Bundesgerichtshof:
Beschluss vom 29. Mai 2000
Aktenzeichen: AnwZ(B) 43/99
(BGH: Beschluss v. 29.05.2000, Az.: AnwZ(B) 43/99)
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers werden der Beschluss des 1. Senats des Anwaltsgerichtshofs des Landes Sachsen-Anhalt in Naumburg vom 28. Mai 1999 und der Bescheid des Antragsgegners vom 26. November 1998 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der von der Rechsanwaltskammer in der Stellungnahme vom 15. März 2000 geltend gemachte Versagungsgrund des § 7 Nr. 5 BRAO nicht vorliegt.
Der Antragsgegner ist verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu bescheiden.
Die weitergehende Beschwerde wird verworfen.
Gerichtliche Gebühren und Auslagen werden nicht erhoben. Außergerichtliche Auslagen werden nicht erstattet.
Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 90.000 DM festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller war seit 1972 in der früheren DDR als Richter, nach Ernennung zum Oberrichter von 1986 bis zum 1. Dezember 1989 als Vorsitzender des 1a-Strafsenats bei dem Bezirksgericht M. tätig. Nach Ausscheiden aus dem Richterdienst im April 1990 ist er durch Verfügung des Ministers der Justiz der DDR zum 1. Mai 1990 zur Rechtsanwaltschaft zugelassen worden. Mit Verfügung des Antragsgegners vom 20. Juli 1995 wurde die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft nach § 1 Abs. 2 RNPG zurückgenommen, weil der Antragsteller als Vorsitzender des 1a-Strafsenats in einer Vielzahl von Fällen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit in schwerwiegender Weise verstoßen hatte. Der dagegen gerichtete Antrag auf gerichtliche Entscheidung hatte keinen Erfolg. Die sofortige Beschwerde des Antragstellers wurde durch Beschluss des Senats vom 4. Februar 1997 AnwZ(B) 18/96 BRAKMitt 1997, 130 zurückgewiesen. Nachdem die Vollziehung des Senatsbeschlusses durch die Verfassungsbeschwerde des Antragstellers durch einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts für einen Monat ausgesetzt war, hat der Antragsgegner mit Verfügung vom 28. April 1997 einen Kanzleiabwickler bestellt. Seit dieser Zeit ist der Antragsteller nicht mehr als Rechtsanwalt tätig. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde durch Beschluß vom 28. Mai 1997 nicht zur Entscheidung angenommen.
Mit Gesuch vom 19. Oktober 1998 beantragte der Antragsteller, ihn (erneut) zur Rechtsanwaltschaft und als Rechtsanwalt bei dem Landgericht M. zuzulassen. Mit Bescheid vom 26. November 1998 hat der Antragsgegner den Antrag als unzulässig zurückgewiesen, weil seiner sachlichen Nachprüfung die Rechtskraftwirkung der Senatsentscheidung vom 4. Februar 1997 entgegenstünde. Den dagegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung, mit dem der Antragsteller die Aufhebung des Bescheides und die Verpflichtung des Antragsgegners zur Zulassung des Antragstellers als Rechtsanwalt erstrebte, hat der Anwaltsgerichtshof zurückgewiesen und in den Gründen seiner Entscheidung festgestellt, dass der Versagungsgrund des § 7 Nr. 5 BRAO vorliege. Dagegen wendet sich die sofortige Beschwerde des Antragstellers, mit der neben der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und des Bescheids des Antragsgegners weiterhin die Verpflichtung des Antragsgegners erstrebt wird, den Antragsteller zur Rechtsanwaltschaft zuzulassen. Die am Verfahren beteiligte Rechtsanwaltskammer hat im Beschwerdeverfahren geltend gemacht, daß der Versagungsgrund des § 7 Nr. 5 BRAO vorliegt.
II.
Das Rechtsmittel ist zulässig (§ 42 Abs.1 Nr. 2, Abs. 4 BRAO) und hat in der Sache teilweise Erfolg.
Dem neuerlichen Antrag auf Zulassung zur Rechtsanwaltschaft steht die rechtskräftige Entscheidung des beschließenden Senats vom 4. Februar 1997, mit der dem Antragsteller die Zulassung zur Anwaltschaft nach § 1 Abs. 2 RNPG entzogen worden ist, nicht entgegen.
Gerichtliche Entscheidungen, in denen nach § 1 RNPG die Zulassung zur Anwaltschaft zurückgenommen wird, sind als echte Streitverfahren der formellen und materiellen Rechtskraft fähig. Die Gerichte sind grundsätzlich an ihre rechtskräftigen Entscheidungen gebunden, sie können sie nicht mehr abändern und keine weitere Prüfung der rechtskräftig abgeschlossenen Sache vornehmen (vgl. Senatsbeschluss vom 1. Juli 1974 - AnwZ(B) 2/74; Senatsbeschluß vom 30. November 1987 -AnwZ(B) 35/87 = NJW 1988, 1792 für Entscheidungen in Zulassungssachen). Da die Senatsentscheidung vom 4. Februar 1997 die Rücknahme der Anwaltszulassung wegen Unwürdigkeit des Antragstellers bestätigt hat, steht sie seiner Wiederzulassung zur Anwaltschaft bei unveränderter Sachlage entgegen, denn die Zulassung ist bei Unwürdigkeit des Antragstellers zu versagen (§ 7 Nr. 5 BRAO). Bei dem Versagungsgrund des § 7 Nr. 5 BRAO kann jedoch schon der Ablauf einer nicht unwesentlichen Zeitspanne eine Veränderung der Sachlage darstellen, weil das Gewicht des Fehlverhaltens für die Wertung der Unwürdigkeit durch längeres Wohlverhalten abnimmt (Odersky, Festschrift für Sendler, S. 545, 547).
Für den Fall, dass der Bewerber als Mitarbeiter des MfS gegen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit verstoßen und sich damit als unwürdig erwiesen hat, den Beruf des Rechtsanwalts auszuüben, hat der Senat bereits entschieden, dass für den Regelfall ein zeitlicher Abstand von mindestens drei Jahren zur Beendigung des vorausgegangenen Verfahrens als wesentliche neue Tatsache anzusehen ist (Senatsbeschluss vom 14. Februar 2000 - AnwZ(B) 12/99). Von einer solchen Wartezeit ist der Senat auch in seiner Vorentscheidung ausgegangen. Diese Frist war zwar nicht zum Zeitpunkt des Zulassungsgesuchs oder der Entscheidung des Anwaltsgerichtshofs, sie ist aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgelaufen. Damit liegt eine Änderung der Sachlage vor, die zu einer anderen Abwägung der Interessen des Antragstellers einerseits und denen der Öffentlichkeit an der Integrität des Anwaltsstandes andererseits führen kann. Der im Lauf des Verfahrens eingetretene Wegfall der Bindungswirkung ist vom Senat zu berücksichtigen (vgl. Senatsbeschluss vom 1. Juli 1985 - AnwZ (B) 8/85 zum Wegfall des prozessualen Hinderungsgrundes der anderweitigen Rechtshängigkeit während des Verfahrens).
3. Ungeachtet dessen, daß der Antragsgegner kein Gutachten der Rechtsanwaltskammer nach § 8 Abs. 2 BRAO eingeholt hat, hält der Senat zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine eigene Sachentscheidung zum Vorliegen des Versagungsgrundes nach § 7 Nr. 5 BRAO aus Gründen der Prozesswirtschaftlichkeit für zulässig und geboten: Die Rechtsanwaltskammer hat als Verfahrensbeteiligte während des Beschwerdeverfahrens durch ihre Prozessbevollmächtigten eine umfangreiche Stellungnahme abgegeben, nach der sie die Unwürdigkeit des Antragstellers aufgrund der in der Vorentscheidung im einzelnen erörterten schweren Verstöße gegen Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit weiterhin für gegeben erachtet. Diese Stellungnahme wertet der Senat als Gutachten im Sinne der §§ 8, 9 BRAO. Dass sie nicht vor der Entscheidung des Anwaltsgerichtshofs eingeholt worden ist, verschlechtert die Rechtsposition der Rechtsanwaltskammer nicht, weil der Anwaltsgerichtshof in ihrem Sinne entschieden hat und der Senat sowohl für Beschwerden in Verfahren nach § 38 BRAO als auch nach § 39 BRAO zuständig ist. Einer Entscheidung steht auch nicht entgegen, dass nicht die Rechtanwaltskammer, sondern die Landesjustizverwaltung als Antrags- und Beschwerdegegner auftritt, weil die Rechte der Rechtsanwaltskammer durch ihre Verfahrensbeteiligung ausreichend gewahrt sind. Schließlich scheidet auch eine Beeinträchtigung der Interessen des Antragstellers bei einer Entscheidung des Senats über das Vorliegen des Versagungsgrundes nach § 7 Nr. 5 BRAO in diesem Verfahren jedenfalls dann aus, wenn der Antragsteller zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr als unwürdig anzusehen ist.
4. Davon ist hier auszugehen.
Das dem Antragsteller anzulastende, im einzelnen im Senatsbeschluss vom 4. Februar 1997 dargestellte Verhalten als Vorsitzender des 1a-Strafsenats wiegt allerdings schwer. Der Antragsteller hat u.a. von 1986 bis 1989 in 15 Fällen Freiheitsstrafen zwischen zwei Jahren und vier Jahren und fünf Monaten gegen ausreisewillige Bürger verhängt, denen im wesentlichen nichts anderes vorzuwerfen war, als ihr Ausreisebegehren unter Einschaltung der -teilweise auch bundesdeutschen -Öffentlichkeit zu verfolgen. In einigen Fällen war mindestens der Grenzbereich zur Rechtsbeugung berührt. Andererseits kann auch der Vorwurf schwerer Verstöße gegen Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit nach einer Reihe von Jahren, insbesondere durch den zeitlichen Abstand zu der verwerflichen Tätigkeit sowie das danach gezeigte Verhalten so sehr an Gewicht verlieren, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Integrität des Anwaltsstandes nicht mehr entscheidend gefährdet wird, wenn der Zulassungsbewerber wieder als Rechtsanwalt tätig wird.
So liegt der Fall hier. Die Urteile, an denen der Antragsteller mitgewirkt hat, liegen - seit dem letzten bekannten rechtsstaats- und menschenrechtswidrigen Urteil vom 11. Januar 1989 - mehr als elf Jahre zurück. Der Antragsteller hat seine Rechtsanwaltszulassung jedenfalls für drei Jahre entbehrt, so dass auch in den Augen der Öffentlichkeit sein Verhalten nicht sanktionslos geblieben ist. Nach dem Beitritt hat er sich nichts mehr zuschulden kommen lassen. Dass der Antragsteller noch nicht die nötige innere Distanz zu seiner früheren richterlichen Tätigkeit gewonnen hat, lässt sich allein aus den von der Rechtsanwaltskammer angeführten Äußerungen, die teilweise auch dem Prozessbevollmächtigten zuzurechnen sein mögen, nicht schließen. Angesichts des Alters des 1946 geborenen Antragstellers würde die Wiedereingliederung in die Rechtsanwaltschaft durch weiteren Zeitablauf erschwert werden. Unter diesen Umständen erscheint es vertretbar, den Interessen des Antragsstellers an der Wiederzulassung größeres Gewicht beizumessen.
5. Soweit mit der sofortigen Beschwerde weiter beantragt worden ist, den Antragsgegner zu verpflichten, den Antragsteller zur Rechtsanwaltschaft zuzulassen, ist sie nicht begründet. Da die Antragsgegnerin den Zulassungsantrag bisher lediglich aus verfahrensrechtlichen Gründen zurückgewiesen hat, ist ihr Gelegenheit zu geben, ihn sachlichrechtlich zu prüfen und zu bescheiden.
Geiß Fischer Terno Otten Salditt Schott Christian
BGH:
Beschluss v. 29.05.2000
Az: AnwZ(B) 43/99
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