Landessozialgericht der Länder Berlin und Brandenburg:
Urteil vom 15. April 2011
Aktenzeichen: L 1 KR 326/08

(LSG der Länder Berlin und Brandenburg: Urteil v. 15.04.2011, Az.: L 1 KR 326/08)

Bei einer atypischen schweren MS-Erkrankung kann im Einzelfall in Anwendung des § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V unter der gebotenen Beachtung der Art. 2 I in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und Art. 2 II 1 GG ein Anspruch auf Versorgung mit intravenösen Immunglobulinen als sogenanntem Off-Label-Use bestehen.

Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 13. Juni 2008 und der Bescheid vom 23. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2006 werden aufgehoben.

Die Beklagte hat der Klägerin 99.440,02 € zu zahlen.

Sie wird ferner verpflichtet, die Klägerin nach jeweiliger ärztlicher Verordnung mit einer Immunglobulin-Therapie zu versorgen.

Die Beklagte hat die der Klägerin bereits vorläufig erstatteten Kosten endgültig zu tragen.

Die Beklagte hat ferner die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das gesamte Verfahren zu übernehmen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten primär die Erstattung von selbst beschafften Arzneimitteln.

Sie ist 1964 geboren und gelernte Diätassistentin sowie Krankenschwester.

Während eines stationären Aufenthalts im V-Klinikum im Sommer 1995 wurde bei ihr erstmals Encephalomyelitis disseminata, also Multiple Sklerose (MS), festgestellt.

Seit 20. Oktober 1995 bezieht sie eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Ab Juli 1996 wurde sie ohne Erfolg mit Betaferon behandelt. Seit 1997 leidet sie an Blasen- und Mastdarmstörungen. Sie ist seit dem Frühjahr dieses Jahres auf den Rollstuhl angewiesen. Bis 1998 verschlechterte sich ihr Zustand deutlich: Sie war von der Hüfte abwärts gelähmt und spürte weder Stuhl- noch Harnabgang. Es bestand eine ausgeprägte Globalataxie (Rumpf- und Armbewegungen konnten nicht kontrolliert werden. Sie musste im Rollstuhl angebunden sein, um sitzen zu können. Arme und Hände mussten fixiert werden. Es bestanden Zungenschlund- und Kieferverkrampfungen. Die Klägerin konnte nichts mehr kauen und hatte Schluckbeschwerden. Sie hatte die Sprachfähigkeit verloren und konnte sich aufgrund der Ataxie nicht mitteilen. Sie schüttelte unaufhörlich den Kopf und musste in der Nacht gelagert werden. Sie konnte nur noch bis auf zirka 50 cm Entfernung Gegenstände erkennen und sah Doppelbilder.

Seit dem 22. Mai 1998 und zunächst bis Oktober 2010 wurde die Klägerin mit dem Arzneimittel Octagam behandelt, seither mit dem Medikament G-Gamunex X gleichen Wirkstoffes, reines Immunglobulin, das intravenös verabreicht wird (Intravenous immunoglobulin = €IVIG€).

Immunglobuline, körpereigene Antikörper, werden von bestimmten weißen Blutkörperchen hergestellt, den Plasmazellen. Immunglobuline werden also aus menschlichem Plasma gewonnen.

Sie sind für spezifische Erkrankungen als Arzneimittel zugelassen, nicht hingegen zur Behandlung der MS.

Die Klägerin erhielt erst 17 Monate lang monatlich Infusionen mit 10 g, seither mit zusammen 30 g. Seit Oktober 1999 zahlte die Klägerin hiervon ein Drittel (10 g) selbst, den Rest leistete die Beklagte als Sachleistung. Gemäß einer zwischen Neurologen und Vertretern der Berliner Krankenkassen getroffenen Vereinbarung (dem so genannten Eckpunktepapier) wurden IVIG-Behandlungen bei MS-Patienten akzeptiert, wenn die Einschlusskriterien einer im Jahr 1997 veröffentlichten Studie von Fazekas et. al erfüllt waren. Diese Vereinbarung wurde von den beteiligten Seiten zwar nicht unterzeichnet, jedoch in der Vergangenheit von den Prüfungsausschüssen im Sinne des Verzichts auf einen Regress akzeptiert.

In zeitlichem - und nach Auffassung der Klägerin kausalem - Zusammenhang mit der IVIG-Behandlung - kam die Krankheitsprogredienz aufgrund der Medikamenteneinnahme zum Stillstand. Ihr Zustand verbesserte sich. Sie hat von der Hüfte abwärts wieder Gefühl (Berührungen, Schmerz, warm und kalt) und kann die Beine bei Missempfindungen wegziehen. Die Globalataxie ist schwächer geworden. Sie spürt Stuhl- und Harnabgang und kann ohne Hilfsmittel im Rollstuhl sitzen und mühsam durch die Wohnung fahren. Auch die Arme können eingeschränkt benutzt werden (Kratzen, Hochstützen, Festhalten). Zungenschlund- und Kieferkrampfungen haben aufgehört. Die Klägerin kann wieder feste Nahrung kauen und sich einigermaßen verständlich machen. Beim Liegen und im Schlafen ist der Kopf ruhig. Sie leidet nur noch an leichtem Kopfschütteln im Sitzen. Die Klägerin kann sich selbst im Bett drehen. Sie kann wieder besser sehen, z. B. fernsehen, und sieht keine Doppelbilder mehr.

Mit Schreiben vom 15. März 2006 beantragte die Klägerin bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten, der Barmer Ersatzkasse, die Fortführung der Therapie mit Immunglobulinen. Beifügt waren u. a. Kopien von zwei (privatärztlichen) Verordnungen durch den behandelnden Neurologen der Klägerin H. Die Beklagte forderte die Klägerin zunächst auf, von diesem eine Stellungnahme einzureichen. Dem kam der Behandler mit Schreiben vom 02. Juni 2006 nach. Bei der Klägerin seien sämtliche anderen Behandlungsmethoden gescheitert, so dass nur die IVIG übrig geblieben sei. Nach einem Aussetzen der IVIG habe sich der Zustand spontan verschlechtert. Nach Fortsetzung der Behandlung habe sich der Zustand wieder verbessert. Er halte diese Therapieform nach wie vor für sinnhaft und verordne sie nach wie vor. Ein nicht unwesentlicher Gesichtspunkt seien dabei die Therapiekosten. Bei den von den Krankenkassen akzeptierten Präparaten läge der Apothekenabgabepreis zwischen 1.100,00 und 1.400,00 €, bei Immunglobulin zwischen 750,00 und 850,00 €.

Die Chefärztin der Neurologischen Abteilung des J Krankenhauses Berlin Prof. Dr. H bestätigte in ihrer Stellungnahme vom 05. April 2006, die Klägerin wegen einer in Schüben progredienten MS zu betreuen. Bereits 1997 habe sich ein schweres funktionelles Defizit unter Betaferon entwickelt. Eine Therapieeskalation habe die Klägerin abgelehnt im Rahmen einer bekannten schizophrenen Psychose. Daraufhin sei die Therapie mit Octagam eingeleitet worden. Unter dieser Therapie sei es in den letzten neun Jahren zu keinem weiteren Krankheitsschub gekommen. Der Zustand habe sich vielmehr seitdem langsam aber stetig verbessert.

Die Beklagte forderte eine ärztliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) an. Die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S nahm für den MDK unter dem 10. Juli 2006 Stellung.

Sie gelangte zu dem Ergebnis, dass auch nach dem Eckpunktpapier der Nachweis einer Wirksamkeit für die bei der Klägerin vorliegende Indikation einer sekundär-chronisch progredienten MS gänzlich fehle. Bei der Langzeitbehandlung mit IV-Immunglobulinen werde von seltenen, im Einzelfall aber potentiell schwerwiegenden kardiovaskulären und cerebrovaskulären Risiken - insbesondere Thrombosen - berichtet, so dass die Langzeittherapie mit einem erheblichen neurologischen Defizit für das Auftreten schwerwiegender Komplikationen besonders risikobehaftet sei. Soweit Prof. Dr. H aufgrund der Krankheitsschwere offenbar die Notwendigkeit einer immunmodulatorisch/immunsuppressiven MS-Therapie gesehen habe, sei es aus ethischer Sicht unverständlich, dass dabei nicht hierzu zugelassene und in ihrer Wirksamkeit und Sicherheit geprüfte Arzneimittel zum Einsatz gekommen seien. Es sei aus fachlicher Sicht wenig plausibel, dass die Klägerin aufgrund einer mitgeteilten schizophrenen Psychose eine gebotene zugelassene Therapie einerseits abgelehnt und andererseits die Gabe von IV-Immunglobulinen akzeptiert habe.

Die Beklagte teilte daraufhin der Klägerin mit Schreiben vom 31. Juli 2006 mit, die Immunglobulin-Therapie nicht mehr übernehmen zu können. Die Behandlung der MS entspreche nicht den Zulassungsindikationen von Immunglobulinen. Die Voraussetzungen, die das Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 19. März 2002 zum so genannten Off-Label-Use aufgestellt habe, seien nicht erfüllt. Zwar handele es sich um eine lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung. Der Behandler H habe auch bestätigt, dass in den Jahren zuvor sämtliche Behandlungsmethoden zur Anwendung gekommen und letztlich gescheitert wären. Es gebe aber - wie es erforderlich wäre - keine aufgrund der Datenlage begründete Aussicht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg zu erzielen sei.

Auf Bitte der Klägerin lehnte sie ferner mit Bescheid vom 04. September 2006 unter Bezugnahme auf das Erläuterungsschreiben der Sache nach Leistungen ab.

Den Widerspruch hiergegen wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 10. November 2006 zurück unter der ausdrücklichen Feststellung, dass ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für Immunglobuline nicht bestehe. Zur Begründung hat sie ergänzend ausgeführt, der Vertragsarzt könne nach § 31 Abs. 1 Satz 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) Arzneimittel, die aufgrund von Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen seien, ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung verordnen. Die Entscheidung treffe also der behandelnde Arzt, nicht die Krankenkasse.

Am 26. November 2006 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Berlin (SG) erhoben.

Die Beklagte hat eine weitere gutachterliche Stellungnahme des MDK veranlasst. Frau Dr. S gelangt in ihrer gutachterlichen Stellungnahme vom 27. Dezember 2006 zu der Auffassung, dass die Klägerin gesichert an einer MS mit sekundär-chronisch-progredientem Verlauf leide. Es handele sich nicht um eine seltene Verlaufsform dieser Erkrankung. Die vom Behandler H dokumentierte Stabilisierung sei nicht nachweislich auf die Gabe von Immunglobulinen zurückzuführen. Ganz allgemein träten im Verlaufe einer MS längere Phasen der Stabilisierung ein. Insbesondere nehme die Krankheitsaktivität gewöhnlich in späteren Krankheitsphasen ab. Auch dokumentierten die vorgelegten Unterlagen keinesfalls eine kontinuierliche Verbesserung seit Einleitung der Behandlung mit IVIG. In dem bereits weit fortgeschrittenen Krankheitsstadium habe eine symptomatische Behandlung den Vorrang. Die Behandlung mit Octagam begründe keine mehr als ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Eine solche Annahme sei spekulativ.

Mit Beschluss vom 28. Oktober 2006 hat das SG die Beklagte im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Klägerin nach ärztlicher Verordnung die ambulante Gabe von Immunglobulin (Octagam) für den Monat Oktober 2006 zu gewähren (Az.: S 86 KR 2866/06 ER).

Mit Gerichtsbescheid vom 13. Juni 2008 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es u. a. auf das Urteil des BSG vom 28. 02. 2008 (B 1 KR 15/07 R) verwiesen. Das BSG habe bei einer MS in sekundär-progredienter Verlaufsform trotz der unbestreitbaren Schwere dieser Krankheit das Erfordernis einer lebensbedrohlichen Krankheit im Sinne des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 06. Dezember 2005 (1 BvR 347/98) verneint.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin vom 23. Juli 2008.

Der Senat hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Der behandelnde Neurologe hat im Befundbericht vom 27. Januar 2009 ausgeführt, der Verlauf der MS sei eher untypisch. Es sei ein sehr schneller €Einstieg€ in die Chronifizierung erfolgt.

Mit Beweisanordnung vom 06. Mai 2009 hat der Senat ferner den Chefarzt der neurologischen Abteilung des Krankenhauses H Dr. K B mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Dieser untersuchte die Klägerin am 05. September 2009 und gelangte in seinem Gutachten vom 26. Januar 2010 zur Diagnose einer schubförmigen MS mit kumulativem Defektsyndrom, einer schizoiden Persönlichkeitsstörung, einer Kyphoskoliose (Seitverbiegung der Wirbelsäule) und anamnestisch rezidivierende Pyelonephritiden (Nierenbeckenentzündungen). Es liege diagnostisch eine gesicherte MS vor, die eine lebensbedrohliche Erkrankung sei.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei die Stabilisierung des Krankheitsverlaufes seit mindestens acht Jahren auf die Gabe der Immunglobuline zurückzuführen. Ein Absetzen des Octagam sei in Kenntnis des Verlaufes und des Letalitätsrisikos ärztlich nicht vertretbar. Die MS-Therapie-Konsensusgruppe erarbeite regelmäßig die Leitlinien der Diagnostik und Behandlung der MS. In dem Stufenschema dieser Gruppe seien Immunglobuline Reservepräparate im Sinne von Zweite-Linie-Medikamente. Behandlungsalternativen bestünden im Falle der Klägerin nicht.

Die Beklagte - nunmehr BARMER GEK - hat das Gutachten dem MDK vorgelegt. Dr. S nahm im Gutachten nach Aktenlage vom 15. März 2010 Stellung. Sie bleibe bei der Einschätzung, dass es sich bei der MS-Erkrankung der Klägerin nicht um eine (akut) lebensbedrohliche Erkrankung handele. Es drohe auch nicht akut der Verlust einer herausgehobenen Körperfunktion oder eines Sinnesorganes. Die vergleichbare Situation im Sinne des drohenden Verlustes einer herausgehobenen Körperfunktion oder eines Sinnesorganes sei angesichts der persistierenden relevanten Einschränkung alltagsrelevanter neurologischer Funktionen als Folge der in der Vergangenheit erlittenen Phase hoher Krankheitsaktivität nicht nachvollziehbar.

Darüber hinaus müsste es sich bei den Immunglobulinen um Arzneimittel handeln, die nach dem aktuellen Stand der Datenlage geeignet seien, einen fulminant verlaufenden Krankheitsschub entweder zu unterbrechen bzw. zu mildern oder infolge eines Krankheitsschubes eintretende Schädigungen zur Rückbildung zu bringen. Solche Wirkungen lägen nach der Datenlage nicht vor. Nach der Dauer der Erkrankung und dem Grad der Behinderung träten die symptomatische Behandlung zur Linderung krankheitsassoziierter Beeinträchtigungen und zur Vermeidung und ggf. Behandlung relevanter MS-assoziierter Komplikationen in den Vordergrund. Demgegenüber verliere die Anwendung der immunmodulatorischen/immunsupressiven Therapien bei Abnahme der Krankheitsaktivität und Stabilisierung auf einem Niveau bereits ausgeprägter krankheitsbedingter Behinderungen zunehmend an Bedeutung. Alleine aus der Feststellung der Minderung der Lebenserwartung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung könne die Annahme einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung nicht abgeleitet werden. Keinesfalls seien die in der Literatur berichteten Ergebnisse aus den bisher durchgeführten epidemiologischen Studien zu den natürlichen Verläufen in Bezug auf die Akkumulation von Behinderungen und die Krankheitsprogression einerseits sowie zu den Einflüssen der Schubfrequenz auf das Langzeit-Outcome andererseits homogen.

Ein Aussetzen der Anwendung mit Immunglobulinen wäre bzw. sei - auch unter der Annahme eines abweichenden MS-Verlaufstypes - spätestens ab dem Jahr 2006 und aktuell vertretbar bzw. vertretbar gewesen. Für den hypothetischen Fall, dass tatsächlich erneut Krankheitsschübe auftreten sollten, stünden zur Schubbehandlung Kortison bzw. bei steroidresistenten schweren Schüben auch eine Plasmaaustausch-Behandlung (Plasmapherese) zur Verfügung.

Als Behandlungsalternative käme Beta-Interferon in Frage. Die Nebenwirkungen (grippeähnliche Reaktionen und das Auftreten von Depressionen) seien beherrschbar. Ex ante betrachtet sei ferner der Einsatz von Azathioprin möglich gewesen.

Die Klägerin hat ergänzende Stellungnahmen eingereicht. Prof. Dr. H führt in ihrer €Stellungnahme zum Einsatz von Immunglobulinen 7S im stationären Bereich bei schubförmiger Multipler Sklerose€ aus, dass Immunglobuline von ihr im Sinne einer Ausnahmeindikation keineswegs unkritisch eingesetzt würden. Es seien im Jahr 2009 lediglich bei drei von mehr als 1000 stationären Fällen mit MS die Indikationen für den Beginn einer IVIG-Behandlung gestellt worden.

Die Klägerin erhält seit November 2010 statt Octagam das Immunglobulin Gamunex in gleicher Menge und im gleichen Zeitabstand verordnet, weil das Paul-Ehrlich-Institut am 15. September 2010 das Ruhen der deutschen Zulassung für Octagam befristet bis zum 31. März 2011 angeordnet hat.

In seiner ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme vom 3. Dezember 2010 hat der Gutachter Dr. B seine Einschätzung bekräftigt, dass bei der Klägerin eine schubförmige MS mit ausgeprägtem kumulativem Defektsyndrom ohne Progredienz - und keine sekundär-progrediente - vorliege. Er bleibe auch dabei, dass die Lebenserwartung von MS-Patienten nach mehreren Publikationen um sieben bis 14 Jahre im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung reduziert sei. Dass eine Patientin mit einem Behinderungsgrad wie der Klägerin über einen langen Zeitraum stabil bleibe und dann noch als sekundär-progrediente Verlaufsform eingeschätzt werde, sei ungewöhnlich. Auch die Sachverständige Dr. S bestätige, dass eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung vorliege. Nach einer so langen stabilen Krankheitsphase unter intravenösen Immunglobulinen könne das Absetzen dieser Therapie gleichbedeutend mit dem Verlust verbliebener, herausgehobener Körperfunktionen bzw. Sinnesorgane sein bzw. zum Tode führen. Dass im Falle tatsächlich erneuter Krankheitsschübe nach Absetzen der Immunglobulin-Therapie zur Schubtherapie Kortison bzw. eine Plasmaaustausch-Behandlung zur Verfügung stünde, sei zwar eine therapeutische Möglichkeit, aber keineswegs die Garantie einer Besserung. Maßnahmen der qualifizierten Pflege und der Linderung MS-bedingter Symptome (so genannte symptomatische Therapie) kämen keine vorrangige Bedeutung zu und könnten keineswegs das Bemühen ersetzen, das Fortschreiten der Erkrankung im Sinne von Entmarkung und Axonenuntergang durch eine kausal orientierte Therapie aufzuhalten. Wie die Behandlungsversuche zwischen 1996 und 1998 gezeigt hätten, sei ein erneuter Versuch mit Beta-Interferonen (Betaferon/Extavia, Rebif 22 bzw. 44, Avonex) keine Therapiealternative.

Der MDK durch Frau Dr. S hat letztmals im sozialmedizinisches Gutachten vom 02. Februar 2011 Stellung genommen. Intravenöse Immunglobuline seien nach wie vor nicht für MS zugelassen.

Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 30. März 2011 eine aktuelle Aufstellung der von ihr verauslagten Kosten sowie in der mündlichen Verhandlung die dazugehörigen Belege (Verordnungen und Quittungen) eingereicht, auf die ergänzend verwiesen wird. Sie hat den Anspruch in der mündlichen Verhandlung auf Erstattung der Rechnungen ab April 2006 beschränkt und trägt vor, es gehe ihr um die Anwendung intravenöser Immunglobuline und nicht um ein konkretes Arzneimittel.

Sie beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 13. Juni 2008 und der Bescheid vom 23. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2006 aufzuheben.

und die Beklagte zu verurteilen ihr 99.440,02 € zu zahlen sowie die Beklagte ferner zu verpflichten, sie nach jeweiliger ärztlicher Verordnung mit einer Immunglobulin-Therapie zu versorgen, und ferner festzustellen, dass die Beklagte die bereits vorläufig erstatteten Kosten endgültig zu tragen hat.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie macht sich die Position des MDK zu Eigen.

Gründe

Die Berufung hat Erfolg. Der angefochtene Ablehnungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat Anspruch auf die begehrte Kostenerstattung und künftige Versorgung mit dem begehrten Medikament.

Nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V hat die Krankenkasse einem Versicherten für selbst beschaffte Leistungen die entstandenen Kosten zu erstatten, soweit sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbracht oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, soweit die Leistung notwendig war.

I. Der Klägerin hatte hier tatsächlich Geldmittel für die Anschaffung des Arzneimittels Octagam aufzuwenden. Sie hat dies durch Einreichung der entsprechenden Belege nachgewiesen. Auf ihre Aufstellung im Schriftsatz vom 30. März 2011 wird verwiesen.

II. Die Kosten sind auch dadurch entstanden, dass die Beklagte die Leistung zuvor abgelehnt hat (vgl. zu diesem Erfordernis BSG, U. v. 14.12.2006 - B 1 KR 8/06 R -, Rdnr. 10 ff.).

Hier hat die Klägerin spätestens mit Schreiben vom 13. März 2006 (eingegangen 15. März 2006) die weitere Versorgung mit Octagam beantragt.

Bereits das Schreiben der Beklagten vom 23. März 2006 ist als Ablehnung zu werten:

Die Aussage, dass die bisherige Aufteilung der Verordnungen in Kassenrezepte und Privatrezepte erstaunlich sei und gar nicht den rechtlichen Rahmenbedingungen vertragsärztlicher Verordnungen entspräche und die Bitte, das weitere therapeutische Vorgehen mit dem Behandler H zu beraten ist, ist aus objektivierter Sicht eine Antragsablehnung.

III. Ein Anspruch auf Kostenerstattung für die Vergangenheit als auch einer auf Versorgung oder Kostenfreistellung für die Zeit nach der mündlichen Verhandlung reicht nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch. Er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte und zukünftig zu beschaffende Krankenbehandlung - hier in Gestalt der laufenden Versorgung der Klägerin mit einem Fertigarzneimittel - zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sachleistung zu erbringen haben

Grundsätzlich ist dabei ein Fertigarzneimittel, welches keine arzneimittelrechtliche Zulassung für dasjenige Integrationsgebiet besitzt, in dem es im konkreten Fall eingesetzt werden soll, mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. Urt. v. 30.06.2009 - B 1 KR 5/09 R -, Rdnr. 19ff m. w. N.).

Ausnahmen vom Grundsatz, dass nur für andere Anwendungsgebiete zugelassene Arzneimittel nicht geleistet werden dürfen, gibt es nach der Rechtsprechung des BSG für einen sogenannten Off-Label-Use (grundlegend: BSGE, U. v. 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R - BSGE 89, 184) bei einer schwerwiegenden Erkrankung, für die eine andere Therapie nicht verfügbar ist und aufgrund einer spezifischen Datenlage ein begründetet Behandlungserfolg in der Form besteht, dass mit einer künftigen Zulassung gerechnet werden kann (BSG, U. v. 26.09.2006 - B 1 KR 1/06 -). Ob diese Voraussetzungen im Falle einer MS-Erkrankung erfüllt sind, kann jedoch dahingestellt bleiben (dagegen aus jüngerer Zeit: BSG, U., 27.03.2007 - B 1 KR 17/06 R -; U. v. 05.05.2010 - B 6 KA 24/09 R -; LSG Berlin-Brandenburg, U. v. 18.02.2010 - L 9 KR 2/08 -; LSG Baden-Württemberg, U. v. 08.02.2008 - L 4 KR 2153/06 -).

50Zum anderen kann es einen Anspruch auf zulassungsüberschreitende Anwendung nach den Grundsätzen für notstandsähnliche Situationen in einer verfassungskonformen Ergänzung des einfachgesetzlich geregelten Systems geben. Ein solcher Anspruch ist hier gegeben:

1. Die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen sind erfüllt. Die Klägerin bezieht die Immunglobuline jeweils aufgrund (privat-)ärztlicher Verordnung in der Apotheke. Die Behandlung erfolgt (unstreitig) nach den Regeln der ärztlichen Kunst.

2. Octagam bzw. Gamunex sind €abgesehen vom zwischenzeitlichen Ruhen- zugelassene Fertigarzneimittel im Sinne von §§ 2 Abs. 1, 4 Abs. 1 und 3, 21 Arzneimittelgesetz.

Die Behandlung mit Immunglobulinen bei MS ist nicht nach Richtlinien des GBA ausgeschlossen (siehe unten; vgl. zu diesem Ausschlusskriterium BSG, Urteil vom 07. November 2006 - B 1 KR 24/06 R -, Rdnr. 24).

Der Gemeinsame Bundesausschusses hat mittlerweile im Beschluss vom 20. Januar 2011 (Änderung der Richtlinien Methoden Krankenhausbehandlung und Methoden vertragsärztliche Versorgung sowie der Verfahrensordnung: Berücksichtigung des BVerfG-Beschlusses vom 6. Dezember 2005 in der Methodenbewertung; BAnz. Nr. 56 S. 1342) ausdrücklich klargestellt, dass der Ausschluss von Methoden nicht für die genannten Fälle gilt.

3. Das BVerfG hat im Beschluss vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25-51) ausgeführt, dass es mit den Grundrechten aus Art 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, generell von der Gewährung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.

Eine Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte neue ärztliche Behandlungsmethode sei im Rahmen der GKV ausgeschlossen, weil der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss diese noch nicht anerkannt oder sie sich zumindest in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt hat (zusammenfassend BSGE 94, 221 RdNr 23 = SozR 4-2400 § 89 Nr. 3 Rdnr. 24 m.w.N.), verstößt nach dieser Rechtsprechung des BVerfG gegen das Grundgesetz, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

- Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor,

- bezüglich dieser Krankheit steht eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung;

- bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine "auf Indizien gestützte" nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf (so weitgehend wörtlich BSG U. v. 04.04.2006 -B 1 KR 7/05 R. Rdnr. 19ff),

Diese Grundsätze gelten sinngemäß auch im Bereich der Versorgung mit Arzneimitteln (BSG, a.a.O. Rdnr. 18).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Klägerin hat in Anwendung des § 31 Abs. 1 Satz SGB V unter der gebotenen Beachtung der Art. 2 I und Art. 2 II 1 GG einen Anspruch auf Versorgung mit Immunglobulinen. Das Urteil des BSG vom 27.03.2007 (B 1 KR 17/06 R), in welchem dies - speziell auch bei begehrter IVIG-Behandlung einer MS-Kranken - verneint wurde, steht diesem Ergebnis nicht entgegen:

3.1. Die Klägerin leidet an einer lebensbedrohlichen, jedenfalls die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Krankheit:

Die Erkrankung ist lebensbedrohlich:

Nach den für den Senat einleuchtenden Aussagen des Sachverständigen Dr. B ist die MS-Erkrankung der Klägerin lebensbedrohlich. Angesichts der Schwere der Behinderung ist ihre Lebenserwartung deutlich reduziert.

Nach den sachkundigen Äußerungen des Sachverständigen sei nach verschiedenen Untersuchungen bei der MS die Lebenserwartung um sechs bis 14 Jahre reduziert. Das dänische MS-Register weist laut Dr. B eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung auf.

Direkt oder indirekt stürben nach einer Publikation aus dem Jahr 2004 56 % der MS-Patienten an ihrer Erkrankung. Außerdem sei mehrfach belegt, dass die Lebenserwartung zusätzlich mit Zunahme der Behinderung abnehme. So steige der Faktor von 1,6 bei einem Behinderungsgrad EDSS von maximal 3,5 bei MS-Patienten mit dem EDSS-Faktor 7,5 um den Faktor 4,4, d. h., das Risiko ist um mehr als das Vierfache erhöht.

Die Expended Disability Status Scale (EDSS) geht dabei von 0 (normale neurologische Untersuchung) bis 10 (Tod infolge MS). EDSS 8 ist wie folgt definiert: €Weitgehend an Bett oder Rollstuhl gebunden; pflegt sich weitgehend selbständig€. Meist guter Gebrauch der Arme. EDSS 9 bedeutet: €Hilfloser Patient im Bett. Kann essen und kommunizieren€.

Die Klägerin hat bereits viele relevante neurologischer Funktionen verloren (vgl. dazu unten).

Ihr EDSS-Grad beträgt um die 8,5. Sie ist schon in großem Umfang gelähmt, kann sich nicht normal artikulieren und leidet unter Sehausfällen. Jede Verschlechterung könnte nicht nur die Folge einer vollständigen Lähmung und Kommunikationsunfähigkeit (EDSS 9,5) bedeuten, sondern auch den Tod (EDSS 10).

Speziell zur MS hat zwar das BSG im genannten Urteil für einen Fall sekundär-progredienter Verlaufsform eine Lebensgefahr und auch nur eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Krankheit verneint, (BSG, U. v. 17. 03.2007 - B 1 KR 17/96 R -, Rdnr. 15). Die Klägerin leidet jedoch nicht an diesem häufigen Typ der MS, sondern an einem anderen:

Wie der Sachverständige Dr. B aus Sicht des Senats in sich schlüssig und widerspruchsfrei ausgeführt hat, handelt es sich bei der MS-Erkrankung der Klägerin nicht um den sekundär-progredienten Verlaufstyp, sondern um eine schubförmige MS mit kumulativem Defektsyndrom. Innerhalb des breiten Krankheitsspektrums der MS seien Krankheitsbilder wie bei der Klägerin zwar selten, aber durchaus bekannt und in der Literatur beschrieben: Zunächst ein relativ milder schubförmiger Verlauf, dann Entwicklung einer hochaggressiven Phase von Schüben mit Aufbau eines kumulativen Defektsyndromes und schließlich unter einer immunmodulierenden Medikamentation ein stabiler Verlauf bei allerdings deutlichem Defektzustand. Es liege insoweit kein eigenes Krankheitsbild vor. Zwischen 1988 und 1993 liege ein schubförmig remittierender Verlaut mit weitestgehenden Remissionen vor. Zwischen 1995 und Herbst 1999 bestehe kein Anhalt für eine sekundäre Progredienz im Sinne einer neurologischen Behinderungszunahme zwischen den abgrenzbaren Schüben. Letztere seien in diesen Zeitraum insgesamt zehnmal nachweisbar, davon in der Phase einer hochaggressiv verlaufenden MS zwischen 1995 und März 1998 insgesamt sieben Schübe in nur 3 ½ Jahren. Diese Schübe fielen in den Zeitraum vor Aufnahme der Immunmodulation mit Immunglobulinen (Octagam). Unter Octagam sei es zu drei überwiegend leichten Schüben im Herbst 1998, Anfang 1999 und Herbst 1999 gekommen. Nach Dosiserhöhung seien seit Ende 1999 keine Schübe mehr aufgetreten. Der EDSS habe 2002 9,0 betragen und bewege sich bis heute im Bereich zwischen 8,0 und 8,5. Damit sei es zu keiner klinisch-neurologischen Progredienz gekommen.

Bei der schubförmigen MS mit kumulativem Defektsyndrom führen nach der Darlegung des Sachverständigen die Schübe nicht oder nur teilweise zu einer Remission. Es baue sich treppenförmig eine Zunahme der Behinderung auf. Im Gegensatz zur sekundären Progredienz fehle eine Behinderungszunahme zwischen den Schüben. Neben der klinisch-neurologischen Verlaufsanalyse sprechen aus Sicht des Sachverständigen weitere Argumente gegen die Annahme einer sekundären Progredienz: Das relativ gering ausgeprägte Fatigue-Syndrom und die relativ gering ausgeprägten kognitiven Defizite.

Die verfassungskonforme Auslegung des Leistungsrechts kommt zudem nicht nur bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen, sondern auch bei wertungsmäßig damit vergleichbaren Krankheitssituationen in Betracht (vgl. BSG, Urteil vom 04. April 2006 - B 1 KR 12/04 R -, BSGE 96, 153 Rdnr. 31), beispielsweise bei drohender Erblindung (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 27/92 R -, BSGE 93, 236).

Im bereits erwähnten Urteil des BSG vom 27.03.2007 heißt es hierzu (Rdnr. 22):

€Der institutionelle Schutz, den das für Deutschland erforderliche Arzneimittelzulassungsverfahren bietet, fehlt auch bei einem systematisch betriebenen Off-Label-Use, weil in derartigen Fällen die gebotene indikationsbezogene Arzneimittelzulassungsprüfung nicht stattgefunden hat. Damit aber drohen den Versicherten auch hier Gesundheitsgefahren, vor denen sie das Zulassungsverfahren gerade schützen will. Soll trotzdem - noch hinausgehend über die dargestellten einschränkenden Voraussetzungen der Sandoglobulin-Rechtsprechung für einen Off-Label-Use - unter Berufung auf den verfassungsrechtlich gebotenen Gesundheitsschutz ein Anspruch auf die zulassungsüberschreitende Anwendung eines Arzneimittels zu Lasten der GKV begründet werden, ist auch darauf abzustellen, ob sich die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs schon in näherer oder erst in ganz ferner, noch nicht genau absehbarer Zeit zu konkretisieren droht. Verbleibt durch einen langen, verzögerten Krankheitsverlauf jahrzehntelang Zeit zur Therapie, ist in Rechnung zu stellen, dass die im Zeitablauf typischerweise voranschreitenden medizinischen und pharmakologischen Erkenntnisse in Zukunft Therapiemöglichkeiten eröffnen und (positive wie negative) Ergebnisse zu Tage fördern können, welche aktuell noch nicht verfügbar sind. Dann aber ist es auch verfassungsrechtlich hinnehmbar, den von einer schweren Krankheit betroffenen Patienten bei fehlender Akut-Problematik trotz der damit verbundenen Belastungen und Unzuträglichkeiten in der Regel abzuverlangen, vor der Inanspruchnahme der GKV für unkonventionelle Pharmakotherapien zunächst das Vorliegen einer auf solchen Forschungsergebnissen gestützten Zulassung der beanspruchten Fertigarzneimittel abzuwarten. Dementsprechend hat das BSG die qualifizierten Erfordernisse einer lebensbedrohlichen Krankheit iS des Beschlusses des BVerfG vom 6.12.2005 ( aaO ) verneint zB bei einem Prostata-Karzinom im Anfangsstadium ( Urteil vom 4.4.2006 - B 1 KR 12/05 R, SozR 4-2500 § 27 Nr 8 RdNr 36 - Interstitielle Brachytherapie mit Permanent-Seeds ), bei einer in 20 bis 30 Jahren drohenden Erblindung ( Beschluss vom 26.9.2006 - B 1 KR 16/06 B ) sowie bei einer langsam progredient verlaufenden Friedreich'schen Ataxie mit über Jahre hinweg möglichen stabilen Symptomen ( Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - Idebenone).€

Die Klägerin ist bereits jetzt € nach jahrelanger Behandlung mit IVIG, welche nach ihrer Ansicht die Verbesserungen bewirkt hat- schwerbehindert.

Ihr Zustand vor der IVIG-Therapie war aus Sicht des Senats mit dem einer notstandsähnlichen Situation wie einer Erblindung gleichsetzbar: Sie war von der Hüfte abwärts gelähmt und gänzlich inkontinent. Es bestand eine ausgeprägte Globalataxie. Sie musste immer angebunden sein, um sitzen zu können. Arme und Hände mussten fixiert werden. Es bestanden Zungenschlund- und Kieferverkrampfungen. Sie konnte nichts mehr kauen und hatte Schluckbeschwerden. Die Klägerin hatte die Sprachfähigkeit verloren und konnte sich aufgrund der Ataxie nicht mitteilen. Sie schüttelte unaufhörlich den Kopf und musste in der Nacht gelagert werden. Sie konnte nur noch bis auf zirka 50 cm Entfernung Gegenstände erkennen und sah Doppelbilder.

Eine Progredienz der Erkrankung bedeutete mindestens wieder diesen Zustand, (vgl. auch die Aufzählung von notstandsähnliche Situationen verneinender Fälle in BSG, U. v. 05.05.2009 - B 1 KR 15/08 R -, Rdnr. 15). Soweit die Sachverständige Dr. S in diesem Zusammenhang bemängelt, dass trotz der Krankheitsschübe eine Visusminderung, einer Einschränkung der Mobilität und aufgrund des Ausbleibens einer vollständigen Remission und der letztlich eingetretenen Kumulation von Behinderungen keine zuverlässige Aussage für die Zukunft möglich sei, welche Region des zentralen Nervensystems voraussichtlich im Rahmen künftiger Krankheitsschübe betroffen sein würden, mag dies abstrakt richtig sein. Die notstandsähnliche Situation wird aber nicht dadurch aufgehoben, dass im Voraus genau bekannt ist, welche Defizite noch eintreten können.

3.2. Es gibt zur Überzeugung des Senates für die Klägerin zur Behandlung der Grunderkrankung keine Alternative zur Behandlung mit intravenösen Immunglobulinen:

Der Sachverständige Dr. B hat zunächst nachvollziehbar ausgeführt, dass die Klägerin weiterhin behandlungsbedürftig ist. Die Klägerin muss sich - entgegen der Auffassung der Sachverständigen des MDK Dr. S - nicht darauf verweisen lassen, dass ihre Erkrankung selbst überhaupt nicht behandelt werden muss. Auch wenn im Falle von auftretenden neuen Schüben noch keine akute Lebensgefahr bestünde und diese durch Kortison bzw. Plasmaaustauschstoffe behandelbar wären, bleibt festzuhalten, dass ein Behandlungserfolg nicht sicher wäre. Nach der Argumentation des MDK bräuchte es nie einer Primärbehandlung einer MS-Erkrankung im fortgeschrittenen Zustand.

Der Senat folgt weiter dem Sachverständigen, dass diese Behandlung nicht in der Gabe von Interferonen bestehen kann. Dieser hat nachvollziehbar ausgeführt, dass dies aus der fehlgeschlagenen Behandlung mit Betaferon zu folgern sei.

Dieser Wirkstoff habe sich bei der Klägerin in den Jahren 1996 und 1997 als unwirksam erwiesen. Darüber hinaus sei es zu grippeähnlichen Nebenwirkungen gekommen. Betaferon/Extavia sowie Rebif 44 seien hoch dosierte und häufig verabreichte Interferone. Dass der Wechsel auf Rebif 44 als anderem Interferon bei einem Nichtansprechen auf Betaferon keinen Sinn mache, wie der Sachverständige annimmt, erscheint einleuchtend. Gleiches gilt für einen Wechsel auf Avonex.

Es kann dabei also dahingestellt bleiben, ob der Klägerin eine Behandlung mit Interferonen ungeachtet der grippeähnlichen Nebenwirkungen und der möglichen psychischen Auswirkungen zumutbar wäre.

Nach übereinstimmender Auffassung von Dr. S und Dr. B kommt weiter eine Verschreibung von Glatirameracetat (Arzneimittel Copaxone) bei dem Ausmaß des Defektzustandes der Klägerin und dem hochaggressiven, nicht gebremsten Verlauf zwischen 1995 und 1998 nicht in Frage.

Das Arzneimittel Azathioprin gilt nach Dr. B als Zweite-Linie-Medikament. Bei einem hochaggressiven Verlauf sei die Wirksamkeit zu gering. Als Nebenwirkungen sei ein erhöhtes Krebsrisiko bzw. ein Infektionsrisiko vorhanden, weshalb die Klägerin Azathioprin abgelehnt habe. Auch Dr. S beschränkt sich nur auf die Aussage, ex ante hätte 1998 dieser Wirkstoff eingesetzt werden können.

Mitoxantron ist nach dem gerichtsgutachterlichen Vorbringen als Eskalationstherapie € also als Behandlung der €eskalierten MS€, weil die immunmodulartorische Behandlung keinen oder zu wenig Erfolg zeitigte- nur bis zu einem EDSS von 6,0 erlaubt. Auch Natalizumab komme als Eskalationstherapie für die Klägerin nicht in Frage, da die Voraussetzung der Verschreibungsfähigkeit, der Nachweis der Progredienz im letzten Jahr gegeben sein müsse.

Auch der MDK geht nicht davon aus, dass diese Wirkstoffe Alternativen gewesen wären oder sind.

Die Therapiehinweise gemäß § 92 Abs. 2 Satz 7 SGB V i. V. m. § 17 AM-Richtlinie zur wirtschaftlichen Verordnungsweise von Arzneimitteln (Anlage IV zum Abschnitt H der Arzneimittel-Richtlinie) zu Azathioprin und Natalizumab decken diese Bewertungen

3.3 Die Behandlung der Klägerin mit den intravenösen Immunglobulinen hatte bzw. hat schließlich eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf gehabt.

Positive Auswirkungen liegen vor, wenn z. B. ein Fortschreiten der Krankheiten aufgehalten oder Komplikationen verhindert werden können. Abzustellen ist auf theoretische Erklärungsmuster. Fehlen solche, können Erfahrungen von Ärzten entscheidend sein, wenn sich diese Erkenntnisse durch andere Ärzte in ähnlicher Weise wiederholen lassen (BSG, Urteil vom 04. April 2006 - B 1 KR 7/05 R -, Rdnr. 43).

Die Behandlung mit intravenösem Immunglobulin ist keine Außenseitermethode, sondern ist seit längerem (vgl. die ins Verfahren eingeführte Information des Paul-Ehrlich-Instituts Stand 2005) in den Leitlinien der einschlägigen fachärztlichen Konsensusgruppe MS-Therapie-Konsensus Gruppe (MSTKG) in deren Stufenschema Reservepräparat im Sinne eines Zweite-Linie-Medikamentes.

Nach der sachverständigen Auffassung des Gerichtsgutachters ist jedenfalls im vorliegenden Einzelfall die Stabilisierung des Krankheitsverlaufes mit hoher Wahrscheinlichkeit seit mindestens acht Jahren auf die Gabe der Immunglobuline zurückzuführen. Die Nichtbehandlung bzw. das Aussetzen der Immunglobuline werde - so überzeugend Dr. B - mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Wiederaufflammen der Krankheitsaktivität führen. Für den Einsatz von Immunglobulinen sprächen auch Studien (vgl. Gutachten S. 25). Dem hat die MDK-Gutachterin Dr. S zwar hinsichtlich der Studienlage widersprochen und darauf hingewiesen, dass für keine Verlaufsform der MS die Wirksamkeit der intravenösen Immunglobuline durch geeignete Studien belegt sei. So seien für die Anwendung bei primär-progredienten MS keine Studien veröffentlicht, die einen Wirksamkeit nachwiesen. Ergebnisse aus randomisierten, placebokontrollierten Studien bei einer sekundär-progredienten MS sprächen gegen die Wirksamkeit. Diese Indikation läge hier vor. Kleinere randomisierte, kontrollierte Studien mit eingeschränkter methodischer Qualität - u. a. die Studie von Fazekas et. al. - hätten in der Vergangenheit einige Hinweise für eine mögliche Wirksamkeit von intravenösen Immunglobulinen in der Schubprophylaxe bei Patienten mit schubförmig-remittierender MS erbracht. Die bisher größte Studie mit dem Präparat Gamunex habe nach Auswertung im Spätsommer 2005 keine Überlegenheit gegenüber Placebo belegt. Bemerkenswert sei innerhalb der Studie der hohe Placeboeffekt. Deshalb ließen sich zuverlässige wissenschaftlich begründete Aussagen weder zur Wirksamkeit der IV-Immunglobulin-Therapie treffen noch zum individuell-natürlichen Verlauf.

Maßstab ist hier jedoch nicht derjenige für einen €normalen€ Off-Label-Use€ nach den oben skizzierten Voraussetzungen. Ausreichend ist vielmehr, dass es begründete Anzeichen dafür gibt, dass IVIG nicht nur als Placebo wirkt. Davon ist auszugehen:

Mittlerweile - am 7. Dezember 2010 - hat der GBA beschlossen, ein Stellungnahmeverfahren zur Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) in Anlage VI € Off-Label-Use Intravenöses Immunglobulin G (IVIG) im Anwendungsgebiet Multiple Sklerose einzuleiten. Dies bestätigt aus Sicht des Senates, dass die IVIG-Behandlung begründete Erfolgschancen hat. Das zuständige Gremium des GBA hat sich - ausweislich der Beschlussbegründung - der Bewertung einer eingesetzten Expertengruppe zu IVIG im Anwendungsbereich MS angeschlossen. Diese hatte aufgrund der Bewertung der aktuellen Evidenzlage entschieden, weder eine positive noch eine negative von IVIG zur Off-Label-Behandlung bei MS abzugeben. Die Gründe lägen in den Diskrepanzen der Ergebnisse der unterschiedlichen Studien, die publiziert würden. Diese Diskrepanzen seien angesichts der variablen Studiendesigns, unterschiedlicher Populationen, unterschiedlicher Laufzeiten, heterogener Endpunkte und surrogater Parameter, fehlender Patientenstratifizierung etc. nicht unerwartet. Insbesondere finde sich unter den verfügbaren methodisch guten, kontrollierten und randomisierten Studien zur Wirksamkeitsbeurteilung sowohl solche mit positivem als auch mit negativem Ergebnis.

Der Senat hält zuletzt die Ausführungen des Sachverständigen für schlüssig, Immunglobuline gälten als gut verträglich. Die Klägerin weise zudem keine vaskulären (die Blutgefäße betreffend) Risikofaktoren auf. Die IVIG Behandlung bei ihr entspricht unstreitig der ärztliche Kunst. Dafür, dass sie nicht leichtfertig zum Einsatz kam und kommt, spricht auch die glaubhafte Aussage der im Krankenhaus behandelnde Ärztin Prof. Dr. H, nur in wenigen Fällen (im Promille-Bereich) die Indikation für eine solche Behandlung zu stellen.

Der Schluss des Gerichtssachverständigen, ein Absetzen des Octagam sei in Kenntnis des Verlaufes und des Letalitätsrisikos ärztlich nicht vertretbar, ist nachvollziehbar und überzeugend.

IV. Der Wechsel des für die IVIG verwendeten Arzneimittels ist für den Ausgang des Rechtsstreits ohne Bedeutung. Die Klägerin hat von Anfang an die Erstattung der Kosten IVIG-Behandlung begehrt. Die Beklagte hat die IVIG-Behandlung als Sachleistung bzw. Kostenerstattung hierfür generell abgelehnt.

Da die Klägerin - wie ausgeführt - einen Sachleistungsanspruch auf die Behandlung mit IVIG hat, den ihr die Beklagte generell im angegriffenen Bescheid abstreitet, war die Verpflichtung zur (Sach-)Leistung auch für die Zukunft auszusprechen (ebenso bereits Urt. d. Senats vom 3,0.04.2010 - L 1 KR 68/08 -).

V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache. Die Beschränkung des Klageantrages fällt dabei nicht ins Gewicht.

Die Revision ist nicht zuzulassen. Dem Rechtsstreit kommt insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung zu, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Es handelt sich um einen ausgesprochenen Einzelfall.






LSG der Länder Berlin und Brandenburg:
Urteil v. 15.04.2011
Az: L 1 KR 326/08


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/9db9697afc07/LSG-der-Laender-Berlin-und-Brandenburg_Urteil_vom_15-April-2011_Az_L-1-KR-326-08




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