Bundesgerichtshof:
Urteil vom 21. Oktober 2010
Aktenzeichen: Xa ZR 30/07
(BGH: Urteil v. 21.10.2010, Az.: Xa ZR 30/07)
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 19. Oktober 2006 verkündete Urteil des 3. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts abgeändert.
Das deutsche Patent 43 42 174 wird für nichtig erklärt.
Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits fallen der Beklagten zur Last.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Beklagte ist Inhaberin des deutschen Patents 43 42 174 (Streitpatents), das am 10. Dezember 1993 angemeldet worden ist und ein transdermales therapeutisches System, ein Verfahren zu dessen Herstellung und dessen Verwendung betrifft. Die Patentansprüche 1 und 9 lauten in der Fassung des erteilten Streitpatents:
"1. Transdermales therapeutisches System zur Prophylaxe und zur Vorbehandlung einer Vergiftung durch hochtoxische phosphororganische Nervengifte, dadurch gekennzeichnet, dass es eine pharmazeutische Formulierung mit einer Wirkstoffkombination aus mindestens einem Parasympathikomimetikum und mindestens einem Parasympathikolytikum aufweist.
...
9. Verfahren zur Herstellung eines transdermalen therapeutischen Systems nach einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 8, gekennzeichnet durch die Arbeitsschritte:
I. Herstellen eines wirkstofffreien Laminats durch Mischen von - saurer Polyacrylatlösung - basischem Methacrylat - Triacetin - Aluminiumacetylacetonat - Ethanolzu einer homogenen Lösung und Beschichten einer dehäsiv ausgerüsteten Folie mit der Lösung, Abdampfen des Lösungsmittels, Abdecken des Laminats mit allseitig elastischem Trägergewebe.
II. Herstellen eines scopolaminhaltigen Laminats durch Mischen von - saurer Polyacrylatlösung - Dodecanol - Acetylaceton - Acetylacetonat und - Scopolaminbaseund Beschichten mit dieser Lösung einer dehäsiv ausgerüsteten Folie, Verdampfen des Lösemittels.
III. Herstellen eines physostigminhaltigen Laminats durch Mischen von - saurer Polyacrylatlösung - Dodecanol - Physostigmin - basischem Methacrylat - Aluminiumacetylacetonat - Ethanolund Beschichten mit dieser Lösung einer dehäsiv ausgerüsteten Folie, Verdampfen der Lösemittel.
IV. Entfernen der silikonisierten PE-Folie von den scopolamin- und physostigminhaltigen Laminaten II und III, Transferieren von Laminatteilen II und III von vorgegebener Größe nebeneinander mit der klebenden Seite auf das nach Abziehen der Abdeckfolie offenliegende wirkstofffreie Laminat (I) unter Bildung von zwei getrennten Reservoirteilen, für das Parasympathikomimetikum und das Parasympathikolytikum, Abdecken der Reservoirteile mit einer Schutzfolie, Vereinzeln der Systeme durch Ausstanzen."
Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht patentfähig und der Gegenstand von Patentanspruch 9 sei darüber hinaus nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann ihn ausführen könne. Die Beklagte hat das Streitpatent in erster Instanz in geänderter Fassung mit acht Patentansprüchen verteidigt.
Das Patentgericht hat das Streitpatent unter Abweisung der weitergehenden Klage dadurch teilweise für nichtig erklärt, dass lediglich ein Patentanspruch verbleibt. Der Wortlaut dieses Anspruchs ist weitgehend identisch mit dem Wortlaut von Patentanspruch 9 in der erteilten Fassung, jedoch sind die Worte "Herstellung eines transdermalen therapeutischen Systems nach einem oder mehreren der Ansprüche 1 bis 8" ersetzt worden durch "Herstellung eines transdermalen therapeutischen Systems zur Prophylaxe und zur Vorbehandlung einer Vergiftung durch hochtoxische phosphororganische Nervengifte".
Gegen die Entscheidung des Patentgerichts wenden sich beide Parteien. Die Klägerin begehrt weiterhin die vollständige Nichtigerklärung des Streitpatents. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel der Klägerin entgegen und verteidigt das Streitpatent mit ihrer Berufung zuletzt in einer Fassung, in der Patentanspruch 1 wie folgt lautet:
"1. Transdermales therapeutisches System zur Prophylaxe und zur Vorbehandlung einer Vergiftung durch hochtoxische phosphororganische Nervengifte, das eine pharmazeutische Formulierung mit einer Wirkstoffkombination aus mindestens einem Parasympathikomimetikum und mindestens einem Parasympathikolytikum aufweist, herstellbar durch die Arbeitsschritte: [Der weitere Wortlaut ist identisch mit den Schritten I bis IV aus Patentanspruch 9 in der Fassung des erteilten Patents.]"
Im Auftrag des Senats hat Univ.-Prof. Dr. L. ein schriftliches Gutachten erstellt, das sie in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.
Gründe
Die zulässige Berufung der Beklagten bleibt ohne Erfolg. Die Berufung der Klägerin führt zur Abänderung des angefochtenen Urteils und zur Nichtigerklärung des Streitpatents in vollem Umfang.
I. Das Patentgericht hat seine Entscheidung, mit der es das Streitpatent teilweise für nichtig erklärt und die Klage im Übrigen abgewiesen hat, wie folgt begründet:
Der Gegenstand der in erster Instanz verteidigten Patentansprüche 1 bis 5, 8 und 10 sei durch den Stand der Technik nahegelegt. Aus der Entgegenhaltung K4c (Proceadings, Third International Symposium on Protection against Chemical Warfare Agents, Ume, Juni 1989) ergebe sich, dass sich ein transdermales therapeutisches System mit einer Wirkstoffkombination aus einem Parasympathikomimetikum und einem Parasympathikolytikum zur Prophylaxe und zur Vorbehandlung einer Vergiftung durch hochtoxische phosphororganische Nervengifte im Tierversuch bewährt habe. Die Wirkstoffe seien in zwei getrennten Reservoirteilen enthalten gewesen, die jedoch nicht im gleichen Pflaster angeordnet gewesen seien. Der Fachmann, ein Pharmazeut oder Diplomchemiker mit Erfahrung in der Entwicklung von transdermalen therapeutischen Systemen, habe Anlass gehabt, die in K4c offenbarte Lösung für eine Anwendung beim Menschen in Betracht zu ziehen. Ihm sei ferner beispielsweise durch die deutsche Patentschrift 38 43 239 (K3) nahegelegt worden, die pharmazeutischen Wirkstoffe in einer Matrix zu binden. Zudem sei ihm aus der deutschen Offenlegungsschrift 36 42 931 (L. 174-10) bekannt gewesen, dass die Selbstmedikation von getrennt, aber zeitgleich zu verabreichenden Wirkstoffen erleichtert werde, wenn diese in einem transdermalen therapeutischen System kombiniert würden.
Der in erster Instanz als Patentanspruch 6 verteidigte Verfahrensanspruch erweise sich hingegen als rechtsbeständig. Der Gegenstand dieses Anspruchs sei so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann ihn ausführen könne. Als saure Polyacrylatlösung im Sinne des Streitpatents sei die Lösung eines Polyacrylats anzusehen, in dem (Meth)acrylsäurereste als freie Säuregruppen vorlägen. Solche Copolymerisate seien dem Fachmann am Prioritätstag hinlänglich bekannt gewesen. Der Fachmann habe dem Stand der Technik auch entnehmen können, dass Scopolamin in saurer Lösung nicht zersetzt werde und dass das Stabilitätsoptimum im sauren Bereich bei pH 3,2 bis 3,6 liege. Die Entgegenhaltung K3, die den nächstkommenden Stand der Technik beschreibe, habe dem Fachmann keine Anregung zur Herstellung eines wirkstofffreien Laminats gemäß Arbeitsschritt I und zur Herstellung eines scopolaminhaltigen Laminats gemäß Arbeitsschritt II gegeben. Für die weiteren Entgegenhaltungen gelte nichts anderes.
Dies hält der Nachprüfung im Berufungsverfahren in einem entscheidenden Punkt nicht Stand.
II. Das Streitpatent betrifft ein transdermales therapeutisches System zur Prophylaxe und zur Vorbehandlung einer Vergiftung durch hochtoxische phosphororganische Nervengifte.
1. Bestimmte phosphororganische Gifte, unter anderem das als Pflanzenschutzmittel eingesetzte Nitrostigmin (Parathion, E605) und die Kampfstoffe Tabun, Sarin, Soman und VX (O-Ethyl-S-2-diisopropylaminoethylmethylphosphonothiolat), wirken als Cholinesterasehemmer, das heißt als Hemmstoffe für das Enzym Acetylcholinesterase, das die Wirkung der Überträgersubstanz Acetylcholin beendet. Die Hemmung des Enzyms führt dazu, dass das parasympathische Nervensystem einem Übermaß von Acetylcholin ausgesetzt ist, was zu überschießenden muskarinischen und nikotinischen Wirkungen führt.
Zur Blockierung der überschießenden muskarinischen Wirkungen kann Atropin verabreicht werden, das das parasympathische Nervensystem hemmt, indem es Rezeptoren für Acetylcholin besetzt. Die Normalisierung der nikotinischen Wirkungen kann nach den Ausführungen in der Streitpatentschrift nur durch Verabreichung von Oximen erreicht werden, die die gehemmte Acetylcholinesterase reaktivieren. Eine solche Reaktivierung ist bei den eingangs genannten Giften nur innerhalb eines begrenzten Zeitraums möglich, weil diese relativ schnell - bei Soman nach zwei bis fünf Minuten - zu einer irreversiblen Schädigung der Acetylcholinesterase führen.
Im Stand der Technik war bekannt, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit bei dieser Therapie durch Vorbehandlung mit einem Carbamat, zum Beispiel Pyridostigmin (einer quartären Ammoniumbase) oder Physostigmin (einer tertiären Stickstoffbase), erhöht werden kann. Diese Stoffe wirken ebenfalls als Cholinesterasehemmer. Ihre Wirkung ist jedoch reversibel. Ihre vorbeugende Verabreichung führt dazu, dass die Acetylcholinesterase dem Angriff durch irreversibel wirkende Hemmstoffe entzogen wird, bis diese inaktiviert oder eliminiert sind. Carbamate wirken ebenso wie die erwähnten Giftstoffe parasympathomimetisch, üben also eine Wirkung auf das parasympathische Nervensystem aus, und zwar in der Weise, dass die Acetylcholinesterase gehemmt wird. Um diese im Rahmen der Vorbehandlung unerwünschte Nebenwirkung zurückzudrängen, können zusätzlich parasympatholytische, also die Wirkung auf das parasympathische Nervensystem hemmende Stoffe wie Atropin oder Scopolamin verabreicht werden.
Wie die gerichtliche Sachverständige ergänzend ausgeführt hat, wirkt Pyridostigmin nur peripher, also außerhalb der Blut-/Hirn-Schranke. Physostigmin wirkt auch zentral, hat bei oraler Anwendung aber nur eine kurze Wirkungsdauer.
Das Streitpatent betrifft vor diesem Hintergrund das technische Problem, eine spezielle pharmazeutische Formulierung von Wirkstoffen zur Prophylaxe und Vorbehandlung einer Vergiftung zur Verfügung zu stellen, die eine kontinuierliche gleichmäßige Freisetzung der Wirkstoffe über einen längeren Zeitraum hinweg ermöglicht, eine höhere Schutzwirkung als Atropin und reaktivierendes Oxim und möglichst keine unerwünschten Nebenwirkungen hat.
2. Zur Lösung dieses Problems begehrt das Streitpatent in der im Berufungsverfahren zuletzt verteidigten Fassung Schutz für ein transdermales therapeutisches System, das folgende Merkmale aufweist:
1. Das transdermale therapeutische System ist geeignet zur Prophylaxe und zur Vorbehandlung einer Vergiftung durch hochtoxische phosphororganische Nervengifte.
2. Es weist eine pharmazeutische Formulierung mit einer Kombination aus folgenden Wirkstoffen auf:
a) mindestens ein Parasymphatikomimetikum undb) mindestens ein Parasympathikolytikum.
3. Es ist herstellbar durch die in den verteidigten Patentanspruch 1 aufgenommenen, bisher schon in Patentanspruch 9 in der Fassung des erteilten Patents definierten Arbeitsschritte I bis IV.
3. Einige Merkmale bedürfen näherer Betrachtung.
a) Die Merkmale 1 und 2 bilden den Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des erteilten Patents. Durch das zusätzlich aufgenommene Merkmal 3 und die darin enthaltene Bezugnahme auf die Arbeitschritte II und III werden die Merkmale 2a und 2b dahin konkretisiert, dass als parasympathomimetischer Wirkstoff Physostigmin und als parasympatholytischer Wirkstoff Scopolamin zum Einsatz kommt.
b) Aus der Bezugnahme auf die Arbeitsschritte II bis IV ergibt sich ferner, dass die beiden Wirkstoffe jeweils in ein Laminat eingebunden sind, das auf der Grundlage einer sauren Polyacrylatlösung erstellt werden kann. Der Einsatz eines Polyacrylats führt dazu, dass eine Matrix aus einem Polymer oder einer Polymermischung entsteht, in der die basischen Wirkstoffe Physostigmin und Scopolamin, die mit dem sauren Polyacrylat ein Salz bilden können, verteilt sind. Die beiden Wirkstoffe sind jeweils in einem eigenen Laminat enthalten.
Diese zwei Laminate sind nebeneinander auf einem dritten, durch Arbeitsschritt I näher charakterisierten, wirkstofffreien Laminat angeordnet. Die Trennung der beiden wirkstoffhaltigen Laminate ermöglicht es, dem Körper die Wirkstoffe separat zuzuführen. Die Anbringung auf einer gemeinsamen Trägerschicht stellt sicher, dass die Zuführung dennoch zur gleichen Zeit und an annähernd derselben Körperstelle erfolgt.
c) Die in Arbeitsschritt I vorgesehene Erstellung einer wirkstofffreien Laminatschicht auf der Basis eines sauren Polyacrylats und eines basischen Methacrylats hat den Vorteil, dass das transdermale therapeutische System über seine gesamte Fläche eine Klebeschicht aufweist, wodurch die Haftkraft und damit die Zuverlässigkeit des Gesamtsystems erhöht wird.
Arbeitsschritt I sieht ferner vor, dass das wirkstofffreie Laminat mit einem allseitig elastischen Trägergewebe abgedeckt wird. Hierbei bietet sich die Auswahl eines für Wasserdampf durchlässigen Gewebematerials an, damit der unter den zu erwartenden Einsatzbedingungen aus der Haut austretende Schweiß nach außen abtransportiert werden kann. Aus der im Streitpatent verwendeten Formulierung "allseitig elastisches Trägermaterial" ist jedoch keine diesbezügliche Festlegung zu entnehmen. Auch die Beschreibung enthält keinen Hinweis in diese Richtung.
Auf die Abgabe der Wirkstoffe hat die in Arbeitsschritt I vorgesehene Ausgestaltung des Trägermaterials keine relevanten Auswirkungen. Die Verbindung der beiden wirkstoffhaltigen Laminate über ein drittes, wirkstofffreies Laminat könnte nach den Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen allerdings theoretisch zu einer Diffusion der Wirkstoffe zur Seite und nach oben hin führen. Die im Streitpatent getroffenen Festlegungen lassen jedoch nicht besorgen, dass solche - eher nachteiligen - Wirkungen in einem Ausmaß auftreten, das die Eignung des Systems insgesamt in Frage stellen könnte.
d) Den bei der Definition der Arbeitsschritte I bis III verwendeten Begriff "saure Polyacrylatlösung" hat das Patentgericht zutreffend dahin ausgelegt, dass ein Polyacrylat in einer Lösung vorliegen muss, die freie Säuregruppen aufweist. Diese freien Säuregruppen können auch aus Acryl- oder Methacrylsäureresten bestehen.
Dieses Verständnis ist, wie die gerichtliche Sachverständige bestätigt hat und auch die Klägerin einräumt, technisch sinnvoll. Aus der Streitpatentschrift lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der Begriff in engerem Sinne zu verstehen ist. Auch im Übrigen sind keine besonderen Umstände ersichtlich, die nahelegen könnten, dass der Fachmann, den das Patentgericht zutreffend als Pharmazeuten oder Diplomchemiker mit Erfahrung in der Entwicklung von transdermalen therapeutischen Systemen charakterisiert hat, dem Begriff "saure Polyacrylatlösung" am Prioritätstag einen engeren Sinn beigemessen oder Lösungen, bei denen die freien Säuregruppen aus Acryl- oder Methacrylsäureresten bestehen, nicht in Betracht gezogen hätte, zumal im Stand der Technik Systeme mit einer Matrix auf der Grundlage solcher Lösungen bekannt waren.
Dass die Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamts in einem ähnlich gelagerten Verfahren die Einfügung des Begriffs "Lösung eines sauren Polyacrylats" als unzulässige Verallgemeinerung angesehen hat (K24 Nr. 1), führt zu keiner anderen Beurteilung. Diese Einschätzung wurde darauf gestützt, dass Polyacrylat dort in den Ausführungsbeispielen nur in einem spezifischen Kontext, insbesondere in einer fünfzigprozentigen Lösung erwähnt wird, nicht aber auf Unterschiede zwischen den Begriffen "saure Polyacrylatlösung" und "Lösung eines sauren Polyacrylats".
III. Der Gegenstand des Streitpatents ist in keiner der verteidigten Fassungen patentfähig.
1. Der Gegenstand des Streitpatents ist in beiden Fassungen neu (§ 3 PatG). Weder das in Merkmal 3 beschriebene, aus den Arbeitsschritten I bis IV bestehende Herstellungsverfahren noch ein mit diesem Verfahren herstellbares transdermales therapeutisches System sind in einer der Entgegenhaltungen vollständig beschrieben.
2. Der Gegenstand des Streitpatents ist jedoch durch den Stand der Technik nahegelegt (§ 4 PatG).
a) Die Merkmale 1 und 2 sind unter anderem in dem in der K4c auf den Seiten 151 bis 156 abgedruckten Aufsatz von Levy et al. offenbart, deren Vorveröffentlichung im Berufungsverfahren nicht mehr in Zweifel gezogen worden ist.
Dort wird über eine Studie berichtet, als deren Ziel die Entwicklung eines langwirkenden transdermalen Systems für die Verabreichung von Physostigmin angegeben wird. Im Rahmen der Studie wurden Versuchsreihen mit Meerschweinchen und Schweinen durchgeführt, bei denen Physostigmin bei einer Testgruppe mit transdermal wirkenden Pads und bei einer Vergleichsgruppe durch subkutane bzw. intravenöse Infusion verabreicht wurde. Mit einem zeitlichen Versatz von zweieinhalb Stunden wurde ferner ein Pad mit Scopolamin (Scopoderm) angebracht. Als Ergebnis der Studie wird angegeben, eine einzelne Applikation von transdermalem Physostigmin bewirke ein gleich bleibendes Niveau der Cholinesterasehemmung für drei Tage. Vollständiger Schutz sei durch eine prophylaktische Kombinationsbehandlung mit Physostigmin und Scopoderm erreicht worden, und zwar 24 Stunden nach der Pad-Anbringung. Die transdermale Kombination von Physostigmin und Scopoderm sei auch als Vorbehandlung gegen höhere Dosen von Soman wirksam, wenn eine Nachbehandlung mit Atropin und Troxogonin erfolge.
Damit ist offenbart, dass die transdermale Verabreichung einer Kombination aus Physostigmin und Scopoderm ein geeignetes Mittel zur Prophylaxe und zur Vorbehandlung einer Vergiftung durch das hochtoxische Nervengift Soman darstellt.
b) Das in Merkmal 3 beschriebene Herstellungsverfahren, das nach dem Hilfsantrag den alleinigen Gegenstand des Streitpatents bilden soll, ist durch mehrere Veröffentlichungen nahegelegt.
Der Fachmann, der mit der Entwicklung eines transdermalen therapeutischen Systems zur Anwendung dieser Wirkstoffe beim Menschen betraut war, hatte Veranlassung, nach Möglichkeiten zu suchen, das unter anderem in K4c geschilderte Verfahren zu vereinfachen. Gegenstand der Tierversuche war in erster Linie die Frage, ob eine transdermale Verabreichung der beiden Wirkstoffe zu den gewünschten Ergebnissen führt. Es blieb daher klärungsbedürftig, mit welchen Mitteln die Wirkstoffe unter den für die Anwendung beim Menschen im Vordergrund stehenden Einsatzbedingungen einfach und sicher verabreicht werden können. Dabei lag es nahe, vorhandene Lösungen für die Applikation der beiden Wirkstoffe beim Menschen heranzuziehen.
(1) Angesichts dessen hatte der Fachmann Anlass, sowohl für Physostigmin als auch für Scopamin eine Wirkstoffschicht aus einer Polymermatrix in Betracht zu ziehen. Für Physostigmin ergab sich eine entsprechende Anregung unter anderem aus den deutschen Patentschriften 38 43 239 (K3) und 38 43 238 (K33), für Scopamin unter anderem aus den US-Patentschriften 5 079 008 (K23) und 4 490 322 (K25).
In der K3 sind ein transdermales therapeutisches System mit Physostigmin als wirksamem Bestandteil zur Behandlung der Alzheimerschen Krankheit und ein Verfahren zu seiner Herstellung offenbart. Die Wirkstoffschicht besteht aus einer Polymermatrix und dem Wirkstoff. Als Bestandteile der Polymermatrix werden ein Grundpolymer und gegebenenfalls die üblichen Zusätze angegeben (Sp. 2 Z. 34-38). Als besonders bevorzugte Grundpolymere werden unter anderem Polymere aus Acrylat und/oder Methacrylat genannt (Sp. 2 Z. 47-50). Als bevorzugt werden Acrylatcopolymere aus 2-Ethylhexylacrylat, Vinylacetat und Acrylsäure sowie Methacrylate auf der Basis von Dimethylaminoethylmethacrylat genannt (Sp. 2 Z. 53-58). Zur Herstellung wird der Wirkstoff zusammen mit den Bestandteilen der haftklebenden Wirkstoffschicht gegebenenfalls in Lösung homogen vermischt und auf eine wirkstoffundurchlässige Deckschicht aufgestrichen, worauf gegebenenfalls das Lösemittel entfernt wird. Anschließend wird die Klebeschicht mit einer Schutzschicht versehen (Sp. 3 Z. 22-30).
In der K33 ist ein transdermales therapeutisches System mit Physostigmin als wirksamem Bestandteil offenbart. Das Wirkstoffdepot besteht aus einem textilen Flächengebilde, das zwischen einer Deckschicht und einer Polymermatrix angeordnet ist (S. 3 Z. 27 f.). Als bevorzugtes Material für die Matrix werden unter anderem Blockcopolymere aus Acrylat und/oder Methacrylat angeführt (S. 3 Z. 12-14). Hierbei werden unter anderem Acrylatcopolymere aus 2-Ethylhexylacrylat, Vinylacetat und Acrylsäure sowie Methacrylate auf der Basis von Dimethylaminoethylmethacrylat genannt (S. 3 Z. 16-19). Während der Lagerung tritt der Wirkstoff in die Matrix über und sättigt diese, so dass sie zur Reservoirschicht wird (S. 3 Z. 5 f.). Im Depot ist Physostigmin in einer Fettsäure gelöst, beispielsweise in Ölsäure (S. 3 Z. 30 ff.). Ergänzend wird ausgeführt, die Löslichkeit des Wirkstoffs in der Matrix werde zur Erzielung einer ausreichenden Freisetzung verringert, indem in die Matrix ein hoher Anteil eines basischen Polymers, beispielsweise ein Copolymerisat auf Basis von Dimethylaminoethylmethacrylat und anderen neutralen Methacrylsäureestern eingearbeitet werde (S. 2 Z. 56-59).
In der K23 werden ein monolithisches System für die transdermale Verabreichung von hautpermeablen Wirkstoffen und ein Verfahren zu dessen Herstellung offenbart. Der Wirkstoff ist in einer Klebeschicht aus permeablem Polymermaterial angeordnet (Sp. 2 Z. 3 f.). Als geeignete Polymermaterialien werden unter anderem hydrophile Polymere von Monoestern ungesättigter Carbonsäuren, zum Beispiel Acrylsäure oder Methacrylsäure genannt (Sp. 2 Z. 60-62), als bevorzugter Wirkstoff unter anderem Scopolamin (Sp. 3 Z. 60-62). Zusätzlich ist eine Kombination aus Eukalyptol (1,8-Cineol) und einem zusätzlichen Fluxverstärker vorgesehen (Sp. 2 Z. 7-9). Als geeignete Fluxverstärker werden unter anderem Alkohole mit 1 bis 12 Kohlenstoffatomen genannt (Sp. 4 Z. 46-48).
In der K25 ist ein Verfahren zur Herstellung einer pharmazeutischen Zusammensetzung in Form eines Polyacrylatfilms offenbart. Hierbei werden Polyacrylat-Copolymere aus Methyl- oder Ethylestern der Acrylsäure und Methacrylsäure eingesetzt (Sp. 2 Z. 22-24). In Ausführungsbeispiel 3 wird als Wirkstoff Scopolamin eingesetzt (Sp. 4 Z. 25-27). Ergänzend wird darauf hingewiesen, die Freisetzung von pharmazeutischen Substanzen, die sauer oder basisch seien, könne durch den Einsatz von Polyacrylaten mit sauren oder basischen Gruppen gesteuert werden (Sp. 3 Z. 1-7).
Damit sind, wie in dem von der Klägerin vorgelegten Gutachten von Prof. L. (K34) zutreffend ausgeführt und von der gerichtlichen Sachver- ständigen bestätigt wird, die Bestandteile für die in den Arbeitsschritten II und III hergestellten Laminate auch in ihrer Kombination offenbart. Soweit das Streitpatent weitere Stoffe nennt, handelt es sich um übliche Zusatzstoffe, deren Verwendung auch in Kombination mit den übrigen Stoffen hier durch den Stand der Technik nahegelegt war.
(2) Angesichts der zu erwartenden Einsatzbedingungen hatte der Fachmann darüber hinaus Anlass, sich mit Lösungen zu befassen, bei denen zwei Wirkstoffe getrennt, aber dennoch mit nur einem System zugeführt werden können. Eine Anregung dazu ergab sich aus der Veröffentlichung L. 174-10.
In dieser Offenlegungsschrift ist ein mehrfach unterteiltes transdermales Pflaster mit mehreren, in getrennten Kammern angeordneten Wirkstoffen offenbart. Als Stand der Technik werden Pflaster beschrieben, bei denen der Wirkstoff zwischen einer schützenden Deckschicht und einer permeablen porösen Membran angebracht ist, die mit einer darauf angebrachten Klebschicht auf der Haut befestigt wird (Sp. 4 Z. 41-46). Vorgeschlagen wird demgegenüber, das Wirkstoffreservoir durch Stege oder Nähte in mehrere voneinander getrennte Kammern zu unterteilen (Sp. 4 Z. 50-55). Die einzelnen Kammern können mit unterschiedlichen Wirkstoffen, mit demselben Wirkstoff in unterschiedlicher Konzentration, mit unterschiedlichen pharmazeutischen Vehikeln zur Steuerung der Durchflussgeschwindigkeit, mit unterschiedlichen Hilfsstoffen oder Zusätzen wie Penetrationsverbesserern oder mit unterschiedlichen Membranmaterialien versehen werden (Sp. 5 Z. 36-50). Die Füllung der Kammern mit unterschiedlichen Wirkstoffen wird als vorteilhaft angesehen, weil sie die Selbstmedikation von sonst getrennt zu verabreichenden Präparaten erleichtere (Sp. 5 Z. 55-60).
Damit ist zwar nicht die vom Streitpatent vorgeschlagene Lösung offenbart, bei der der Wirkstoff nicht in Kammern, sondern in einer Polymermatrix vorrätig gehalten wird. Der Fachmann hatte aber Anlass, das in der Offenlegungsschrift offenbarte Prinzip, mehrere separate wirkstoffhaltige Schichten auf einem gemeinsamen Träger anzuordnen, auf anders aufgebaute transdermale therapeutische Systeme zu übertragen. Das dieser Veröffentlichung zu Grunde liegende Problem, ein System mit verschiedenen separaten Wirkstoffen zu schaffen, stellte sich unabhängig davon, nach welchem Prinzip der Wirkstoff im System vorrätig gehalten wird. Dies beruht nicht auf Besonderheiten, die den Aufbau nach dem Reservoirprinzip oder einem sonstigen Bauprinzip zwingend voraussetzten. Damit hatte der Fachmann Veranlassung, die "2-in-1"-Lösung auch für transdermale therapeutische Systeme in Form einer Polymermatrix in Betracht zu ziehen.
(3) Die im Streitpatent beanspruchte konkrete Ausgestaltung des damit nahegelegten Lösungsansatzes beruht ebenfalls nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Zwar gab es sowohl bei der Auswahl der Grundstoffe für die beiden wirkstoffhaltigen Laminate als auch bei der Auswahl des diese verbindenden Trägermaterials verschiedene Möglichkeiten. Die dem Streitpatent insoweit zu Grunde liegenden Auswahlentscheidungen halten sich jedoch, wie die gerichtliche Sachverständige ausgeführt hat, im Rahmen der durch die Entgegenhaltungen nahegelegten Alternativen und beruhen auch in ihrer Kombination nicht auf erfinderischer Tätigkeit.
Zur Ausbildung eines "2-in-1"-Systems bot es sich an, die beiden Laminate auf einer gemeinsamen Trägerschicht anzuordnen. Diese Trägerschicht musste zwar nicht zwingend mit einer eigenen Klebeschicht versehen werden. Angesichts der für die Anwendung beim Menschen hauptsächlich in Betracht kommenden Einsatzszenarien bestand aber Veranlassung, das System nicht nur im Bereich der beiden wirkstoffhaltigen Schichten, sondern über seine gesamte Fläche hinweg klebbar auszugestalten. Als Ausgangsstoffe für die wirktstofffreie Kleberschicht standen verschiedene Materialien zur Auswahl. Das in Arbeitsschritt I vorgeschlagene Laminat auf der Basis einer sauren Polyacrylatlösung und eines basischen Methacrylats gehörte, wie die gerichtliche Sachverständige in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat, zu den gängigen Auswahlmöglichkeiten. Die Entscheidung dafür war durch den Stand der Technik auch dann nahegelegt, wenn es mehrere gleichwertige Alternativen gab. Dies gilt auch für die - nach dem Streitpatent ohnehin nicht zwingend erforderliche - Entscheidung zu Gunsten eines dampfdurchlässigen Trägermaterials.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG in Verbindung mit § 91 Abs. 1 ZPO.
Keukenschrijver Mühlens Bacher Hoffmann Schuster Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 19.10.2006 - 3 Ni 46/04 -
BGH:
Urteil v. 21.10.2010
Az: Xa ZR 30/07
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