Bundespatentgericht:
Beschluss vom 5. Februar 2007
Aktenzeichen: 9 W (pat) 301/04
(BPatG: Beschluss v. 05.02.2007, Az.: 9 W (pat) 301/04)
Tenor
Das Patent wird widerrufen.
Gründe
I.
Gegen das am 4. Oktober 1994 unter Inanspruchnahme der US-Priorität 131641 vom 5. Oktober 1993 angemeldete und am 7. August 2003 veröffentlichte Patent mit der Bezeichnung
"Radachsmesssystem für ein Kraftfahrzeug"
ist Einspruch erhoben worden. Die Einsprechende macht geltend, dass der dem erteilten Patentanspruch 1 zugrundeliegende Gegenstand auf einer unzulässigen Erweiterung beruhe, und führt aus, dass die in den Patentansprüchen 1 gemäß Haupt- und Hilfsantrag angegebenen Gegenstände nicht neu seien oder sich zumindest in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergäben. Sie verweist u. a. auf die bereits in der Streitpatentschrift genannten Druckschriften:
JP 63-297149 A Patents Abstracts of Japanund US 4,761,749.
Die Einsprechende stellt den Antrag, das Patent zu widerrufen.
Die Patentinhaberin beantragt, das Patent aufrechtzuerhalten, hilfsweisedas Patent mit folgenden Unterlagen beschränkt aufrechtzuerhalten:
- Patentansprüche 1 bis 8, überreicht in der mündlichen Verhandlung,
- Beschreibung Spalten 1 bis 10 und Figuren 1 bis 4 gemäß Patentschrift.
Nach Meinung der Patentinhaberin liegt keine unzulässige Erweiterung vor und sowohl der Gegenstand nach Patentanspruch 1 des Hauptantrags als auch der des Hilfsantrags seien patentfähig.
Der (erteilte) Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet:
Radachsmesssystem für ein Kraftfahrzeug mit einer zentralen Prozesseinheit (52) zur Steuerung des Betriebes des Messsystems, einem Mikrophon (10), welches Sprachkommandos empfängt;
einer Vorrichtung (16, 16a) zur Konvertierung der vom Mikrophon (10) empfangenen Sprachkommandos in von der zentralen Prozesseinheit (52) verarbeitbare Instruktionen zur Steuerung der Operationen des Messsystems bei der Radachsmessung.
Diesem Patentanspruch 1 schließen sich zumindest mittelbar rückbezogen die Patentansprüche 2 bis 9 an.
Der geltende Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag lautet (zum erteilten Patentanspruch 1 zusätzliche Merkmale sind fett hervorgehoben):
Radachsmesssystem für ein Kraftfahrzeug mit - einer zentralen Prozesseinheit (52) zur Steuerung des Betriebes des Messsystems,
- einem Mikrophon (10), welches Sprachkommandos empfängt;
- einer Vorrichtung (16, 16a) zur Konvertierung der vom Mikrophon (10) empfangenen Sprachkommandos in von der zentralen Prozesseinheit (52) verarbeitbare Instruktionen zur Steuerung der Operationen des Messsystems bei der Radachsmessung;
- einer Vorrichtung (58) zur Konvertierung von aus der zentralen Prozesseinheit (52) empfangenen Daten zu hörbaren Sprachsignalen; und - einem Lautsprecher (12) zur Konvertierung der hörbaren Sprachsignale in hörbare Sprache.
Dem Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag schließen sich 7 zumindest mittelbar auf den Patentanspruch 1 rückbezogene Patentansprüche an.
II.
Die Zuständigkeit des Bundespatentgerichts ist durch PatG § 147 Abs. 3 Satz 1 i. d. F. bis zum 30. Juni 2006 begründet.
Der Einspruch ist zulässig. In der Sache hat er Erfolg, da er zu einem Widerruf des Patents führt.
1. Zum Hauptantrag Der Gegenstand des Patents geht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus, denn ein Radachsmesssystem mit den Merkmalen des geltenden Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag ist in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht als zur Erfindung gehörig offenbart.
Bis zum Beschluss über die Erteilung des Patents sind nach § 38 PatG Änderungen der in der Anmeldung enthaltenen Angaben zulässig, die den Gegenstand der Anmeldung nicht erweitern. Der Gegenstand der Anmeldung darf bei der Aufstellung des Patentanspruchs anders formuliert werden, und er darf beschränkt werden. Eine solche Änderung darf aber nicht zu einer Erweiterung des Gegenstands der Anmeldung führen, und sie darf nicht dazu führen, dass an die Stelle der angemeldeten Erfindung eine andere gesetzt wird (BGH, X ZB 18/00, GRUR 2002, 49 - Drehmomentübertragungseinrichtung). Der Patentanspruch darf mithin nicht auf einen Gegenstand gerichtet werden, von dem der Durchschnittsfachmann auf Grund der ursprünglichen Offenbarung nicht erkennen kann, dass er von vornherein von dem Schutzbegehren umfasst sein soll.
Der zuständige Durchschnittsfachmann - hier ein Fachhochschulingenieur der Fachrichtung Maschinenbau, der bei einem Kfz-Zulieferer oder einem Werkstattausrüster mit der Entwicklung und/oder Anpassung von Service-Einrichtungen zur Wartung und Inspektion von Kraftfahrzeugen befasst ist und auf diesem Gebiet über mehrjährige Berufserfahrung verfügt - kann dem Inhalt der zugrundeliegenden Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung im Zusammenhang mit der Steuerung der Operationen des Messsystems durch eine Bedienperson nur ein bidirektional arbeitendes System entnehmen. Kerngedanke der Ursprungsoffenbarung ist stets der wechselseitige Austausch von Informationen und Steuerbefehlen zwischen System und Bedienperson (vgl. in der mit den ursprünglich eingereichten Unterlagen übereinstimmenden OS, S. 2 Z. 29-45 Z. 58-61 Z. 66-2 S. 3, das Ausführungsbeispiel S. 5-16 sowie die Hauptansprüche 1 und 15).
Die im erteilten Patentanspruch 1 insoweit fehlende Übertragung von Daten und Instruktionen an die Bedienperson ist zur reibungslosen Funktion des Gesamtsystems unerlässlich. Das entnimmt der Durchschnittsfachmann, an den sich die Offenbarung richtet, unmissverständlich den ursprünglichen Patentansprüchen 5, 10, 12 und 14. Denn diese Patentansprüche haben Systeme und Verfahren zum Gegenstand, bei denen das Steuersystem der Bedienperson Instruktionen und Daten übermittelt. Aus dem ursprünglichen Ausführungsbeispiel für eine Achsvermessung geht außerdem eindeutig hervor, dass zwischen dem System und dem Techniker eine bidirektionale Kommunikation stattfindet, vgl. insb. S. 5 bis 16 der OS. Da der erteilte Patentanspruch 1 ausdrücklich auf ein Achsmesssystem gerichtet ist, darf die dabei lösungswesentliche bidirektionale Kommunikation nicht fehlen. Schließlich weisen eine Vielzahl von Textstellen der OS darauf hin, dass eine Sende- und eine Empfangseinrichtung, bzw. ein Mikrophon und ein Lautsprecher zum offenbarten System gehören, vgl. in der OS insb. S. 2 Z. 29 bis 31, Z. 32 bis 36, Z. 37 bis 38, Z. 39 bis 40, Z. 41 bis 45, Z. 58 bis 61, Z. 66 bis S. 3 Z. 2, S. 3 Z. 3, Z. 7/8, Z. 9/10, Z. 10 bis 14 i. V. m. Fig. 4, Z. 15/16, Z. 21/22, Z. 30 bis 34. Im weiteren Verlauf der ursprünglichen Beschreibung ist zudem wiederholt von einem Kommunikationsmodul 56 die Rede.
Die Patentinhaberin beruft sich mit ihrer gegenteiligen Auffassung allein auf den ersten Absatz der ursprünglichen Beschreibung. Sie meint, darin sei ein System zur Steuerung einer Service-Einrichtung für Kraftfahrzeuge offenbart, welches durch Sprachbefehle gesteuert werde. Davon konnte sie den Senat jedoch nicht überzeugen. Der Durchschnittsfachmann sieht die Offenbarung im Zusammenhang. Er konnte deshalb den im Patentanspruch 1 des Streitpatents bezeichneten Gegenstand den ursprünglichen Unterlagen nicht als zur Erfindung gehörig entnehmen, weil lösungswesentliche, zwingend zum Gegenstand der ursprünglichen Anmeldung gehörende Merkmale für eine bidirektionale Kommunikation weggelassen wurden, wie vorstehend dargetan.
Bei dieser Sachlage kann dahingestellt bleiben, ob der mit Patentanspruch 1 nach Hauptantrag beanspruchte Gegenstand neu ist oder auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
2. Zum Hilfsantrag Der Gegenstand gemäß Patentanspruch 1 des nach Hilfsantrag geltenden Patentbegehrens ist sowohl im Streitpatent als auch in den ursprünglich eingereichten Unterlagen offenbart. Dies wird von der Einsprechenden nicht bestritten.
Es kann bei dem ohne Zweifel gewerblich anwendbaren Radachsmesssystem für ein Kraftfahrzeug nach dem Patentanspruch 1 des Hilfsantrags dahingestellt bleiben, ob es - wie die Einsprechende meint - schon aus dem Abstract der JP 63-297149 A bekannt ist, denn es ergibt sich für den Durchschnittsfachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik.
Aus der US 4,761,749 ist ein Radachsmessvorrichtung für ein Kraftfahrzeug bekannt (vgl. Figuren 1 bis 4 und Field of the Invention, Sp. 1 Z. 11 bis 16), das mit einer Konsole 11, die eine zentrale Prozesseinheit (CPU 42) umfasst, über eine Schnittstelle 28 oder über ein Sende-Empfangsgerät 24 Daten austauscht. Konsole und Radachsmessvorrichtung sind Bestandteile eines Systems (vgl. Fig. 4), dessen Betrieb von der zentralen Prozesseinheit 42 gesteuert wird (vgl. Sp. 4, Z. 27-61). Zudem ist eine Vorrichtung 34 zur Konvertierung von aus der zentralen Prozesseinheit 42 über den Systembus 26 empfangenen Daten zu hörbaren Sprachsignalen und ein Lautsprecher 36 zur Konvertierung der hörbaren Sprachsignale in hörbare Sprache vorgesehen (vgl. Sp. 3, Z. 64-68). Über Tastaturen 43 und 103 können Eingaben an das System vorgenommen werden, die unter anderem auch Instruktionen zur Steuerung der Operationen des Systems bei der Radachsmessung umfassen (vgl. Sp. 4, Z. 19-22).
Aus dem Abstract der JP 63-297149 A ist ein System zur Wartung und Inspektion für Kraftfahrzeuge bekannt, bei dem im Abschnitt C eine zentrale Prozesseinheit (Rechner 8) zur Steuerung des Systems vorgesehen ist. Der Fachmann kann der Druckschrift unmittelbar entnehmen, dass im Bereich B eine Sichtprüfung des zu prüfenden Kraftfahrzeuges vorgenommen wird und dass im Bereich C ein Rollenprüfstand aufgebaut ist. An einem Fahrzeugende wird eine weitere Inspektion oder Wartung vorgenommen. Dies kann eine Abgasuntersuchung oder eine Überprüfung der Scheinwerfereinstellung sein. Eine Bedienperson 6 trägt einen Kopfhörer 31 und kann Sprachkommandos über ein Mikrophon und eine Spracherkennung an das System abgeben. Ein Sender-/Empfangsgerät 17 ermöglicht über die Sprach-Ein- und Ausgabeeinheit 11 einerseits, dass Anweisungen von dem System an die Bedienperson weitergegeben werden, und andererseits, dass die Bedienperson als "application word" bezeichnete sprachliche Mitteilungen an das System weitergibt. Dadurch wird eine Ablaufsteuerung ermöglicht und Inspektions- und Wartungsarbeiten effizient durchgeführt (vgl. Text i. V. m. Figur).
Wird der Durchschnittsfachmann mit dem Problem konfrontiert, ein Radachsmesssystem nach der US 4,761,749 so zu konzipieren, dass die Bedienperson die Hände für eine effektive Vornahme von Einstellungen am Kraftfahrzeug frei hat, wird er durch das Abstract der JP 63-297149 A unmittelbar zum Radachsmesssystem geführt, für das Schutz begehrt wird. Er erhält aus dem Abstract der JP 63-297149 A nämlich - wie vorhergehend dargelegt - den unübersehbaren Hinweis, in die Ablaufsteuerung eines Wartungs- und Inspektionssystems für Kraftfahrzeuge mittels Sprachkommandos ohne Benutzung einer Tastatur oder einer sonstigen handbetriebenen Fernsteuerung einzugreifen. Die Übertragung einer derartigen Sprachsteuerung von einem Bremsen- oder Abgasmesssystem auf ein Radachsmesssystem liegt auf der Hand, zumal das bereits bekannte Radachsmesssystem schon so gestaltet ist, dass weitere Funktionsmodule bei Bedarf angeschlossen, entfernt oder geändert werden können (vgl. Sp. 4, Z. 53-61).
Dem Einwand der Patentinhaberin, der Betrieb bei dem aus dem Abstract der JP 63-297149 A bekannten System werde von einem Ablaufprogramm gesteuert und eine Bedienperson liefere lediglich einen Inspektionsbericht an das System ab und greife im Gegensatz zum Streitpatentgegenstand nicht mittels Kommandos in das Steuersystem ein, kann nicht gefolgt werden. Das beanspruchte Radachsmesssystem soll laut Ausführungsbeispiel auch für ein System gelten, das nach dem Einschalten primär von einem Ablaufprogramm gesteuert wird (vgl. Streitpatent, Abs. 0061). Eine Bedienperson führt nach Aufforderung durch das System verschiedene Tätigkeiten aus und gibt Anweisungen an das System wiederum nur nach Aufforderung. Die Anweisung, die von der Bedienperson vorgenommen werden kann, ist fest vorgegeben. Somit umfasst das beanspruchte System nicht nur ein solches, das ohne Ablaufsteuerung auskommt, sondern vor allem auch eines mit Ablaufsteuerung durch ein Programm. Zumindest diese Vorgehensweise entnimmt der Durchschnittsfachmann jedoch der Zielsetzung des Abstracts der JP 63-297149 A. Im Übrigen ergibt sich auch durch den Bezug auf das Radachsmesssystem nach der US 4,761,749, dass Schutz für ein System begehrt wird, das eine Ablaufsteuerung aufweist (vgl. Sp. 4, Z. 29-39). Das Patentbegehren lässt zudem offen, in welchem Umfang Sprachkommandos an das System gegeben werden und was diese bewirken. Daher wäre auch nur eine einzige Sprachmitteilung - und sei dies das Diktieren eines Prüfberichts - ein Kommando im Sinne des Streitpatents.
Demnach ist das Radachsmesssystem nach Patentanspruch 1 des Hilfsantrags nicht patentfähig.
Die rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 8 teilen dieses Schicksal und sind ebenfalls nicht patentfähig.
BPatG:
Beschluss v. 05.02.2007
Az: 9 W (pat) 301/04
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