZR 45/01
(BGH: Urteil v. 02.05.2002, Az.: I ZR 45/01)
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg, 3. Zivilsenat, vom 11. Januar 2001 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage auch mit dem Hilfsantrag abgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Klägerin geht gegen die Beklagte wegen des behaupteten Nachbaus einer besonderen Faxkarte vor, die mit einem sogenannten Fax-Analyser-System ausgerüstet ist und dem "Abhören" und Überwachen von Faxsendungen dient.
Die Rechtsvorgängerin der Klägerin brachte 1992 ein solches von ihren Mitarbeitern entwickeltes, unter MS-DOS laufendes System unter der Bezeichnung "PK 1115" auf den Markt. Seit 1994 vertrieb die Beklagte die dem gleichen Zweck dienende Faxkarte "TCM 2001", die auf dem Betriebssystem "Windows 3.11" basiert. Beide Faxkarten verwenden einen Rockwell-Modembaustein. Auf seiten der Beklagten war bei der Entwicklung der Faxkarte ein früherer Mitarbeiter der Klägerin beteiligt.
Die Klägerin hat behauptet und im einzelnen dargelegt, daß die Beklagte für ihre Faxkarte sowohl die Hardwarekonfiguration als auch Teile der Software des Systems der Klägerin übernommen habe. Was die Software angehe, seien die Datenstrukturen beim Verzeichnis der Faxeingänge (Journal) ebenso identisch wie die Darstellung der Daten auf dem Bildschirm. Die beiden Ausführungsdateien "WSR.EXE" und "TCMWATCH.EXE" - die erste aus dem Produkt der Klägerin, die zweite aus dem der Beklagten - wiesen erhebliche Übereinstimmungen auf; viele Programmblöcke - 13 davon mit einer Größe von mehr als 100 Byte - seien gleich lang bzw. gleich groß. Die in beiden Programmen verwendeten Dateien mit der Bezeichnung "EQUALIZE.IN" seien identisch. Die in dieser Datei enthaltenen Werte, die durch Aufnahme verschiedener Faxsendungen im Labor der Klägerin empirisch ermittelt worden seien, seien nicht reproduzierbar.
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, die Übernahme der Hardwarekonfiguration sowie die Übernahme eines Teils der Software stelle eine Urheberrechtsverletzung dar und sei im übrigen unter dem Gesichtspunkt des ergänzenden Leistungsschutzes auch wettbewerbswidrig. Sie hat die Beklagte mit einer Stufenklage auf Auskunft, Rechnungslegung und Zahlung von Schadensersatz in Anspruch genommen und zunächst den auf Erteilung einer Auskunft gerichteten Antrag gestellt.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat den Umfang der behaupteten Übereinstimmungen bestritten und behauptet, Übereinstimmungen gebe es lediglich bei den verwendeten Modulbausteinen, die entsprechend der Logik und den Herstellerbeschreibungen in üblicher Weise miteinander verknüpft seien. Ansonsten unterschieden sich die Faxkarten wesentlich voneinander.
Das Landgericht hat die Klage nach einer Beweisaufnahme über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Faxkarten in vollem Umfang abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin ihre Klage durch einen Hilfsantrag erweitert, mit dem sie beantragt hat, die Beklagte zu verurteilen, den Quellcode der Programme bzw. Programmteile für das streitige System TCM 2001 offenzulegen, soweit eine Übereinstimmung der Dateilänge bereits festgestellt worden ist.
Das Berufungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen und die Klage auch mit dem Hilfsantrag abgewiesen (OLG Hamburg GRUR-RR 2001, 289 = ZUM 2001, 519 = CR 2001, 434).
Der Senat hat die Revision der Klägerin nur hinsichtlich des Hilfsantrags angenommen. Die Klägerin verfolgt dementsprechend diesen Hilfsantrag mit ihrer Revision weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision auch hinsichtlich des angenommenen Teils zurückzuweisen.
Gründe
I. Das Berufungsgericht hat hinsichtlich der Hardware einen Urheberrechtsschutz ausgeschlossen, weil es sich bei der Zusammenstellung, dem Aufbau und der Dimensionierung der Bauteile der Faxkarte nicht um ein Werk im Sinne des § 2 UrhG handele. Dagegen sei die Software einem Urheberrechtsschutz zugänglich. Die Klägerin habe jedoch nicht zu beweisen vermocht, daß die im Produkt der Beklagten enthaltene Software auf urheberrechtlich geschützten Teilen des Programms der Klägerin beruhe. Der Sachverständige habe lediglich feststellen können, daß Datensatzlänge und Aufbau der Monitor-Software der Beklagten mit denen der Klägerin übereinstimmten. Daß er keine konkreteren Feststellungen zur Teilidentität der Programme getroffen habe, rüge die Klägerin ohne Erfolg. Es sei an ihr, die Identität von Programmteilen der Software beider Parteien und die Schutzfähigkeit der übernommenen Programmteile konkret darzulegen. Es sei nicht Aufgabe der Beweisaufnahme, von der Klägerin angestellte Vermutungen zu verifizieren und auf diese Weise eine Ausforschung zu ermöglichen. Auf Übereinstimmungen der Benutzeroberfläche komme es nicht an, weil die Benutzeroberfläche als solche am urheberrechtlichen Softwareschutz nicht partizipiere. Die in beiden Programmen vorhandene Datei "EQUALIZE.IN" enthalte im wesentlichen bloße Ja/Nein-Schaltungen; eine urheberrechtlich relevante, den Bereich des Banalen überschreitende Leistung sei dem nicht zu entnehmen.
Ein wettbewerbsrechtlicher Anspruch scheide u.a. deshalb aus, weil keine vermeidbare Herkunftstäuschung vorliege.
Was den hilfsweise geltend gemachten Antrag auf Offenlegung des Quellcodes der Beklagten angehe, komme allenfalls ein Besichtigungsanspruch nach § 809 BGB in Betracht, der grundsätzlich auch bei der Geltendmachung urheberrechtlicher Ansprüche Anwendung finde. Zwar setze der Besichtigungsanspruch lediglich einen gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung voraus, gewähre aber allenfalls eine Möglichkeit, die Sache selbst, also hier die Faxkarte mit Software in Augenschein zu nehmen, die die Klägerin schon kenne. Selbst wenn man den Besichtigungsanspruch auf den dahinterstehenden Quellcode ausdehnen würde, seien strenge Anforderungen an die Darlegung einer möglichen Rechtsverletzung zu stellen. Die festgestellten Übereinstimmungen reichten hierfür nicht aus.
II. Die Angriffe der Revision haben in dem Umfang Erfolg, in dem der Senat die Revision angenommen hat, also insoweit, als die Klage auch mit dem auf Offenlegung des Quellcodes gerichteten Hilfsantrag abgewiesen worden ist. Sie führen zur Aufhebung und Zurückverweisung.
1. Die Klägerin hat die Bedingung, unter der der Hilfsantrag zum Zuge kommen soll, nicht ausdrücklich genannt. Den Umständen ist jedoch zu entnehmen, daß sie diesen Antrag für den Fall gestellt hat, daß sie mit dem Hauptantrag nicht durchdringt. Das erscheint zwar insofern nicht selbstverständlich, als die Klägerin mit dem Hilfsantrag das Ziel verfolgt, eine Rechtsverletzung der Beklagten darzutun, und dieses Ziel sinnvollerweise der Verletzungsklage nicht nach-, sondern vorgeschaltet sein sollte. Indessen kommt eine andere Bedingung, unter der über den Hilfsantrag entschieden werden sollte, im Streitfall nicht in Betracht. Insbesondere kann nicht angenommen werden, der Hilfsantrag solle - noch vor Entscheidung über den Hauptantrag - unter der Bedingung zum Zuge kommen, daß das Gericht die Rechtsverletzung nicht als erwiesen erachtet. Denn ein solches Vorgehen widerspräche dem Grundsatz, daß über den Hilfsantrag nicht entschieden werden darf, bevor der Hauptantrag nicht abgewiesen oder sonst erledigt ist (BGH, Urt. v. 20.1.1989 - V ZR 137/87, NJW-RR 1989, 650; G. Lüke in MünchKomm.ZPO, 2. Aufl., § 300 Rdn. 4, § 308 Rdn. 15; Zöller/Greger, ZPO, 23. Aufl., § 301 Rdn. 8).
2. Der Hilfsantrag ist auch im übrigen zulässig.
a) Mit Recht hat das Berufungsgericht für den Hilfsantrag als mögliche Anspruchsgrundlage § 809 BGB herangezogen. Das dort geregelte Besichtigungsrecht setzt ein Interesse des Anspruchstellers voraus, sich Gewißheit darüber zu verschaffen, ob in Ansehung der zu besichtigenden Sache ein Anspruch besteht. Ist dieser (Haupt-)Anspruch nicht mehr durchsetzbar, entfällt mangels eines Interesses auch der Besichtigungsanspruch (vgl. Palandt/Sprau, BGB, 61. Aufl., § 809 Rdn. 6; vgl. ferner BGH, Urt. v. 3.10.1984 - IVa ZR 56/83, NJW 1985, 384, 385 zu § 2314 BGB). Da sich daher bei der Geltendmachung eines Anspruchs aus § 809 BGB das Rechtsschutzbedürfnis mit einem Tatbestandsmerkmal deckt, ist dieses Interesse allein im Rahmen der Begründetheit des Anspruchs zu prüfen (dazu unten unter II.3.b).
b) Der Hilfsantrag ist auch hinreichend bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Zwar läßt sich der bestimmte Inhalt nicht dem Wortlaut des Antrags entnehmen, der auf Offenlegung der Programme oder Programmteile gerichtet ist, "soweit eine Übereinstimmung der Dateilänge bereits festgestellt worden ist". Zur Auslegung des Antrags kann indessen das Klagevorbringen herangezogen werden, aus dem sich im Streitfall mit hinreichender Klarheit ergibt, auf welche Programme und Programmteile der Antrag Bezug nimmt. Sie können dem von der Klägerin vorgelegten Gutachten H. entnommen werden, das in zwei Anlagen ("Identische Blökke in den Programmen 'WSR.Exe' und 'TCMWatch.Exe'" und "Identische Blöcke in den Programmen 'WSRPM.Exe' und 'TCMWatch.Exe'") 402 als "identisch festgestellte" Programmblöcke benennt. Auf diese Listen, in denen 402 einzelne Programmblöcke mit näheren Angaben dazu aufgeführt sind, wo sie sich innerhalb der beiden Programme befinden, kann zur Konkretisierung des nach seinem Wortlaut unbestimmten Antrags zurückgegriffen werden.
3. Nach den getroffenen Feststellungen kann der Besichtigungsanspruch nach § 809 BGB im Streitfall nicht verneint werden.
a) Der Anspruch nach § 809 BGB steht grundsätzlich auch dem Urheber oder dem aus Urheberrecht Berechtigten zu, wenn er sich vergewissern möchte, ob eine bestimmte Sache unter Verletzung - beispielsweise durch Vervielfältigung - des geschützten Werks hergestellt worden ist (vgl. RGZ 69, 401, 405 f. - Nietzsche-Briefe). Auch derjenige, dessen Leistung wettbewerbsrechtlich gegen Nachahmung geschützt ist, kann sich auf diesen Anspruch berufen. Insoweit gilt nichts anderes als für den Patentinhaber, für den der Bundesgerichtshof die Anwendbarkeit des § 809 BGB bejaht hat (BGHZ 93, 191, 198 ff. - Druckbalken, m.w.N. auch zum Urheberrecht; Schricker/Wild, Urheberrecht, 2. Aufl., § 97 UrhG Rdn. 90a m.w.N.).
b) Die Klägerin hat ein Interesse daran, den Quellcode des Programms der Beklagten untersuchen zu können, auch wenn der auf Zahlung von Schadensersatz gerichtete Hauptantrag bereits rechtskräftig abgewiesen worden ist. Denn neben einem Schadensersatzanspruch kommt im Streitfall auch ein Unterlassungsanspruch in Betracht. Das Bestehen oder Nichtbestehen dieses Anspruchs wird nicht dadurch präjudiziert, daß die Schadensersatzklage mangels Erweislichkeit der Verletzung rechtskräftig abgewiesen worden ist (vgl. RGZ 49, 33, 36; 160, 163, 165 f.; RG GRUR 1938, 778, 781; BGHZ 42, 340, 353 f. - Gliedermaßstäbe; Köhler in Köhler/Piper, UWG, 2. Aufl., vor § 13 Rdn. 359; Ahrens in Pastor/Ahrens, Der Wettbewerbsprozeß, 4. Aufl., Kap. 40 Rdn. 127 ff., 145 ff.; Musielak in Musielak, ZPO, 3. Aufl., § 322 Rdn. 27; Teplitzky, Wettbewerbsrechtliche Ansprüche, 7. Aufl., Kap. 51 Rdn. 50 m.w.N.; zur Gegenansicht tendierend dagegen Teplitzky, GRUR 1998, 320, 323 f. und nunmehr ders., Wettbewerbsrechtliche Ansprüche und Verfahren, 8. Aufl., Kap. 30 Rdn. 2; a.A. Zeuner, Die objektiven Grenzen der Rechtskraft im Rahmen rechtlicher Sinnzusammenhänge [1959], S. 59 ff.; ders., JuS 1966, 147, 149 f.; Jacobs in Großkomm.UWG, vor § 13 Rdn. D 435; Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 22. Aufl., Einl. Rdn. 484).
Auch wenn in der Regel für die Begründung des Unterlassungsanspruchs auf eine in der Vergangenheit liegende Verletzungshandlung zurückgegriffen wird, betreffen doch beide Ansprüche unterschiedliche Handlungen: Der Schadensersatzanspruch stützt sich allein auf die geschehene Verletzungshandlung, während es beim Unterlassungsanspruch allein um in der Zukunft liegende Verletzungshandlungen geht. Gegen eine Erstreckung der Rechtskraft des einen auf Elemente des anderen Anspruchs spricht auch, daß die verschiedenen Rechtsschutzziele auf seiten des Beklagten ein unterschiedliches Prozeßverhalten nahelegen können: Während ihm an der Verneinung des einen Anspruchs wenig gelegen sein mag, kann er - worauf treffend Henckel hinweist (Prozeßrecht und materielles Recht, 1970, S. 175) - an der Verteidigung gegenüber dem anderen Anspruch in hohem Maße interessiert sein.
c) Das Berufungsgericht hat angenommen, der Besichtigungsanspruch aus § 809 BGB betreffe nur die Sache selbst, hier also die Faxkarte mit ihrer Software, die die Klägerin schon kenne, nicht dagegen den hinter der Software stehenden Quellcode. Dem kann nicht beigetreten werden.
§ 809 BGB setzt voraus, daß die Klägerin sich Gewißheit verschaffen möchte, ob ihr ein Anspruch in Ansehung der zu besichtigenden Sache zusteht. Mit dieser Formulierung bringt das Gesetz zum Ausdruck, daß der Besichtigungsanspruch nicht nur dann besteht, wenn sich der Anspruch des Gläubigers auf die Sache selbst erstreckt, sondern auch dann, wenn das Bestehen des Anspruchs in irgendeiner Weise von der Existenz oder Beschaffenheit der Sache abhängt (vgl. BGHZ 93, 191, 198 - Druckbalken; Staudinger/Marburger, BGB [1997], § 809 Rdn. 5; Hüffer in MünchKomm.BGB, 3. Aufl., § 809 Rdn. 4; Bork, NJW 1997, 1665, 1668). Diese Voraussetzung ist im Streitfall gegeben. Denn im Falle einer urheberrechtsverletzenden Vervielfältigung oder einer wettbewerbswidrigen Übernahme ist der Quellcode das erste Vervielfältigungsstück, von dem sodann nach Übertragung des Programms in den Maschinencode weitere Kopien erstellt werden. Für die Annahme des Berufungsgerichts, der Besichtigungsanspruch könne sich nicht auf den Quellcode beziehen, gibt es daher keine Grundlage.
d) Ferner hat das Berufungsgericht unter Hinweis auf die zum Patentrecht ergangene Druckbalken-Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 93, 191) darauf abgestellt, daß an die Darlegung einer möglichen Rechtsverletzung strenge Anforderungen zu stellen sind. Im Streitfall reichten die Umstände nicht aus, um von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung auszugehen. Auch in diesem Punkt hat das Berufungsgericht zu strenge Anforderungen an das Vorliegen des Besichtigungsanspruchs gestellt.
aa) Bereits dem Wortlaut des Gesetzes ist zu entnehmen, daß der Anspruch aus § 809 BGB gerade auch demjenigen zusteht, der sich mit Hilfe der Besichtigung erst Gewißheit über das Vorliegen eines Anspruchs verschaffen möchte. Der Besichtigungsanspruch besteht also - "durch Billigkeitsrücksichten geboten" (Mot. II 891) - gerade auch in Fällen, in denen ungewiß ist, ob überhaupt eine Rechtsverletzung vorliegt (RGZ 69, 401, 405 f. - Nietzsche-Briefe; BGHZ 93, 191, 203 f.
- Druckbalken). Dem kann nicht entgegengehalten werden, eine solche Regelung verstoße gegen das zivilprozessuale Verbot des Ausforschungsbeweises und lasse damit den Grundsatz außer acht, wonach niemand verpflichtet sei, "seinem Gegner die Waffen in die Hand zu geben" (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 60. Aufl., Einf. § 284 Rdn. 29; BGH, Urt. v. 26.6.1958 - II ZR 66/57, NJW 1958, 1491, 1492; Urt. v. 11.6.1990 - II ZR 159/89, NJW 1990, 3151). Denn dieser ohnehin durch prozessuale Darlegungspflichten eingeschränkte Grundsatz besagt nichts darüber, daß und in welchem Umfang das materielle Recht Auskunfts- und andere Hilfsansprüche kennt, die dem Gläubiger die Geltendmachung weiterer Ansprüche erst ermöglichen sollen (vgl. BGH NJW 1990, 3151).
Für die Durchsetzung der Immaterialgüterrechte sieht im übrigen Art. 43 des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS-Übereinkommen) ausdrücklich vor, daß das Gericht dem Gegner einer in Beweisnot befindlichen Partei die Beibringung von Beweismitteln auferlegen kann, die sich in seinem Besitz befinden. Hierfür müssen nach Art. 50 des TRIPS-Übereinkommens auch einstweilige Maßnahmen vorgesehen werden (vgl. Dreier, GRUR Int. 1996, 205, 211 f.). Zwar sind die Vorschriften des dritten Teils des Übereinkommens, der die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums betrifft (Art. 41 bis 61), nicht ohne weiteres unmittelbar anwendbar (vgl. Denkschrift, BT-Drucks. 12/7655 (neu), S. 347); der Gesetzgeber ging jedoch bei der Ratifizierung des Übereinkommens davon aus, daß das deutsche Recht mit den neuen Anforderungen voll in Einklang stehe (Denkschrift aaO). Die fraglichen Bestimmungen sind deswegen in einer Weise auszulegen, daß mit ihrer Hilfe den Anforderungen des TRIPS-Übereinkommens Genüge getan wird. Hierzu zählt auch der Besichtigungsanspruch des § 809 BGB, der als ein die Rechtsdurchsetzung vorbereitender Anspruch im deutschen Recht Funktionen zu erfüllen hat, die in anderen Rechtsordnungen durch entsprechende prozessuale Rechtsinstitute erfüllt werden (vgl. Dreier, GRUR Int. 1996, 205, 217; Schäfers, GRUR Int. 1996, 763, 776; Fritze, GRUR Int. 1997, 143, 147 f.; U. Krieger, GRUR Int. 1997, 421, 426; Bork, NJW 1997, 1665; Mes, GRUR 2000, 934, 940; König, Mitt. 2002, 153, 155 ff.).
bb) Andererseits können derartige Hilfsansprüche nicht wahllos gegenüber Dritten geltend gemacht werden, die eine Sache im Besitz haben, hinsichtlich deren nur eine entfernte Möglichkeit einer Rechtsverletzung besteht. Vielmehr muß - insofern gilt nichts anderes als bei anderen Hilfsansprüchen (vgl. BGH, Urt. v. 29.6.2000 - I ZR 29/98, GRUR 2000, 907, 911 = WRP 2000, 1258 - Filialleiterfehler) - auch bei § 809 BGB bereits ein gewisser Grad an Wahrscheinlichkeit vorliegen (BGHZ 93, 191, 205 - Druckbalken; Staudinger/Marburger aaO § 809 Rdn. 6; Bork, NJW 1997, 1665, 1668).
cc) Im Hinblick auf ein besonderes Geheimhaltungsinteresse bei technischen Vorrichtungen kann der Besichtigungsanspruch in Patentverletzungsfällen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs von einem erheblichen Grad an Wahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung abhängen (BGHZ 93, 191, 207 - Druckbalken). Diese Anforderungen können - ungeachtet der Frage, ob an ihnen festzuhalten ist - auf Fälle der Verletzung anderer Schutzrechte nicht ohne weiteres übertragen werden.
Die Vorschrift des § 809 BGB beruht auf einer Interessenabwägung (BGHZ 93, 191, 211 - Druckbalken). Sie möchte einerseits dem Gläubiger ein Mittel an die Hand geben, um den Beweis der Rechtsverletzung auch in den Fällen führen zu können, in denen auf andere Weise ein solcher Beweis nur schwer oder gar nicht erbracht werden könnte, in denen also die Vorlage "zur Verwirklichung des Anspruches mehr oder weniger unentbehrlich ist" (Mot. II 891). Andererseits soll vermieden werden, daß der Besichtigungsanspruch zu einer Ausspähung insbesondere auch solcher Informationen mißbraucht wird, die der Verpflichtete aus schutzwürdigen Gründen geheimhalten möchte, und der Gläubiger sich über sein berechtigtes Anliegen hinaus wertvolle Kenntnisse verschafft (BGHZ 93, 191, 206
- Druckbalken; vgl. auch Mot. II 890). Im Hinblick auf diese widerstreitenden Interessen kann nicht durchweg ein erheblicher Grad an Wahrscheinlichkeit verlangt werden. Denn der Grad der Wahrscheinlichkeit der Schutzrechtsverletzung stellt nur einen im Rahmen der Gesamtwürdigung zu berücksichtigenden Punkt dar. Daneben ist vor allem darauf abzustellen, ob für den Gläubiger noch andere zumutbare Möglichkeiten bestehen, die Rechtsverletzung zu beweisen. Weiter ist zu berücksichtigen, ob bei Gewährung des Besichtigungsrechts notwendig berechtigte Geheimhaltungsinteressen des Schuldners beeinträchtigt werden oder ob diese Beeinträchtigungen durch die Einschaltung eines zur Verschwiegenheit verpflichteten Dritten weitgehend ausgeräumt werden können (vgl. dazu Leppin, GRUR 1984, 552, 560 f.; Stürner, JZ 1985, 453, 456; Stürner/Stadler, JZ 1985, 1101, 1104; Brandi-Dohrn, CR 1987, 835, 837 f.; Kröger/Bausch, GRUR 1997, 321, 324; Bork, NJW 1997, 1665, 1669 f.; Benkard/Rogge, Patentgesetz, 9. Aufl., § 139 Rdn. 117; Keukenschrijver in Busse, PatG, 5. Aufl., § 140b Rdn. 80; Staudinger/Marburger aaO § 809 Rdn. 8). Generell ist dafür Sorge zu tragen, daß die aus der Besichtigung gewonnenen Erkenntnisse nur zu dem vorgesehenen Zweck eingesetzt werden (vgl. RGZ 69, 401, 406 - Nietzsche-Briefe).
Ist der Gläubiger aber auf die Besichtigung angewiesen, um eine unterstellte Verletzung nachweisen zu können, und stehen besondere (Geheimhaltungs-)Interessen - sei es generell oder sei es wegen der Einschaltung eines Dritten - der Besichtigung nicht entgegen, kann nicht generell ein erheblicher Grad der Wahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung verlangt werden. Dabei kann im Streitfall offenbleiben, ob eine solche auf eine Interessenabwägung im Einzelfall abstellende Betrachtungsweise auch für Fälle einer zu beweisenden Patentverletzung angezeigt wäre.
dd) Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe läßt sich nach den im Streitfall bi sher getroffenen Feststellungen der Besichtigungsanspruch nicht verneinen. Die Klägerin ist auf den Quellcode angewiesen, um sich Kenntnis darüber zu verschaffen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die ihr zustehenden Rechte verletzt worden sind. Denn lediglich anhand des Quellcodes sind Übereinstimmungen einzelner Programmteile zuverlässig zu ermitteln. Stehen einer Besichtigung durch die Klägerin oder ihre Mitarbeiter berechtigte Geheimhaltungsinteressen entgegen, kann - wie es die Klägerin bei Stellung des Hilfsantrags bereits angeboten hat - sachverständige Hilfe in Anspruch genommen werden. Unter diesen Umständen kann kein erheblicher Grad an Wahrscheinlichkeit der Rechtsverletzung verlangt werden. Vielmehr reicht der aufgrund der zahlreichen Übereinstimmungen begründete Verdacht einer Verletzung verbunden mit der Möglichkeit, daß das Programm der Klägerin über den früher bei ihr und inzwischen bei der Beklagten beschäftigten Mitarbeiter zur Beklagten gelangt ist, aus, um eine im vorliegenden Fall ausreichende Wahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung zu begründen. Ist eine Wahrscheinlichkeit begründet, erstreckt sich der Besichtigungsanspruch auf das gesamte Programm; er ist nicht auf die Programmteile beschränkt, hinsichtlich deren von vornherein Übereinstimmungen feststanden.
e) Für das Patentrecht hat der Bundesgerichtshof den Besichtigungsanspruch nicht zuletzt wegen des besonderen Geheimhaltungsinteresses darüber hinaus dadurch begrenzt, daß dem Besichtigenden generell Substanzeingriffe wie der Ein- und Ausbau von Teilen sowie eine Inbetriebnahme, unter Umständen auch eine Außerbetriebsetzung versagt sind (BGHZ 93, 191, 209 - Druckbalken).
Diese generelle Beschränkung des Besichtigungsanspruchs ist im Schrifttum fast einhellig kritisiert worden (Stürner/Stadler, JZ 1985, 1101, 1102 f.; Stauder, GRUR 1985, 518 f.; Meyer-Dulheuer, GRUR Int. 1987, 14, 16; Marshall in Festschrift für Preu, 1988, S. 151, 159 f.; Götting, GRUR Int. 1988, 729, 739; Kröger/Bausch, GRUR 1997, 321, 323; König, Mitt. 2002, 153, 162 f.). Ob sie - wie Rogge (Benkard/Rogge aaO § 139 Rdn. 117) und Keukenschrijver (Busse aaO § 140b Rdn. 79) andeuten - auch für Patentverletzungsfälle überdacht werden sollte, bedarf im Streitfall keiner Entscheidung. Denn jedenfalls ist für den hier in Rede stehenden Bereich des Urheber- und des Wettbewerbsrechts eine entsprechende Begrenzung des Besichtigungsanspruchs nicht angezeigt. Wie bereits dargelegt, bezieht sich dieser Anspruch auf die Sache, hinsichtlich deren der mögliche Anspruch besteht. Dabei ist zunächst einmal ohne Bedeutung, ob diese Sache mit anderen Gegenständen verbunden ist und zur Besichtigung erst ausgebaut werden muß. Ebensowenig spielt es zunächst eine Rolle, ob es - um über eine mögliche Rechtsverletzung Gewißheit zu erlangen - angezeigt ist, die zu besichtigende Sache auseinanderzunehmen oder - etwa durch Entnahme einer Probe - näher zu untersuchen. Vielmehr sind die Befugnisse des Gläubigers oder des zur Verschwiegenheit verpflichteten Dritten im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung in der Weise zu begrenzen, daß durch einen derartigen Eingriff das Integritätsinteresse des Schuldners nicht unzumutbar beeinträchtigt werden darf: Die realistische Gefahr einer Beschädigung seiner Sache wird der Schuldner nicht ohne weiteres hinnehmen müssen. Andererseits wird eine solche ernsthafte Gefahr in vielen Fällen nicht bestehen. Auch ist zu berücksichtigen, daß der Gläubiger - sollte die Sache beschädigt werden - Ersatz leisten muß und daß Vorlage und Besichtigung von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden können (§ 811 Abs. 2 BGB).
Im Streitfall sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, daß der in Rede stehende Quellcode durch Vorlage und Besichtigung in irgendeiner Weise beeinträchtigt werden könnte.
4. Eine Anrufung des Großen Senats für Zivilsachen nach § 132 Abs. 2 GVG ist nicht geboten. Denn die in der Druckbalken-Entscheidung aufgestellten Grundsätze betreffen den Fall der Patentverletzung, während im Streitfall eine Urheberrechtsverletzung und ein möglicher Wettbewerbsverstoß in Rede stehen. Allerdings ist einzuräumen, daß die zwischen den Schutzrechten bestehenden Unterschiede keine unterschiedlichen Anforderungen an die Voraussetzungen des Besichtigungsanspruchs nahelegen. Der X. Zivilsenat hat jedoch auf Anfrage mitgeteilt, daß er auch im Hinblick auf eine mögliche Verallgemeinerung der hier aufgestellten Grundsätze eine Anrufung des Großen Senats nicht für notwendig hält.
III. Die Abweisung der Klage mit dem Hilfsantrag kann danach keinen Bestand haben. Das angefochtene Urteil ist insoweit aufzuheben.
Die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, dem auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens zu übertragen ist. Denn dem Senat ist eine abschließende Entscheidung über den Hilfsantrag verwehrt. Wie sich aus dem oben Gesagten ergibt, kann die Klägerin nicht ohne weiteres beanspruchen, daß die fraglichen Programme oder Programmteile zu ihrer Kenntnis offengelegt werden. Vielmehr ist auf ein mögliches Geheimhaltungsinteresse der Beklagten Rücksicht zu nehmen, das im Zweifel dazu führen wird, daß die Offenlegung lediglich gegenüber einem zur Verschwiegenheit verpflichteten sachkundigen Dritten erfolgt, der sodann darüber Auskunft geben kann, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die offengelegten Programmteile mit den entsprechenden Teilen des Programms der Klägerin übereinstimmen. Von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig hatte das Berufungsgericht bislang keine Veranlassung, diese Frage mit den Parteien zu erörtern. Dies wird nachzuholen sein.
Dabei wird es sich empfehlen, daß die Klägerin ihren Antrag in der Weise konkretisiert, daß sich bereits aus seinem Wortlaut ein bestimmter Inhalt ergibt. Die Beklagte wird im übrigen Gelegenheit haben, Näheres zu einem möglichen Geheimhaltungsinteresse darzulegen.
BGH:
Urteil v. 02.05.2002
Az: I ZR 45/01
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