Verwaltungsgericht Berlin:
Urteil vom 16. Dezember 2015
Aktenzeichen: 27 K 257.14

(VG Berlin: Urteil v. 16.12.2015, Az.: 27 K 257.14)

§ 5 Abs. 2 S. 3 GO-KJM ist mit § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV nicht vereinbar. Für die Feststellung der Stimmengleichheit im Sinne von § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV dürfen abwesende Mitglieder nicht als Ablehnungen gezählt werden.

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 5. Juni 2014 (Az. 103/2013) wird aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin ist Inhaberin einer ihr von der Beklagten erteilten medienrechtlichen Zulassung zur Veranstaltung des Fernsehvollprogramms €ProSieben€. Sie wendet sich gegen die Beanstandung der Ausstrahlung einer Folge der Show €Circus HalliGalli€ (im Folgenden: Sendung) im Abendprogramm und die Festlegung einer Sendezeit zwischen 23.00 Uhr und 6:00 Uhr für die Ausstrahlung.

Die von J... und K... moderierte Sendung wird in der Regel einmal wöchentlich zwischen 22.00 Uhr und 23:00 Uhr im Programm von ProSieben ausgestrahlt. In der Sendung werden unter anderem Künstler interviewt sowie Solokünstler und Bands mit ihrer Musik präsentiert.

Nachdem die Sendung am 14. Oktober 2013 zwischen 17:15 Uhr und 18:15 Uhr vor Publikum aufgenommen und im Anschluss daran fertig produziert worden war, strahlte sie die Klägerin um 22:10 Uhr im Abendprogramm von ProSieben aus (sogenannte Live-on-tape-Sendung). Zur Sendung erhielt die Beklagte zwei Zuschauerbeschwerden, die damit begründet wurden, die Moderatoren und der Studiogast Schauspieler M... hätten ein Trinkspiel durchgeführt und dadurch den Alkoholkonsum gegenüber Jugendlichen verharmlost.

Die Beklagte legte daraufhin der Prüfgruppe der Kommission für Jugendmedienschutz (im Folgenden: KJM) einen Sendungsmitschnitt nebst einer von ihr erstellten Vorlage mit der Bitte um Prüfung der Sendung vor. Die fünfköpfige Prüfgruppe der KJM empfahl nach ihrer Prüfung einstimmig, die Sendung als Verstoß gegen § 5 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 Jugendmedienschutzstaatsvertrag (im Folgenden: JMStV) festzustellen. Diese Empfehlung teilte die Beklagte der Klägerin mit und gab ihr Gelegenheit zur Stellungnahme. Nach Eingang der Stellungnahme fertigte die Beklagte eine Vorlage für die KJM, in der sie empfahl, die Sendung vor der endgültigen Entscheidung über einen möglichen Verstoß gegen den JMStV zunächst der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen e.V. (im Folgenden: FSF) als anerkannter Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle im Sinne des JMStV, der die Klägerin angeschlossen ist, zur Bewertung vorzulegen.

Auf ihrer Sitzung am 19. Februar 2014, an der zehn abstimmungsberechtigte Mitglieder teilnahmen, fasste die KJM folgenden Beschluss:

Die KJM stellt fest, dass die ProSiebenSat.1 TV Deutschland GmbH mit der Ausstrahlung der Sendung €Circus HalliGalli€ am 14.10.2013, 22:10 Uhr im Programm ProSieben gegen § 5 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 JMStV verstoßen hat.

Die Ausstrahlung dieser Sendung ist zu beanstanden.

Für die Ausstrahlung der Sendung €Circus HalliGalli€ wird eine Sendezeitbeschränkung für den Zeitraum zwischen 23:00 und 6:00 Uhr ausgesprochen.

Für die Erstellung des Beanstandungsbescheids wird die Erhebung einer Verwaltungsgebühr in Höhe von 500,- € erhoben.

Abstimmungsergebnis: 61:4:0

Gegen die Anbieterin wird gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 5 Abs. 1 JMStV ein Bußgeld in Höhe von 3.000,- € verhängt.

Abstimmungsergebnis: 8:1:1

1Nach § 5 GVO-KJM entscheidet bei Stimmengleichheit die Stimme des Vorsitzenden. Mit der Zustimmung des Vorsitzenden wird der Beschlussvorschlag mehrheitlich angenommen.

Auf der Grundlage dieses Beschlusses beanstandete die Beklagte mit Bescheid vom 5. Juni 2014 die Ausstrahlung der Sendung, legte eine Sendezeit zwischen 23:00 Uhr und 6:00 Uhr fest und erhob eine Bearbeitungsgebühr in Höhe von 500 €. Sie begründete den Bescheid im Wesentlichen damit, dass die KJM zur Beschlussfassung berechtigt und insbesondere nicht verpflichtet gewesen sei, mit der Sendung zunächst die FSF zu befassen. Eine solche Befassungspflicht bestünde nur für nichtvorlagefähige Sendungen. Bei der streitgegenständlichen Sendung handele es sich dagegen um eine vorlagefähige Sendung, da sie nicht live ausgestrahlt, sondern circa vier Stunden vor Ausstrahlung aufgenommen worden sei. Ein selbst auferlegter Zeitdruck bei der Produktion und Ausstrahlung begründe keine Nichtvorlagefähigkeit. Überdies folge eine Nichtvorlagefähigkeit auch nicht aus einem Aktualitätsbezug der Sendung, denn diese befasse sich nur am Rande mit aktuellem Geschehen. Zur Begründung ihres Bescheides trägt die Beklagte weiter vor, die KJM habe sich die Bewertung der Sendung durch die KJM-Prüfgruppe zu eigen gemacht. Die Prüfgruppe habe festgestellt, dass durch die Sendung eine Entwicklungsbeeinträchtigung im Hinblick auf eine sozialethische Desorientierung befürchtet werden müsse, was insbesondere auch gefährdungsgeneigte Jugendliche betreffe, die animiert werden könnten, sich vermehrt oder zumindest mit weniger Hemmungen dem verstärkten Alkoholkonsum hinzugeben. Die Klägerin sei der Vorgabe von § 5 Abs. 1 JMStV mit der Ausstrahlung der Sendung vor 23:00 Uhr nicht nachgekommen.

Gegen den Bescheid wendet sich die Klägerin mit ihrer am 17. Juni 2014 beim Verwaltungsgericht Berlin eingegangenen Klage. Zur Begründung trägt sie vor, der Bescheid sei sowohl formell als auch materiell rechtswidrig. Im Einzelnen führt sie Folgendes aus:

Es habe ein Verfahrenshindernis vorgelegen. Die KJM sei verpflichtet gewesen, die Sendung vor Erlass des angefochtenen Bescheides der FSF vorzulegen, da es sich um eine nichtvorlagefähige Sendung gehandelt habe. €Live on tape€-Sendungen wie die vorliegende seien nichtvorlagefähig.

Die Zusammensetzung der KJM sei verfassungswidrig, sie verletze das Gebot der Staatsferne. Die vom Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum ZDF-Fernsehrat aufgestellten Grundsätze zur Staatsferne seien auf die KJM zu übertragen. Da schon die Landesmedienanstalten staatsfern zu organisieren seien, müsse dies auch für die KJM gelten, da diese zumindest mittelbar Einfluss auf die Programmgestaltung nehme.

Die Entscheidung der KJM und in der Folge der Bescheid seien auch deshalb rechtswidrig, weil die KJM-Mitglieder in ihrer Sitzung am 19. Februar 2014 die Sendung nicht bzw. nicht vollständig gesehen hätten. Es erscheine schon zweifelhaft, ob alle abstimmenden Mitglieder einen vollständigen Sendemitschnitt erhalten hätten.

Die KJM habe überdies bei ihrer Entscheidung die Anforderungen an eine Gremien-entscheidung nicht beachtet. Insbesondere ergebe sich aus dem Sitzungsprotokoll nicht, dass die Mitglieder über die angebliche Entwicklungsbeeinträchtigung diskutiert hätten, dies sei indes erforderlich gewesen, um höchstrichterlichen Anforderungen an eine Gremienentscheidung gerecht zu werden.

Für den Beschluss der KJM habe die erforderliche Mehrheit gefehlt. § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV verlange eine Mehrheit von sieben Mitgliedern, es hätten jedoch nur sechs Mitglieder für eine Beanstandung der Sendung gestimmt. Die Stimme des Vorsitzenden der KJM könne keine Rolle spielen, denn zum einen sei nicht nachgewiesen, dass er für die Beanstandung gestimmt habe, zum anderen zähle seine Stimme nur bei Stimmengleichheit mehr, Stimmengleichheit habe bei einem Abstimmungsergebnis von 6:4:0 nicht vorgelegen. Die durch § 5 Abs. 2 S. 3 der Geschäfts- und Verfahrensordnung der Kommission für Jugendmedienschutz (im Folgenden: GVO-KJM) konstruierte Stimmengleichheit widerspräche Sinn und Zweck von § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV und es fehle der GVO-KJM als internes Verwaltungsrecht an einer Außenwirkung, sie sei insoweit gesetzeswidrig.

Ferner sei die KJM ihrer Begründungspflicht nach § 17 Abs. 1 S. 3, 4 JMStV nicht nachgekommen. Sie sei verpflichtet, eine eigene Begründung abzugeben, eine Bezugnahme auf die Begründung der KJM-Prüfgruppe sei unzulässig. Selbst wenn eine Bezugnahme zulässig wäre, sei die vorliegende nicht hinreichend eindeutig und konkret genug, da nicht erkennbar sei, ob die Bezugnahme ausschließlich die rechtliche Begründung der Empfehlung oder auch die Darstellung des Sachverhaltes umfasse. Die Begründung sei auch unzureichend, da das Protokoll der KJM-Sitzung nicht die Einlassung der Klägerin in ihren wesentlichen Zügen enthalte, insbesondere fehle die Darstellung der Zweifel der Klägerin hinsichtlich des Prüfungsmaßstabes.

Letztlich sei der Bescheid auch materiell rechtswidrig, da kein Verstoß gegen § 5 Abs. 1, Abs. 3, 4 JMStV vorliege. Die Sendung sei nicht geeignet, Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in ihrer Entwicklung zu beeinträchtigen. Die Bewertung der KJM sei zwar eine sachverständige Äußerung, dieser fehle aber die Plausibilität.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 5. Juni 2014 (Az. 103/2013) aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, die Sendung sei vorlagefähig, denn sie sei nicht live, sondern werde nur unter live-ähnlichen Bedingungen aufgezeichnet; es sei allein der Sender, der sich bei der Produktion Zeitdruck auferlege und dies könne nicht der Grund dafür sein, eine Sendung als nichtvorlagefähig einzustufen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Ausgestaltung der ZDF-Aufsichtsgremien sei nicht übertragbar, weil Fernsehrat und Verwaltungsrat intern beaufsichtigend tätig seien und so stetig Einfluss auf die Programmgestaltung ausübten; dagegen sei die KJM ein externes Aufsichtsgremium, das nur punktuell und nachträglich auf Rechtsverstöße reagieren könne und daher keinen dauerhaften Einfluss auf die Programmgestaltung nehme.

Hinsichtlich des klägerischen Vorbringens der fehlenden Sichtung der Unterlagen, trägt die Beklagte vor, allen KJM-Mitgliedern seien rechtzeitig vollständige Sendungsmitschnitte übersandt worden und die in der Sitzung am 19. Februar 2014 anwesenden KJM-Mitglieder hätten diese vor der Sitzung gesichtet.

Die KJM habe mit der erforderlichen Mehrheit abgestimmt; § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV enthalte keine Regelung zur Bestimmung der Stimmengleichheit bei Stimmenthaltungen und Abwesenheiten, daher könne die GVO-KJM nicht gegen diese Vorschrift verstoßen; das Abstimmungsverfahren könne in einer Geschäftsordnung geregelt werden.

Hinsichtlich des klägerischen Vorbringens zur fehlenden bzw. unvollständigen Begründung des KJM-Beschlusses trägt die Beklagte vor, die Bezugnahme auf die Entscheidung der KJM-Prüfgruppe sei eindeutig und zweifelsfrei, sie erstrecke sich auf die Begründung der Prüfgruppe zur Frage, ob von der Sendung entwicklungsbeeinträchtigende Wirkungen ausgehen.

Schließlich sei der Bescheid auch in materieller Hinsicht nicht zu beanstanden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, dem Gericht bei der Entscheidungsfindung vorgelegen haben und deren Inhalt berücksichtigt worden ist.

Gründe

I. Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet.

1. Die Anfechtungsklage ist zulässig, sie ist insbesondere innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheides und damit fristgemäß nach § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO erhoben worden. Der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bedurfte es nach § 68 Abs. 1 S. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (im Folgenden: VwGO) i.V.m. §§ 7 Abs. 3 Halbs. 1, 2 Nr. 7 Staatsvertrag über die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Brandenburg im Bereich der Medien (im Folgenden: MStV) nicht.

2. Die Anfechtungsklage ist auch begründet. Die Verwaltungsakte in dem angefochtenen Bescheid vom 5. Juni 2014 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

a. Der angefochtene Bescheid genügt in formeller Hinsicht nicht den Anforderungen des JMStV. Es liegt ein Verfahrensfehler vor, der zur Aufhebung des Bescheides führt.

Rechtsgrundlage der angegriffenen medienaufsichtlichen Maßnahmen ist § 20 Abs. 1 und 2 JMStV i.V.m. § 58 MStV. Stellt die zuständige Landesmedienanstalt fest, dass ein Anbieter (vgl. dazu § 3 Abs. 2 Nr. 2 JMStV) gegen die Bestimmungen des JMStV verstoßen hat, trifft sie die erforderlichen Maßnahmen gegenüber dem Anbieter (§ 20 Abs. 1 JMStV). Für Veranstalter von € privatem (vgl. dazu die amtliche Überschrift des fünften Abschnitts des JMStV [€Vollzug für Anbieter mit Ausnahme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks€], in dem § 20 JMStV sich findet) € Rundfunk trifft gemäß § 20 Abs. 2 JMStV die zuständige Landesmedienanstalt durch die KJM (§ 14 Abs. 2 S. 1 JMStV) entsprechend den landesrechtlichen Regelungen die jeweilige Entscheidung. Die landesrechtliche Regelung, entsprechend der die Entscheidung im vorliegenden Fall zu treffen gewesen ist, ist § 58 Abs. 1 MStV. Diese Vorschrift bestimmt, dass die Medienanstalt den Verstoß eines Veranstalters gegen die rechtlichen Bindungen nach diesem Staatsvertrag oder einer auf der Grundlage dieses Staatsvertrages ergangenen Entscheidung beanstandet, wenn sie einen solchen feststellt, und den Veranstalter unter Hinweis auf die möglichen Folgen einer Nichtbeachtung der Anordnung auffordert, den Verstoß zu beheben und künftig zu unterlassen. Zuständig ist nach § 20 Abs. 6 S. 1 JMStV die Landesmedienanstalt des Landes, in dem die Zulassung des Rundfunkveranstalters erteilt wurde. Dies ist hier die Beklagte, die Medienanstalt Berlin-Brandenburg, von der der Klägerin die Sendeerlaubnis erteilt wurde. Stellt die Beklagte als nach dem JMStV zuständige Landesmedienanstalt € wie im vorliegenden Fall geschehen € fest, dass ein Veranstalter von privatem Rundfunk € wie hier die Klägerin, die Rundfunk in Form von Fernsehen veranstaltet € gegen die Bestimmungen des JMStV verstoßen hat, so beanstandet sie nach § 20 Abs. 2 JMStV und entsprechend § 58 Abs. 1 MStV den Verstoß gegenüber dem Veranstalter und fordert den Veranstalter (unter besagtem Hinweis) auf, den Verstoß zu beheben und künftig zu unterlassen. Diese Entscheidung trifft die Beklagte nach § 20 Abs. 2 JMStV durch die KJM, die ihr als Organ bei der Erfüllung ihrer Aufgaben dient (vgl. § 14 Abs. 2 S. 2 JMStV) und als solches für das Treffen der Entscheidung funktionell zuständig ist.

Der Entscheidung, die die Beklagte durch die KJM getroffen hat, liegt ein Verfahrensfehler zu Grunde, der zur Aufhebung des Bescheides führt. Für die Entscheidung der KJM fehlt ein wirksamer Beschluss. Die für den Beschluss der KJM erforderliche Mehrheit hat bei dem Abstimmungsergebnis von 6¹:4:0 (sechs Ja-Stimmen, vier Nein-Stimmen) nicht vorgelegen.

Zwar ist dem klägerischen Einwand, es sei nicht nachgewiesen, dass sich der Vorsitzende für eine Beschlussfassung entschieden habe, nicht zu folgen. Die Stimmabgabe des Vorsitzenden ist im Beschluss durch eine Fußnote hinter dem Abstimmungsergebnis gekennzeichnet worden. Es gibt keine Anhaltspunkte für eine falsche Angabe im Beschluss, insbesondere fehlt jeglicher Hinweis auf eine Beanstandung gerade derjenigen KJM-Mitglieder, die eine Beschlussfassung abgelehnt haben und die sich aufgrund des Votums des Vorsitzenden nicht durchsetzen konnten. Eine solche Beanstandung hätte mehr als nahe gelegen, wenn der Vorsitzende nicht für eine Beschlussfassung gestimmt hätte.

Aber die Voraussetzungen von § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV liegen nicht vor. Die Vorschrift bestimmt: die KJM €fasst ihre Beschlüsse mit der Mehrheit ihrer gesetzlichen Mitglieder, bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Vorsitzenden.€ Danach liegt eine Mehrheit dann vor, wenn sieben der zwölf gesetzlichen Mitglieder einen Beschluss fassen. Etwas anderes gilt nur im Fall der Stimmengleichheit. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann § 5 Abs. 2 S. 3 GO-KJM nicht zur Anwendung gelangen, weil die Vorschrift § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV widerspricht. Nach § 5 Abs. 2 S. 3 GO-KJM werden für die Feststellung der Stimmengleichheit Enthaltungen und abwesende Mitglieder als Ablehnungen gezählt.

Die auf § 5 Abs. 2 S. 3 GO-KJM gestützte und mit Blick auf den angefochtenen Bescheid Außenwirkung entfaltende Beschlussfassung ist unter Verstoß gegen die gesetzliche Vorschrift des § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV zustande gekommen. Dieser Verstoß ist beachtlich (vgl. BGH, Urteil vom 23. April 2014 - III ZR 195/14 - juris, Rn. 14; OVG NRW, Urteil vom 27. August 1996 - 15 A 32/93 - juris, Rn. 8, 15).

Aus § 14 Abs. 5 JMStV geht zwar hervor, dass die KJM befugt ist, eine Geschäftsordnung festzulegen. Aber mit der Regelung in § 5 Abs. 2 S. 3 GO-KJM hat sie die durch § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV gezogene Grenze ihrer Regelungsbefugnis überschritten (vgl. für GO-BT BVerfG, Urteil vom 13. Juni 1989 - 2 BvE 1/88 - juris, Rn. 106 ff.).

§ 17 Abs. 1 S. 2 JMStV geht im Grundsatz von einer Gleichrangigkeit aller Stimmen der Mitglieder der KJM aus und sieht nur in einem € eigens gesetzlich geregelten € Ausnahmefall, nämlich bei Stimmengleichheit, ein herausgehobenes Gewicht der Stimme des Vorsitzenden vor, welche in diesem Fall ausschlaggebend ist und die übrigen Stimmen an Bedeutung überwiegt. Voraussetzung nach § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV für das ausnahmsweise entscheidende Stimmengewicht des Vorsitzenden ist das Vorliegen einer Stimmengleichheit. Der Begriff "Stimmengleichheit" setzt das Vorhandensein von Stimmen voraus. An einer Stimme fehlt es aber, wenn ein Mitglied nicht anwesend ist. Dafür, dass § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV nur dann zur Anwendung gelangt, wenn eine Stimmengleichheit von sechs Ja- und sechs Nein-Stimmen bei Anwesenheit aller zwölf Mitglieder vorliegt (so Harstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner/Cole, Kommentar zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, Stand: September 2014, § 17 Rn. 3; Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 3. Auflage 2015, § 35 RStV Rn. 22), spricht, dass nach der gesetzgeberischen Intention, die in der Festlegung einer Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder zum Ausdruck kommt, für eine Beschlussfassung stets sieben Ja-Stimmen erforderlich sind. Entsteht zum Beispiel eine Stimmengleichheit bei fünf zu fünf Stimmen, weil zwei Mitglieder nicht anwesend sind, kann auch mit der entscheidenden Stimme des Vorsitzenden keine Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder in Form des Quorums von sieben Stimmen erreicht werden.

Kommt es nach den gesetzlichen Vorgaben für die Feststellung der Stimmengleichheit auf die Stimmen der anwesenden Mitglieder an, überschreitet § 5 Abs. 2 S. 3 GO-KJM diesen Rahmen. Die Mitzählung abwesender Mitglieder für die Feststellung der Stimmengleichheit als Ablehnung führt zu einer Verschiebung des Stimmengewichts zugunsten des Vorsitzenden, die von der gesetzlichen Regelung in § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV nicht mehr gedeckt ist. Denn § 5 Abs. 2 S. 3 GO-KJM hat zur Konsequenz, dass bei Vorliegen von sechs Ja-Stimmen einschließlich der des Vorsitzenden immer dessen Stimme entscheidend ist und es stets zu einer Beanstandung zu Lasten des Veranstalters kommt, und zwar unabhängig davon, wie viele Mitglieder abwesend sind, solange die KJM nur nach § 5 Abs. 1 S. 1 GO-KJM mit sieben anwesenden Mitgliedern beschlussfähig ist: Bei einer Gegenstimme und fünf Abwesenden, zwei Gegenstimmen und vier Abwesenden, drei Gegenstimmen und drei Abwesenden, fünf Gegenstimmen und einem abwesenden Mitglied sowie bei der hier bei der Beschlussfassung am 19. Februar 2014 gegebenen Konstellation von vier Gegenstimmen und zwei Abwesenden wird über die Regelung in § 5 Abs. 2 S. 3 GO-KJM immer eine Stimmengleichheit fingiert. Eine solche Akkumulation der Fälle, in denen die Stimme des Vorsitzenden entscheidend ist, steht im Widerspruch zu der vom Gesetz in § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV grundsätzlich vorgesehenen Gleichrangigkeit der Stimmen und der Beschränkung des entscheidenden Stimmengewichts auf den eng eingegrenzten Ausnahmefall der Stimmengleichheit unter den anwesenden Mitgliedern. Die Bewertung der Abwesenden als Ablehnung wird zudem der Bedeutung der Entscheidungsfindung durch die KJM als eines mit zwölf Sachverständigen besetzten Kollegialorgans nicht gerecht. Denn sie übersieht, dass das Mitglied, dessen Stimme als Ablehnung fingiert wird, bei unterstellter Anwesenheit nicht nur gegen die Aufsichtsmaßnahme hätte stimmen können, sondern mit seinen sachverständigen Erwägungen auch die Meinungsbildung des gesamten Gremiums hätte beeinflussen können (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 11. November 2014 - 27 K 1801/11 - juris). Die Bewertung der abwesenden Mitglieder als Ablehnung wirkt sich auch nicht ausschließlich günstig für den Rundfunkveranstalter aus, indem es zur Ablehnung der in Rede stehenden medienrechtlichen Maßnahme kommt, sondern weist die Entscheidung hierüber letztlich allein dem Vorsitzenden der KJM zu. Stimmt dieser für die Maßnahme, kommt ein entsprechender Beschluss € wie hier zu Lasten der Klägerin € zustande und bindet die zuständige Landesmedienanstalt, welche ihn mit Außenwirkung gegenüber dem Veranstalter zu vollziehen hat.

Fehlte für den Beschluss der KJM nach den vorstehenden Ausführungen bereits die erforderliche Mehrheit, kann dahinstehen, ob die weiteren von der Klägerin geltend gemachten formellen und materiellen Mängel vorliegen.

b. Nachdem die Kammer die Beanstandung des von der Beklagten angenommenen Verstoßes der Klägerin gegen § 5 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 JMStV mit diesem Urteil aufgehoben hat, ist auch die Gebührenerhebung auf der Grundlage von § 35 Abs. 11 des Rundfunkstaatsvertrages i.V.m. §§ 1 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 2 der Satzung zur Erhebung von Kosten im Bereich des privaten Rundfunks vom 9. Oktober 2009, Abl. S. 2518 (im Folgenden: Kostensatzung) i.V.m. Nr. VI 8 des Verzeichnisses zur Kostensatzung aufzuheben. Der Gebührentatbestand ist nicht (mehr) erfüllt. Ein Verstoß gegen Bestimmungen des JMStV und/oder die Anordnung einer Maßnahme auf Grundlage des JMStV wie in Nr. VI 8 des Verzeichnisses zur Kostensatzung für die Gebührenerhebung gefordert, wurde nicht wirksam festgestellt.

II. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.

III. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. § 709 S. 2 ZPO.

IV. Die Berufung ist zuzulassen, denn die Voraussetzungen von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor. Die Vorschrift bestimmt, dass die Berufung nur zuzulassen ist, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn eine bisher weder höchstrichterlich noch obergerichtlich beantwortete und zugleich entscheidungserhebliche abstrakte Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, deren Klärung im Interesse der Rechtssicherheit oder der Rechtsfortbildung der Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (vgl. jüngst OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. November 2015 - OVG 10 N 70.13 - juris, Rn. 17).

Die Rechtsfrage, ob § 17 Abs. 1 S. 2 JMStV einer Regelung in der Geschäftsordnung der KJM entgegensteht, die wie § 5 Abs. 2 S. 3 GO-KJM bestimmt, dass abwesende und sich enthaltende Mitglieder für die Beschlussfassung als ablehnend abstimmende Mitglieder gezählt werden, ist € soweit für die Kammer ersichtlich € bisher weder höchst- noch obergerichtlich beantwortet worden. Angesichts der regelmäßig stattfindenden Abstimmungen der KJM, bei denen § 5 Abs. 2 S. 3 GO-KJM angewendet wird, ist die Klärung der Frage in einem Berufungsverfahren im Interesse der Rechtssicherheit erforderlich.

BESCHLUSS

Der Wert des Streitgegenstandes wird gemäß § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes auf

50.000,00 Euro

festgesetzt.






VG Berlin:
Urteil v. 16.12.2015
Az: 27 K 257.14


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/9c66af769b4e/VG-Berlin_Urteil_vom_16-Dezember-2015_Az_27-K-25714




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