Bundesgerichtshof:
Urteil vom 18. September 2008
Aktenzeichen: IX ZR 174/07
(BGH: Urteil v. 18.09.2008, Az.: IX ZR 174/07)
Tenor
Die Revision gegen das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Konstanz vom 23. März 2007 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Am 18. Mai 2005 verursachte die Klägerin mit ihrem PKW einen Verkehrsunfall mit Personenschaden. Sie wurde deswegen sowohl wegen fahrlässiger Körperverletzung als auch wegen Vorfahrtsverletzung angezeigt. Am 20. Mai 2005 beauftragte sie einen Rechtsanwalt mit der zivilrechtlichen Schadensregulierung und mit der Wahrnehmung ihrer Rechte im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Die Beklagte erteilte der Klägerin aufgrund des mit ihr bestehenden Versicherungsvertrages mit Schreiben vom 10. Juni 2005 Deckungszusage.
Mit Schriftsatz vom 1. Juni 2005 meldete sich der Anwalt der Klägerin gegenüber der ermittelnden Polizeidienststelle unter Vorlage einer Vollmacht, die sich auch auf ein etwaiges Ordnungswidrigkeitenverfahren bezog, als Verteidiger. Er führte aus, der Vorwurf einer Vorfahrtsverletzung sei unbegründet, und beantragte die Einstellung des Verfahrens. Nach Akteneinsicht verfasste der Verteidiger einen weiteren Schriftsatz vom 27. Juni 2005 gegenüber der Staatsanwaltschaft und wiederholte unter Vertiefung seines Vorbringens den Antrag auf Verfahrenseinstellung.
Am 5. Juli 2005 unterrichtete die Staatsanwaltschaft den Verteidiger, das Ermittlungsverfahren gegen die Klägerin sei nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, die Sache werde zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten an die Verwaltungsbehörde abgegeben. Hiervon setzte der Verteidiger die Beklagte mit Schreiben vom 12. Juli 2005 in Kenntnis. Am 21. Juli 2005 erhielt der Verteidiger von der Bußgeldbehörde die Nachricht, das Ordnungswidrigkeitenverfahren sei eingestellt. Einen gesonderten Schriftsatz an die Bußgeldbehörde hat der Verteidiger nicht verfasst.
Die Beklagte hat der Klägerin die auf 337,56 € angesetzte Anwaltsvergütung für das Ordnungswidrigkeitenverfahren nicht erstattet. Der hierauf bezogenen Zahlungsklage hat das Amtsgericht stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Berufung hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klagabweisungsantrag hinsichtlich der Erledigungsgebühr Nr. 5115 VV RVG in Höhe von 156,60 € weiter.
Gründe
Die Revision hat keinen Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Deckungszusage der Beklagten vom 10. Juni 2005 beziehe sich auf die Vertretung im Ordnungswidrigkeitenverfahren. Der Anwalt der Klägerin sei im Bußgeldverfahren tätig geworden. Seine Schriftsätze vom 1. Juni und 27. Juni 2005 hätten auch im Bußgeldverfahren "fortgewirkt". Diese Schriftsätze hätten sich auf die polizeilichen Ermittlungen, die sowohl zum staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren als auch zum Bußgeldverfahren gehörten, bezogen. Im Hinblick auf § 17 Nr. 10 RVG sei es weder gerechtfertigt, für das Entstehen der Gebühr nach Nr. 5115 VV RVG eine Wiederholung der in den vorgenannten Schriftsätzen enthaltenen Ausführungen zu verlangen, noch das Entstehen der Gebühr auszuschließen, wenn sich eingereichte Schriftsätze auch im Hinblick auf die Einstellung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens auswirkten.
II.
Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung stand.
Zu Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass dem Anwalt der Klägerin die Erledigungsgebühr nach Nr. 5115 VV RVG zustand und hierfür die Beklagte als Rechtsschutzversicherung aufzukommen hat.
1. Gemäß Nr. 5115 Abs. 1 Nr. 1 VV RVG entsteht die Erledigungsgebühr als zusätzliche Gebühr, wenn das Ordnungswidrigkeitenverfahren durch die anwaltliche Mitwirkung endgültig eingestellt wird. Nach Nr. 5115 Abs. 2 VV RVG entsteht sie nicht, wenn eine auf Förderung des Verfahrens gerichtete Tätigkeit des Anwalts nicht ersichtlich ist.
a) Nr. 5115 Abs. 1 Nr. 1 VV RVG übernimmt, wie die für das Strafverfahren gleichlautende Bestimmung der Nr. 4141 Abs. 1 Nr. 1 VV RVG, den Grundgedanken der Regelung des § 84 Abs. 2 BRAGO (vgl. Entwurf der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts, BT-Drucks. 15/1971, S. 227 zu Nr. 4141 VV). Diese war geschaffen worden, um Tätigkeiten des Verteidigers zu honorieren, die zu einer Vermeidung der Hauptverhandlung und damit beim Verteidiger zum Verlust der Hauptverhandlungsgebühr führten (vgl. Entwurf der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Kostengesetzen und anderen Gesetzen, BT-Drucks. 12/6962, S. 106). Sie galt gemäß § 105 Abs. 2 Satz 3 BRAGO auch für das Ordnungswidrigkeitenverfahren. Die Neuregelung in Nr. 5115 und Nr. 4141 VV RVG hat diesen Ansatz aufgegriffen, indem dem Rechtsanwalt in den dort genannten Fällen eine zusätzliche Gebühr in Höhe der jeweiligen Verfahrensgebühr zugebilligt wird. Die Zusatzgebühr der Nr. 5115 VV RVG soll, wie die Vorgängerregelung, den Anreiz, Verfahren ohne Hauptverhandlung zu erledigen, erhöhen und damit zu weniger Hauptverhandlungen führen (vgl. BT-Drucks. 15/1971, S. 227 f. zu Nr. 4141 VV).
b) Nach einhelliger Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum bedeutet Mitwirkung im Sinne der Nr. 5115 VV RVG, dass der Verteidiger durch seine Tätigkeit die endgültige Einstellung des Verfahrens zumindest gefördert haben muss. Es genügt hierfür jede Tätigkeit, die zur Förderung der Verfahrenserledigung geeignet ist (LG Stralsund AGS 2005, 442; AnwK-RVG/N. Schneider, 3. Aufl. VV 5115 Rn. 28; Burhoff, RVG, 2. Aufl. Nr. 5115 VV Rn. 9 f., 15; Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG, 18. Aufl. Nr. 5115 VV Rn. 6; Hartmann, Kostengesetze, 38. Aufl. Nr. 5115 Rn. 1; Hartung in Hartung/Römermann/Schons, RVG, 2. Aufl. Nr. 5115 Rn. 8, 15; Enders JurBüro 2006, 393, 395; ebenso zu § 84 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BRAGO OLG Düsseldorf RPfleger 2003, 41; LG Köln RPfleger 2001, 452; AG Hamburg MDR 1999, 831, 832). Die Abgabe einer Einlassung mit Einstellungsantrag, wie vorliegend die beiden Schriftsätze vom 1. Juni und 27. Juni 2005, ist ausreichend (AnwK-RVG/N. Schneider, aaO Rn. 29; Burhoff, RVG aaO Rn. 10; Hartung, aaO Rn. 15).
c) Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass hinsichtlich der Erledigungsgebühr der Nr. 1002 VV RVG eine anwaltliche Mitwirkung nur dann für gegeben erachtet wird, wenn der Anwalt eine besondere, nicht nur unwesentliche und gerade auf die außergerichtliche Erledigung gerichtete Tätigkeit entfaltet hat (BFH BFH/NV 2007, 1109, 1110; BSG JurBüro 2007, 584 f. [auch zur gleichlautenden Bestimmung der Nr. 1005 VV RVG]; AnwK-RVG/Wolf, aaO VV 1002 Rn. 18). Nr. 1002 VV RVG betrifft unter anderem Verwaltungsstreitigkeiten, deren Gegenstand ein begehrter oder ein mit einem Rechtsbehelf angefochtener oder abgelehnter Verwaltungsakt ist. Diese Regelung geht auf § 24 BRAGO zurück (BT-Drucks. 15/1971, S. 204 f zu Nr. 1002 VV) und stimmt nicht mit Nr. 5115 VV RVG überein, so dass sich die zu Nr. 1002 entwickelten Rechtsgrundsätze nicht auf Nr. 5115 VV RVG übertragen lassen. Nr. 1002 VV RVG weist keine den Grad der Mitwirkung konkretisierende Regelung auf, wie sie in Nr. 5115 Abs. 2 und Nr. 4141 Abs. 2 VV RVG ausdrücklich aufgenommen wurde. Nach Nr. 5115 Abs. 2 VV RVG genügt für das Anfallen der Zusatzgebühr ein Beitrag "zur Förderung des Verfahrens". Dies ist ersichtlich weniger als eine Mitwirkung "zur Erledigung" des Verfahrens (Hartmann, aaO). Dementsprechend wurde auch bereits zu § 84 Abs. 2 BRAGO der Standpunkt vertreten, dass der Gesetzeswortlaut dieser Bestimmung an die Mitwirkung des Rechtsanwalts geringere Anforderungen stellt als im Falle des § 24 BRAGO (AG Hamburg MDR 1999 aaO). Sinn und Zweck der Regelung der Nr. 5115, den Verteidiger zu einer frühzeitigen Hinwirkung auf eine Verfahrenseinstellung zu bewegen, sprechen ebenfalls dafür, den zu Nr. 1002 VV RVG entwickelten Maßstab einer qualifizierten erledigungsgerichteten Mitwirkung nicht auf die hier vorliegende Fallgestaltung zu übertragen.
2. Entgegen der Ansicht der Revision ist es nicht notwendig, dass die zur Förderung des Verfahrens gebotene Tätigkeit gesondert für das Ordnungswidrigkeitenverfahren erfolgt. Erforderlich ist nur, dass die Tätigkeit auch die Ordnungswidrigkeit betroffen hat. Die beiden Schriftsätze des Anwalts der Klägerin haben sich mit der Frage befasst, ob die Klägerin den Verkehrsunfall fahrlässig herbeigeführt hat. Dies wurde jeweils mit konkreten, auf den Unfallhergang bezogenen Erwägungen verneint. Diese Ausführungen betrafen sowohl den Vorwurf einer fahrlässigen Körperverletzung als auch den des fahrlässigen Vorfahrtsverstoßes. Wie das Berufungsgericht festgestellt hat, haben diese Erklärungen im Ordnungswidrigkeitenverfahren fortgewirkt. Es wäre reine Förmelei, für das Entstehen der Erledigungsgebühr gesonderte, an die Bußgeldbehörde gerichtete Schriftsätze zu verlangen, die möglicherweise den bereits gegenüber der Staatsanwaltschaft gehaltenen Vortrag wiederholen (AnwK-RVG/N. Schneider, aaO VV 4141 Rn. 40; Burhoff, RVG aaO Nr. 4141 VV Rn. 9; Burhoff in Gerold/Schmidt, aaO Nr. 4141 VV Rn. 11; ähnlich auch LG Düsseldorf JurBüro 2007, 83; anders wohl Schmahl in Riedel/Sußbauer, RVG 9. Aufl. VV Teil 5 Rn. 61 ["eigenständiger Beitrag"]). Zudem würde hierdurch die Ermittlungsakte nur unnötig aufgebläht.
Ganter Kayser Gehrlein Vill Fischer Vorinstanzen:
AG Überlingen, Entscheidung vom 20.10.2006 - 1 C 557/06 -
LG Konstanz, Entscheidung vom 23.03.2007 - 11 S 209/06 E -
BGH:
Urteil v. 18.09.2008
Az: IX ZR 174/07
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