Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen:
Urteil vom 14. September 2005
Aktenzeichen: L 8 LW 6/05

(LSG Nordrhein-Westfalen: Urteil v. 14.09.2005, Az.: L 8 LW 6/05)

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 25.02.2005 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe der erstattungsfähigen Kosten für das Widerspruchsverfahren.

Mit Schreiben vom 21.07.2003 wies die Beklagte die Klägerin darauf hin, sie werde im gemeinsamen Kataster der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger Nordrhein Westfalen seit dem 01.01.1999 mit 4,20 ha landwirtschaftlicher Fläche geführt. Deshalb bestehe grundsätzlich Versicherungspflicht zur landwirtschaftlichen Alterskasse. Eine Veranlagung habe jedoch bisher nicht festgestellt werden können. Die Klägerin werde deshalb um Rücksendung eines beigefügten Fragebogens gebeten. Sofern sie bereits zu einer landwirtschaftlichen Alterskasse veranlagt bzw. von der Versicherungspflicht befreit worden sei, möge sie das Aktenzeichen mitteilen. Sollte die Klägerin nicht binnen vier Wochen Nachricht geben, werde davon ausgegangen, dass der genannte Flächenbestand zutreffe. Es werde dann die entsprechende Veranlagung durchgeführt.

Die Klägerin meldete sich in der Folgezeit trotz einer Erinnerung vom 21.08.2003 nicht bei der Beklagten.

Mit Bescheid vom 15.09.2003 stellte die Beklagte für die am 24.03.1965 geborene Klägerin Versicherungspflicht als landwirtschaftliche Unternehmerin ab dem 01.01.1999 gem. § 84 Abs. 1 i.V.m. § 1 des Gesetzes über eine Alterssicherung der Landwirte (ALG) fest. Die Beklagte bezifferte die seit 1999 ausstehenden Beträge auf 10.273,47 EUR.

Grundlage dieser Entscheidung waren Angaben gegenüber der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft (BG) aus dem Jahre 1998. Die Klägerin hatte in einem Betriebsfragebogen am 05.08.1998 u.a. angegeben, 4,20 ha Landwirtschaft (Acker, Wiese und Weide) sowie 1,05 ha Hof- und Gebäudeflächen zu bewirtschaften, und darum gebeten, bei der landwirtschaftlichen BG (anstelle der BG für Fahrzeughaltungen) versichert zu werden. Nachdem sich das BG-Verfahren bis Anfang 2003 hingezogen hatte, ist die Klägerin von der BG für Fahrzeughaltungen rückwirkend zum 01.01.1999 in die Zuständigkeit der landwirtschaftlichen BG verwiesen worden. Diese hat sie mit Bescheid vom 09.01.2003 auf der Grundlage der Flächenangaben von 1998 veranlagt, ohne dass die aktuell bewirtschafteten Flächen nochmals erfragt worden waren.

Die Klägerin legte, zunächst unvertreten, Widerspruch ein mit der Begründung, sie sei bereits in der Vergangenheit von der Versicherungspflicht befreit worden. Unterlagen lägen ihr nicht mehr vor; diese seien vermutlich durch ihren geschiedenen Ehemann mitgenommen worden. Die Beklagte möge auch unter ihrem früheren Ehenamen (S) prüfen, ob sie noch über Belege verfüge. Später meldeten sich die Bevollmächtigten der Klägerin mit der Begründung, die Klägerin bewirtschafte keinerlei landwirtschaftlichen Betrieb. Die zugrundegelegte Flächengröße werde bestritten. Von den 4,2 ha seien 6.438 m² abzuziehen, bei denen es sich um Gebäudeflächen und einen Hausgarten handele, ferner ein nicht landwirtschaftlich genutzter Laubwald von 799 m² sowie ein Teich (Weiher) von 354 m². Es verbleibe deshalb eine landwirtschaftlich genutzte Fläche von nur 34.448 m², also unterhalb der Mindestfläche von 4 ha. Im Widerspruchsverfahren kam es auch zu einer telefonischen Erörterung zwischen der Bevollmächtigten der Klägerin und der Beklagten. Nach weiteren Ermittlungen bei der Katasterabteilung der BG nahm die Beklagte mit Bescheid vom 31.03.2004 den Bescheid vom 15.09.2003 zurück, weil die Klägerin nach Angaben der Katasterabteilung seit dem 01.01.1999 landwirtschaftliche Flächen von 3,44 ha sowie forstwirtschaftliche Flächen von 0,08 ha bewirtschafte und damit die Mindestgröße nicht erreiche.

Die durch ihre Bevollmächtigten vertretene Klägerin erklärte daraufhin den Rechtsbehelf für erledigt und überreichte folgende Kostenrechnung vom 07.04.2004:

Gegenstandswert: 11.257,00 EUR Geschäftsgebühr §§ 11, 12, 118 Abs. 1 Nr. 1 der Bundes-Rechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO) 8/10 420,80 EUR Besprechungsgebühr §§ 11, 12, 118 Abs. 1 Nr. 2 BRAGO 8/10 420,80 EUR Post- und Telekommunikationsgebühr § 26 BRAGO 20,00 EUR Dokumentenpauschale § 27 Abs. 1 BRAGO (Ablichtungen 13 Stück) 6,50 EUR Zwischensumme netto 868,10 EUR 16 % Mehrwertsteuer § 25 Abs. 2 BRAGO 138,90 EUR Zwischensumme brutto 1.007,00 EUR Auslagen für Einschreiben/Rückschein 4,10 EUR Gesamtbetrag 1.011,10 EUR

Mit Schreiben vom 19.04.2004 teilte die Beklagte der Klägerin mit, nach gefestigter Rechtsprechung und Verwaltungspraxis seien für das Widerspruchsverfahren zwei Drittel der Rahmengebühr aus § 116 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO (Zweidrittelgebühr) anzusetzen. Die dann angemessene Gebühr liege bei durchschnittlichen Verhältnissen in der Mitte des Gebührenrahmens (Mittelgebühr). Danach ergebe sich folgende Korrektur der Kostennote der Klägerin:

Mittelgebühr § 116 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO 238,00 EUR Post-/Telekommunikationsentgelte § 26 BRAGO 20,00 EUR Dokumentenpauschale § 27 BRAGO 6,50 EUR Zwischensumme 264,50 EUR 16 % Umsatzsteuer § 25 BRAGO 42,32 EUR Summe 306,82 EUR

Dieser Betrag sei überwiesen worden.

Mit Schreiben vom 22.04.2004 teilte die Klägerin mit, es handele sich vorliegend um einen Fall des § 116 Abs. 2 BRAGO, der eine Abrechnung nach § 118 BRAGO zulasse. Denn sie gehöre nicht zu dem in § 183 Sozialgerichtsgesetz (SGG) genannten Personenkreis. Es bleibe also bei der Gebührenrechnung vom 07.04.2004.

Die Beklagte fasste dies als Widerspruch auf und wies mit Widerspruchsbescheid vom 01.06.2004 (zugestellt am 04.06.2004) den Widerspruch gegen ihre Kostenentscheidung vom 19.04.2004 zurück. Zwar seien die Kosten des Widerspruchsverfahrens grundsätzlich nach § 63 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erstattungsfähig. Wenn die Klägerin jedoch auf § 116 Abs. 2 BRAGO verweise und damit meine, sie sei von der Beklagten nicht als Versicherte i.S.d. § 183 SGG, sondern als sonstige Person in Anspruch genommen worden und könne daher eine Abrechnung nach dem Gegenstandswert vornehmen, sei dies nicht nachvollziehbar. Die Klägerin sei nicht als Unternehmerin oder sonst selbständige Person, sondern gerade in ihrer Eigenschaft als Versicherte im Rahmen des ALG in Anspruch genommen worden.

Hiergegen hat die Klägerin am 05.07.2004 (= Montag) Klage erhoben mit der Begründung, ihre anwaltliche Vertretung sei nach § 116 Abs. 2 BRAGO abrechnungsfähig, weil sie von der Beklagten als landwirtschaftliche Unternehmerin in Anspruch genommen worden sei und damit nicht zum Personenkreis des § 183 SGG gehöre. Die Höhe der Gebühr sei auch angemessen, weil erhebliche finanzielle Interessen (ca. 10.000,00 EUR) betroffen gewesen seien. Hilfsweise sei jedenfalls auch eine Erhöhungsgebühr um 50 % nach § 116 Abs. 4 abzurechnen gewesen, weil eine Erledigungsgebühr nach § 24 BRAGO angefallen sei. Denn die Angelegenheit habe sich nach telefonischer Besprechung mit der Beklagten erledigt. Es hätten also besondere Bemühungen mit dem Ziel der Aufhebung des Bescheides stattgefunden. Ausreichend sei überdies, dass die Verwaltungsbehörde einen für den Betroffenen ungünstigen Standpunkt eingenommen habe und es dem Rechtsanwalt gelungen sei, diesen Standpunkt zugunsten des Betroffenen zu ändern.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.04.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.06.2004 zu verurteilen, als ausstehende Rechtsanwaltsgebühren noch den weiteren Betrag i.H.v. 704,28 EUR auf die Kostennote vom 07.04.2004 zu zahlen, hilfsweise, für den Fall einer Abrechnung nach § 116 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BRAGO die Abrechnung im Wege der Erledigungsgebühr nach § 116 Abs. 4 i.V.m. § 24 BRAGO unter Erhöhung um 50 % vorzunehmen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, die Klägerin sei gerade nicht als Unternehmerin, sondern in ihrer Eigenschaft als Versicherte im Rahmen des ALG in Anspruch genommen worden. § 183 SGG sei gerade auch dann heranzuziehen, wenn um die Versicherteneigenschaft gestritten werde. Es gehöre zum Wesen der landwirtschaftlichen Sozialversicherung mit BG, Alters-, Kranken- und Pflegekasse, dass die weitaus überwiegende Zahl der Versicherten zugleich auch landwirtschaftliche Unternehmer bzw. deren Ehegatten seien. Die Ansicht der Klägerin würde zu dem abwegigen Ergebnis führen, dass dieser gesamte eigenständige Zweig der Sozialversicherung nicht von § 183 SGG umfasst würde. Gestritten worden sei gerade nicht um die Unternehmereigenschaft als solche, sondern um die daraus resultierende, eigene Versicherteneigenschaft der Klägerin. Auch eine Gebühr nach § 116 Abs. 4 BRAGO sei nicht angefallen. Eine solche erhalte ein Rechtsanwalt nur, wenn der Streit ohne streitige Widerspruchsentscheidung oder auf sonstige Weise beigelegt werde und der Anwalt über die Widerspruchsbegründung hinaus an der Beilegung mitgewirkt habe. Bei einer wie im Falle der Klägerin dem Widerspruch stattgebenden Entscheidung erledige sich der Streit nicht auf "sonstige" und damit auf eine im Rahmen des § 24 BRAGO beachtliche Weise. Im Übrigen wären für eine Gebührenerhöhung nach § 116 Abs. 4 BRAGO auch besondere auf die Erledigung hinzielende Bemühungen des Rechtsbeistandes erforderlich, welche über eine normale Beistandstätigkeit im Prozess hinausgingen. Hierzu reiche eine schriftsätzliche Begründung des Rechtsbehelfs ebensowenig aus wie die Vorlage von Belegen und Beweisen. Eine Erledigungsgebühr nach § 24 BRAGO falle im Widerspruchsverfahren deshalb nur an, wenn die anwaltliche Tätigkeit der Mitwirkung bei Vergleichsverhandlungen im Sinne eines "Aushandelns" der Aufhebung des angefochtenen Bescheides entspreche. Im vorliegenden Fall sei die Aufhebung des Bescheides jedoch schlichte Folge der gesetzlichen Regelung gewesen im Anschluss an den Nachweis, dass die Mindestgröße nicht erreicht worden sei.

Mit Urteil vom 25.02.2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die anwaltlichen Gebühren seien nicht nach § 116 Abs. 2 BRAGO abzurechnen gewesen. Denn die Klägerin sei von der Beklagten nicht als sonstige Person i.S.d. § 116 Abs. 2 Satz 1 BRAGO, sondern als Versicherte i.S.d. § 183 SGG zur Beitragszahlung herangezogen worden. Der Begriff des Versicherten werde im SGG nicht näher definiert, sondern als klar und aus sich selbst heraus verständlich vorausgesetzt. Dies belegten auch weitere, allein diesen Begriff wiedergebende Vorschriften (so §§ 12 Abs. 2, 16 Abs. 3, 109 Abs. 1 Satz 1 SGG). Die Rechtsprechung habe die Frage, wer konkret als Versicherter i.S.d. SGG anzusehen sei, schon lange als geklärt erachtet. Versicherter sei jedenfalls, wer aufgrund einer Pflichtversicherung oder Selbstversicherung einem Zweig der Sozial- oder Arbeitslosenversicherung angehöre (BSG vom 15.10.1964 - 7 RAr 63/63, BSGE 22,42; zustimmend Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. 2002, vor § 183 Rz. 2 - 4). Gestützt werde diese Auslegung durch die kostenmäßige Privilegierung des bloß hypothetisch Versicherten nach § 183 Satz 3 SGG. Auch daraus folge, dass es zur Ermittlung der Versicherteneigenschaft auf den jeweiligen Streitgegenstand ankomme (Strassfeld, in: Berliner Kommentar zum SGG, 1. Aufl. 2003, § 193 Rz. 8, 13). Angesichts der gesetzlich formulierten Versicherungspflicht selbständiger landwirtschaftlicher Unternehmer seien diese aufgrund von Sinn und Zweck, Wortlaut und bei Beachtung der Besonderheiten der landwirtschaftlichen Alterskasse begrifflich und inhaltlich zu den versicherten Personen i.S.d. § 183 SGG zu zählen. Denn schon nach der Legaldefinition des § 1 ALG betreffe das System der gesetzlichen Alterssicherung ausdrücklich die Landwirte, die ein auf Bodenbewirtschaftung beruhendes Unternehmen der Landwirtschaft betrieben. Zwar seien die kraft Gesetzes nach dem ALG versicherten Landwirte selbständige Unternehmer. Dies schließe sie gleichwohl nicht aus dem Versichertenbegriff aus. In der allgemeinen Sozialversicherung ergebe sich der Kreis der versicherten Personen regelmäßig aus den Einleitungsvorschriften (z.B. für die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer aus § 2 Abs. 2 Viertes, § 5 Abs. 1 Nr. 1 Fünftes und § 1 Satz 1 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch). Für die Versicherungspflicht der Landwirte sei der selbständige Landwirt sogar der zentrale Begriff. Zudem verlange die Versicherungspflicht nach § 1 ALG u.a. eine Mindestgröße des Betriebes, ein für die Landwirtschaft spezifisches Gegenstück zur Geringfügigkeitsgrenze in der übrigen Sozialversicherung. Sei damit § 116 Abs. 1 BRAGO im Falle der Klägerin einschlägig, so entspreche die Gebührenabrechnung durch die Beklagte auch im Übrigen dem seinerzeit geltenden Recht. Insbesondere könne die hilfsweise geltend gemachte Erledigungsgebühr i.S.v. § 116 Abs. 4 i.V.m. § 24 BRAGO nicht anerkannt werden. Denn die Bevollmächtigte der Klägerin habe nicht an einer Erledigung der Rechtssache ohne Entscheidung i.S.d. Vorschrift mitgewirkt (vgl. BSG vom 22.02.1993 - 14 b/4 REg). Anders als beim Ausarbeiten eines Vergleichsvorschlags durch Bevollmächtigte scheide die Erledigungsgebühr nach § 24 BRAGO aus, soweit der Sozialversicherungsträger im Rahmen des Vorverfahrens gem. § 85 Abs. 1 SGG inhaltlich eine Abhilfeentscheidung erteile (LSG Berlin vom 05.04.1995 - L 9 KR 93/04). Auf den geltend gemachten Umfang der anwaltlichen Bemühungen komme es deshalb nicht mehr an.

Gegen das am 14.03.2005 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 14.04.2005 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, das Sozialgericht habe nicht beachtet, dass sie wegen Unterschreitens der Mindestbetriebsgröße gerade nicht gem. § 1 ALG versicherungspflichtig sei, wie es die Beklagte mit Bescheid vom 31.03.2004 auch festgestellt habe. Als nicht i.S.v. § 1 ALG Versicherte sei sie auch nicht Versicherte i.S.v. § 183 SGG, und die Abrechnung sei nach § 116 Abs. 2 i.V.m. § 118 BRAGO vorzunehmen. Auch § 183 Satz 3 SGG finde keine Anwendung, weil sie im Falle ihres Obsiegens in einem Klageverfahren gerade nicht zu der Personengruppe des § 183 Satz 1 SGG gehört hätte. Vielmehr sei sie allenfalls Arbeitgeberin bzw. Selbständige, die nicht zu dem nach § 183 SGG privilegierten Personenkreis gehörten. Sollte der Senat anders entscheiden, möge die Revision zugelassen werden, da entsprechende Entscheidungen des BSG zum Versichertenbegriff nicht vorhanden seien.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 25.02.2005 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 14.04.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.06.2004 zu verurteilen, als ausstehende Rechtsanwaltsgebühren noch den weiteren Betrag i.H.v. 704,28 EUR auf die Kostennote vom 07.04.2004 zu zahlen, hilfsweise, für den Fall einer Abrechnung nach § 116 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BRAGO die Abrechnung im Wege der Erledigungsgebühr nach § 116 Abs. 4 i.V.m. § 24 BRAGO unter Erhöhung um 50 % vorzunehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Gründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, aber unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid verletzt die Klägerin nicht i.S.d. § 54 Abs. 2 SGG in ihren Rechten. Sie hat allein Anspruch auf Erstattung von Kosten für das Vorverfahren unter Abrechnung nach Maßgabe des Abs. 1 des § 116 BRAGO, nicht nach dessen Abs. 2.

Für das Widerspruchsverfahren im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren bestimmt § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X, dass der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten hat, soweit der Widerspruch erfolgreich ist. Da die Beklagte dem Widerspruch der Klägerin voll abgeholfen hatte, hat sie in dem angefochtenen Bescheid zu Recht dem Grunde nach ihre Pflicht zur Erstattung der vollen Kosten der Klägerin für das Widerspruchsverfahren vorausgesetzt. Die Beteiligten streiten dementsprechend allein, nach welchem der in § 116 BRAGO vorgesehenen Abrechnungsmodi die Abrechnung vorzunehmen ist.

Nach § 116 Abs. 1 Satz 1 der für die streitige Abrechnung noch geltenden BRAGO erhält der Rechtsanwalt im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, in denen das Gerichtskostengesetz (GKG) nicht anzuwenden ist, eine im Gesetz in Form einer Rahmengebühr näher bezeichnete Gebühr, die sich nicht nach dem konkreten Streitwert bemisst. Nach § 116 Abs. 2 Satz 1 BRAGO gelten in sonstigen Verfahren vor Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit die Vorschriften des Dritten Abschnittes der BRAGO (Gebühren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und in ähnlichen Verfahren) sinngemäß, wenn der Auftraggeber nicht zu den in § 183 SGG genannten Personen gehört. Die Abrechnung nach Abs. 2 hat deshalb letztlich eine Abrechnung nach Streitwert zur Folge.

Die Klägerin möchte die Abrechnung nach § 116 Abs. 2 Satz 1 BRAGO vornehmen; in ihrem Falle würde dies erheblich höhere, von der Beklagten zu erstattende Rechtsanwaltsgebühren bedeuten. Die Beklagte hat jedoch zu Recht die Anwaltsgebühren nur in einer sich nach § 116 Abs. 1 Satz 1 BRAGO berechneten Höhe erstattet.

§ 116 Abs. 2 Satz 1 BRAGO nimmt § 183 SGG in Bezug. Nach § 183 Satz 1 SGG ist das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit u.a. für Versicherte kostenfrei, soweit sie in dieser jeweiligen Eigenschaft als Kläger (oder Beklagte) beteiligt sind. Bei dieser Inbezugnahme in § 116 Abs. 2 Satz 1 BRAGO handelt es sich um einen Verweis auf die jeweils aktuell geltende Fassung des § 183 SGG, weil die Begünstigung dieses Personenkreises hinsichtlich der Gerichtskosten auch auf die Anwaltsgebühren übertragen werden sollte (BSG, Beschluss vom 22.09.2004 - B 11 AL 33/03 R unter Hinweis auf BT-Drucks. 14/5943 S. 32 zu Art. 16). Denn die Anwaltsgebühren dürften sich nach § 116 Abs. 1 BRAGO in der Mehrzahl der Fälle (gleichwohl keineswegs immer) niedriger bemessen als nach Abs. 2 der Vorschrift.

Die Klägerin hat deshalb nur dann Anspruch auf Erstattung von nach § 116 Abs. 2 Satz 1 BRAGO berechneten Anwaltsgebühren, wenn sie nicht zu dem nach § 183 Satz 1 SGG durch Gerichtskostenfreiheit privilegierten Klägerkreis gehört. Gehört sie hingegen dazu, kommt eine Erstattung nur für nach § 116 Abs. 1 Satz 1 BRAGO berechnete Anwaltsgebühren in Betracht.

Einzig fraglich ist insoweit, ob die Klägerin in dem der Gebührenabrechnung zugrundeliegenden Verwaltungsverfahren als "Versicherte" i.S.d. § 183 Satz 1 SGG anzusehen war.

Ihre Bevollmächtigten verweisen insoweit darauf, dass sie sich mit dem Bestreiten ihrer Versicherungspflicht bei der Beklagten von Anfang an und letztlich mit Erfolg gegen ihre Heranziehung als "Versicherte" gewandt habe, mithin niemals "Versicherte" gewesen sei. Damit orientiert sich die Klägerin - allein - am materiellrechtlichen Ergebnis.

Nach Ansicht des Senats ist jedoch nicht auf das materiellsozialrechtliche Ergebnis, sondern auf den Streitgegenstand abzustellen: Wird um eine - ggf. vermeintliche - Versicherteneigenschaft gestritten, so ist der Betroffene für das gerichtliche Verfahren als "Versicherter" i.S.v. § 183 SGG anzusehen, und zwar ohne Rücksicht darauf, welcher der Beteiligten von der Versicherteneigenschaft und welcher von ihrem Nichtbestehen ausgegangen ist.

Dies ergibt sich zwar nicht, wie im sozialgerichtlichen Urteil ausgeführt ist, aus § 183 Satz 3 SGG. Nach dieser Vorschrift ist auch Versicherter, wer im Falle seines Obsiegens Versicherter wäre. Diese - am Streitgegenstand orientierte (vgl. Jansen-Straßfeld, Sozialgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 183 Rz. 13) - Vorschrift betrifft allein den Fall, dass der Sozialversicherungsträger eine vom Kläger mit der Klage erstrebte Versicherteneigenschaft verneint (a.A. Plagemann, Münchener Anwalts Handbuch - Sozialrecht, § 43 Rz. 4, mit der angesichts des eindeutigen Gesetzeswortlauts nicht tragfähigen Begründung, der Versicherungsträger setze die Eigenschaft als "Versicherter" ja gerade voraus). Vorliegend handelt es sich jedoch um den umgekehrten Fall, dass die Klägerin eine vom beklagten Sozialversicherungsträger angenommene Versicherteneigenschaft gerade nicht gelten lassen will. Diesen Fall erfasst § 183 Satz 3 SGG nach seinem insoweit keine Erweiterung zulassenden, klaren Wortlaut gerade nicht.

Allerdings ergibt sich daraus nicht etwa im Wege eines Umkehrschlusses, dass, wer im Falle seines Obsiegens im sozialgerichtlichen Prozess gerade nicht zu den "Versicherten" gehöre, auch kein "Versicherter" i.S.d. § 183 SGG sei. Denn ein solcher Schluss würde den Sinn des § 183 Satz 3 SGG verkennen, der einzig eine zu restriktive Anwendung des § 183 SGG im Falle der Ablehnung der Versicherteneigenschaft durch den Sozialversicherungsträger verhindern will. Ein zwingender Normbefehl jedoch des Inhalts, einen die vom Versicherungsträger angenommene Versicherteneigenschaft bekämpfenden Kläger aus dem Kreis der nach § 183 SGG privilegierten Personen herauszunehmen, lässt sich § 183 Satz 3 SGG nicht entnehmen.

Entscheidend ist vielmehr der Sinn und Zweck der Kostenprivilegierung im sozialgerichtlichen Verfahren allgemein. Niemand soll wegen eines zu hohen Kostenrisikos von der Durchführung eines sozialgerichtlichen Verfahrens abgehalten werden (die dahinter stehende besondere soziale Schutzbedürftigkeit der kostenprivilegierten Klägerschaft benennen auch - allerdings z.T. unter Infragestellung ihrer Berechtigung - Henning-Knittel, Sozialgerichtsgesetz, § 183 Rz. 7; HK-SGG-Groß, § 183 Rz. 1 unter Hinweis auf BT-Drucks. 14/5943 S. 28 zu Nr. 61; Jansen-Straßfeld, a.a.O. Rz. 2 unter Hinweis auf BVerfG Beschl. v. 01.07.1987 - 1 BvL 21/82, SozR 1500 § 184 SGG Nr. 4; Meyer-Ladewig/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, vor § 183 Rz. 7 und § 183 Rz. 4; Zeihe, Sozialgerichtsgesetz, § 183 Rz. 2a). Entsprechendes gilt auch für das nach §§ 78 ff. SGG zwingend vorgelagerte Widerspruchsverfahren, welches ggf. die Kostenfolge des § 63 SGB X nach sich zieht. Da ein Kläger typischerweise nicht wissen kann, wie ein sozialgerichtliches Verfahren einschließlich einer etwaigen gerichtlichen Klärung ausgeht, könnte eine Ungewissheit über die Kostenfolge hinsichtlich der Einschlägigkeit der Gerichtskostenfreiheit nach § 183 SGG (die sich bei Abstellen auf den materiellsozialrechtlichen Ausgang erst mit der bestands- bzw. rechtskräftigen Beendigung des Streites beantworten ließe) doch wieder ein unüberschaubares Kostenrisiko aufbauen, dass geeignet wäre, trotz nicht sicher zu verneinender Erfolgsaussicht von der Durchsetzung - ggf. vermeintlicher - sozialrechtlicher Positionen abzuschrecken.

Diese in § 183 SGG angenommene Schutzbedürftigkeit des privilegierten Klägerkreises schlägt nach Ansicht des Senats auch in Fällen durch, in denen der als versicherungspflichtig Herangezogene selbst seine Versicherungspflicht bestreitet und er - wie im vorliegenden Fall die Klägerin - mit diesem Bestreiten Erfolg hat (im Ergebnis so auch Plagemann, a.a.O.). Denn in einer für einen sozialrechtlichen Laien schwer zu überschauenden Materie kann der die Versicherungspflicht Bestreitende die Erfolgsaussichten seines Rechtsbehelfs kaum abschätzen; möglich bleibt, dass er den Rechtsstreit verliert, dann aber letztlich kostenmäßig nach § 183 SGG privilegiert bleiben muss. Ginge man mit Rücksicht auf das die Versicherteneigenschaft verneinende Klageziel gleichwohl zunächst und bis zur endgültigen Klärung von seiner Gerichtskostenpflichtigkeit aus (§ 197a SGG), so müsste er jedenfalls zunächst Gerichtskosten tragen; diese wären nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 GKG auch schon mit der Einreichung der Rechtsmittelschrift fällig. Dies wäre wegen der von § 183 SGG vorausgesetzten (potenziellen) Schutzbedürftigkeit eines (den Prozess ggf. verlierenden) Klägers jedoch systemwidrig, weil auch nur möglicherweise, aber bei Beginn des Prozesses zunächst einmal sicher anfallende Kosten von einer Verfolgung (vermeintlicher) sozialer Rechte abhalten könnten. Dies gilt wegen der Inbezugnahme von § 183 SGG durch § 116 Abs. 2 Satz 1 BRAGO auch im Rahmen des § 116 Abs. 2 BRAGO, obwohl die Abrechnung nach Abs. 2 der Vorschrift in der Regel für den betroffenen Rechtssuchenden ungünstiger ausfallen dürfte als die nach Abs. 1 (s.o.). Hat der Hauptantrag der Klägerin damit keinen Erfolg, so ist die Abrechnung der Beklagten auch im Übrigen nicht zu beanstanden.

Zum einen ist der Ansatz einer Zweidrittelgebühr für das Widerspruchsverfahren angemessen. Nach näherer Maßgabe des § 118 Abs. 1 BRAGO erhält der Rechtsanwalt in anderen als den im Dritten bis Elften Abschnitt geregelten Angelegenheiten fünf Zehntel bis zehn Zehntel der vollen Gebühr. Der Ansatz einer Zweidrittel-Gebühr (6,66 Zehntel) für ein (nicht im Dritten bis Elften Abschnitt der BRAGO geregeltes) Widerspruchsverfahren wird von der Klägerin auch nicht angegriffen.

Die Klägerin hat zum anderen - i.S. ihres Hilfsantrages - auch keinen Anspruch auf eine sog. Erledigungsgebühr i.S.v. § 116 Abs. 4 i.V.m. § 24 BRAGO. An der Erledigung der Rechtssache haben die Bevollmächtigten der Klägerin nicht im Sinne von § 24 BRAGO mitgewirkt. Hierzu ist erforderlich, dass der Rechtsanwalt zur Erledigung durch ein besonderes, auf Beilegung der Sache ohne streitige Widerspruchsentscheidung gerichtetes Tätigwerden nicht nur unwesentlich beigetragen hat. Allein das schriftsätzliche Begründen des Rechtsbehelfes einschließlich der Vorlage der diese Begründung stützenden Belege sowie ein Telefonat zur Sache - wie im vorliegenden Rechtsstreit - stellen kein solches Tätigwerden dar (LSG, Baden-Württemberg, Urteil v. 22.02.1994, L 13 Vs 1836/93)

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 160 Abs. 2 SGG zugelassen.






LSG Nordrhein-Westfalen:
Urteil v. 14.09.2005
Az: L 8 LW 6/05


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