Bundespatentgericht:
Beschluss vom 11. Oktober 2010
Aktenzeichen: 9 W (pat) 406/05
(BPatG: Beschluss v. 11.10.2010, Az.: 9 W (pat) 406/05)
Tenor
Das Patent wird widerrufen.
Gründe
I.
Das Deutsche Patentund Markenamt hat nach Prüfung das am 6. Februar 2004 angemeldete Patent mit der Bezeichnung
"Kraftfahrzeug mit einer Einrichtung zur kombinierten Anzeige des aktuellen Einoder Aus-Status mehrerer Systeme zur Unterstützung des Fahrers"
erteilt. Gegen das Patent hat die S... AG Einspruch erhoben. In einer ausführlichen Einspruchsbegründung verweist sie auf vier einschlägige, im Prüfungsverfahren vom Deutschen Patentund Markenamt nicht aufgefundene Druckschriften. In drei dieser Druckschriften sei ein Fahrzeug offenbart, das den Streitgegenstand neuheitsschädlich vorwegnehme.
Die Patentinhaberin verteidigt das Streitpatent gemäß Hauptantrag in der erteilten Fassung und tritt dem Einspruchsvorbringen in allen Punkten entgegen. In der mündlichen Verhandlung überreicht sie einen Hilfsantrag mit einem geänderten Patentanspruch 1. Die vorgenommene Anspruchsänderung stelle eine Beschränkung dar und sei daher zulässig. In seiner jeweils verteidigten Fassung sei der Streitgegenstand neu und durch den in Betracht gezogenen Stand der Technik nicht nahegelegt. Sie beantragt, das Patent aufrecht zu erhalten, hilfsweise das Patent beschränkt aufrecht zu erhalten gemäß Hilfsantrag 1, überreicht in der mündlichen Verhandlung vom 11. Oktober 2010, Beschreibung und Figuren 1 bis 3 gemäß Patentschrift.
Die Einsprechende beantragt, das Patent zu widerrufen.
Sie überreicht in der mündlichen Verhandlung die D 5/DE 102 25 385 A1, welche in einem parallelen europäischen Prüfungsverfahren berücksichtigt worden sei, für dessen Anmeldungsgegenstand die Priorität des Streitpatents in Anspruch genommen wurde. Sie führt dazu aus, der Streitgegenstand sei durch die Anzeigevorrichtung gemäß D 5 neuheitsschädlich vorbekannt bzw. ergebe sich daraus in Verbindung mit der Anzeige gemäß D 1/DE 101 31 478 A1 für einen durchschnittlichen Fachmann in naheliegender Weise.
Der Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet:
Kraftfahrzeug umfassend mehrere einund ausschaltbare Systeme zur Unterstützung des Fahrers, insbesondere ein Spurhalteund/oder Abstandshalte-System und/oder ein Spurwechselassistenzsystem, und eine Einrichtung zur kombinierten Anzeige des aktuellen Einoder Aus-Status der mehreren Systeme in einem einzigen entsprechend variierbaren optischen Kombinationssymbol, dadurch gekennzeichnet, dass die Einrichtung (3) bei wenigstens einem eingeschalteten System zur Ermittlung wenigstens einer Information bezüglich des aktuellen Funktionsstatus des eingeschalteten Systems sowie zur Anzeige der wenigstens einen Information bezüglich des aktuellen Funktionsstatus in dem gegenüber der Anzeige des Einoder Aus-Status um wenigstens eine Darstellungsmöglichkeit zur Anzeige der Information bezüglich des Funktionsstatus erweiterten Kombinationssymbol (4) ausgebildet ist.
Rückbezogene Patentansprüche 2 bis 9 sind diesem Patentanspruch 1 nachgeordnet.
Der geltende Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag lautet (Änderungen gegenüber dem vorstehenden Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag sind durchgestrichen bzw. fett gedruckt):
Kraftfahrzeug umfassend mehrere einund ausschaltbare Systeme zur Unterstützung des Fahrers, insbesondere ein Spurhalteund/oder Abstandshalte-System und/oder ein Spurwechselassistenzsystem, und eine Einrichtung zur kombinierten Anzeige des aktuellen jeweiligen Einoder Aus-Status der mehreren Systeme in einem einzigen entsprechend variierbaren optischen Kombinationssymbol, dadurch gekennzeichnet, dass als Systeme ein Spurhalte-System, über das die aktuell befahrene Spur anhand der Fahrbahnmarkierungen und die vom Fahrer gewünschte Fahrtrichtung erkannt und verglichen werden und in Abhängigkeit des Vergleichsergebnisses gegebenenfalls eine Warnung vor dem Verlassen der Spur ausgegeben werden kann, und ein Abstandshalte-System, über das die eigene Fahrzeuggeschwindigkeit und der Abstand zu einem erfassten vorausfahrenden Fahrzeug in Abhängigkeit von einer vom Fahrer gesetzten Wunschgeschwindigkeit und gegebenenfalls einem gewünschten Abstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug automatisch regelbar sind, vorgesehen sind, deren Einoder Aus-Zustand gemeinsam in dem einzigen Kombinationssymbol anzeigbar ist, und dassdie Einrichtung (3) bei wenigstens einem eingeschalteten System zu jedem dieser Systeme, wenn es eingeschaltet ist, zur Ermittlung wenigstens einer Information bezüglich des aktuellen Funktionsstatus des eingeschalteten Systems sowie zur Anzeige der wenigstens einen Information bezüglich des aktuellen Funktionsstatus in dem gegenüber der Anzeige des Einoder Aus-Status pro System um wenigstens eine dem jeweiligen System zugeordnete Darstellungsmöglichkeit zur Anzeige der Information bezüglich des Funktionsstatus erweiterten Kombinationssymbol (4) ausgebildet ist.
Rückbezogene Patentansprüche 2 bis 7 sind diesem Patentanspruch 1 nachgeordnet.
II.
Die Zuständigkeit des Bundespatentgerichts ist durch § 147 Abs. 3 Satz 1 PatG a. F. begründet.
Der Einspruch ist unbestritten zulässig. Er hat auch in der Sache Erfolg.
Zulässigkeit des Patentbegehrens Die geltenden Patentansprüche 1 bis 9 gemäß Hauptund 1 bis 7 gemäß Hilfsantrag sind unbestritten zulässig, denn sie ergeben sich ohne Weiteres aus den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen sowie aus der Streitpatentschrift.
A) Zum Hauptantrag Das streitgegenständliche Kraftfahrzeug ist zweifellos gewerblich anwendbar. Es ist allerdings nicht mehr neu, denn die am Anmeldetag des Streitpatents bekannte D 5 offenbart bereits ein Kraftfahrzeug mit allen Merkmalen, die im Patentanspruch 1 des Streitpatents enthalten sind.
In der D 5 ist ein Kraftfahrzeug beschrieben, das über mehrere einund ausschaltbare Systeme zur Unterstützung des Fahrers verfügt, vgl. insb. Anspruch 1 sowie die Figuren 9 bis 12 i. V. m. der zugehörigen Beschreibung Abs. [0027] bis [0030] und [0081] bis [0096]. Als Beispiele für Unterstützungssysteme sind in Abs. [0084] konkret ein Spurhalte-System und ein Abstandshalte-System genannt. Das eingeschaltete Spurhalte-System wird durch ein schematisches Diagramm 46 symbolisiert, das vom Fahrersitz gesehen eine symbolische Fahrbahn zeigt, vgl. insb. Sp. 12 Z. 9 bis 11 und nachstehende Fig. 9A.
Als Symbol für das eingeschaltete und einen bestimmten Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug ermittelte Abstandshalte-System wird ein farbiges schematisches Diagramm 52 angezeigt, das vom Fahrersitz aus gesehen, die symbolische Rückseite eines Autos zeigt, vgl. insb. Sp. 12 Z. 19 bis 22 sowie Z. 35 bis 37 und nachstehende Fig. 9B.
Wie beispielhaft in der nachstehenden Fig. 9C gezeigt ist, wird der aktuelle Einoder Aus-Status aller Fahrerunterstützungssysteme angezeigt durch eine Gesamt-Betriebsanzeige 48 sowie durch die Einblendung der jeweiligen Symbole für das jeweilige Unterstützungssystem, vgl. insb. Abs. [0027] sowie [0084].
Durch die Kombination der Information bezüglich des Spurhalte-Systems gemäß Fig. 9A mit der Information bezüglich des Abstandshalte-Systems gemäß Fig. 9B in der kombinierten Anzeige gemäß Fig. 9C erfolgt die kombinierte Anzeige in einem einzigen entsprechend variierbaren optischen Kombinationssymbol.
Falls nur die Fahrerunterstützung zum Spurhalten eingeschaltet ist, ermittelt eine sogenannte Fahrzeugzustandsbestimmungseinheit 30 aufgrund von Sensorinformationen 26/27 den aktuellen Funktionszustand und zeigt diese Information in dem Kombinationssymbol an, vgl. insb. Abs. [0085] bis [0088] i. V. m. Fig. 10 A-C sowie Fig. 1.
Über die bloße Anzeige des Einoder Aus-Status hinaus ermöglicht die Fahrzeugzustandsbestimmungseinheit 30 bei wenigstens dem eingeschalteten Abstandshalte-System auch eine weitere Darstellung bezüglich des Funktionsstatus in dem erweiterten Kombinationssymbol. Falls nämlich der Abstand von dem vorausfahrenden Fahrzeug zunimmt, kann das Symbol 52 kleiner angezeigt werden, "so dass der Fahrer erkennt, dass sich das vorausfahrende Fahrzeug von diesem Fahrzeug, das der Fahrer selbst fährt, ablöst bzw. trennt.", vgl. insb. Abs. [0095]. Ausdrücklich unterschieden wird zwischen der Darstellung einer "Fahrzeug vorauserkannt-Information 49" sowie einer "Fahrzeugvoraus-Trenn-Information 52", vgl. insb. Abs. [0097] sowie Figuren 11 B und 11 C. Diese weiteren Darstellungen gehen zweifelsfrei über die bloße Anzeige des Einoder Aus-Status hinaus.
Somit besteht zwischen dem vorveröffentlichen Stand der Technik gemäß D 5 und dem Streitgegenstand gemäß Patentanspruch 1 kein Unterschied.
Mithin ist der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag nicht patentfähig.
Sein Schicksal teilen die darauf zurückbezogenen Patentansprüche 2 bis 9.
B) Zum Hilfsantrag Das streitgegenständliche Kraftfahrzeug ist zweifellos gewerblich anwendbar, es mag auch neu sein. Allerdings ergibt es sich für einen durchschnittlichen Fachmann aus der D 5 in Verbindung mit seinem Fachwissen bzw. der D 1 ohne erfinderische Tätigkeit.
In Übereinstimmung mit den Beteiligten geht der Senat bei seiner technischen Beurteilung von einem Durchschnittsfachmann aus, der eine Ausbildung als Ingenieur der Elektrotechnik oder als Physiker hat. Bei einem Kfz-Hersteller oder -Zulieferer ist er mit der Konstruktion bzw. Applikation von Kfz-Anzeigevorrichtungen für Fahrerassistenzsysteme befasst, wie eines beispielsweise in der D 5 beschrieben ist. Er ist kein Berufsanfänger, sondern verfügt bereits über mehrere Jahre Berufserfahrung. Dieser Fachmann hat nicht nur einschlägige elektrotechnische Kenntnisse sowie anwendungstechnisch notwendiges Fachwissen über das anzuzeigende Signalaufkommen. Um insbesondere bildschirmunterstützte Anzeigevorrichtungen entwickeln zu können, verfügt er außerdem über die notwendigen Software-Kenntnisse zur Darstellung aller Arten und Formen von Schriften, Symbolen bzw. Anzeigen auf einem dafür geeigneten Bildschirm.
Hinsichtlich der in dem geltenden Patentanspruch 1 nach dem Hilfsantrag inhaltsgleichen Merkmale des Streitgegenstandes gelten die im vorstehenden Abschnitt A gemachten Ausführungen gleichermaßen. Die zur Beschränkung in den geltenden Patentanspruch 1 neu aufgenommenen Merkmale betreffen eine separate Anzeige des aktuellen Einoder Aus-Zustandes der mehreren Systeme sowie konkrete Fahrerunterstützungssysteme in Form eines Spurhalteund eines Abstandshalte-Systems und deren Eigenschaften.
Die fakultativ im geltenden Patentanspruch 1 enthaltenen Merkmale beschränken den Streitgegenstand nicht. Nach dem ersten fakultativen Merkmal soll durch das Spurhalte-System in Abhängigkeit des Vergleichsergebnisses "gegebenenfalls" eine Warnung vor dem Verlassen der Spur ausgegeben werden können. Nach dem zweiten fakultativen Merkmal soll durch das Abstandshalte-System "gegebenenfalls" ein gewünschter Abstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug automatisch regelbar sein. Diese fakultativen Merkmale können bei der Prüfung auf Patentfähigkeit nicht berücksichtigt werden, denn sie sind für die im geltenden Patentanspruch 1 enthaltene technische Lehre nicht notwendig, vgl. insb. Schulte PatG 8. Auflage § 34 Rdn. 135, Busse PatG 6. Auflage § 34 Rn. 71.
Ein Spurhalte-System, über das die aktuell befahrene Spur anhand der Fahrbahnmarkierungen und die vom Fahrer gewünschte Fahrtrichtung erkannt und verglichen werden, offenbart bereits die D 5. Dazu erfasst ein Informationssensor 27, bestehend aus einer CCD-Kamera und einer Infrarotkamera, sogenannte Fahrzeugfrontinformationen, vgl. insb. Abs. [0041]. Durch Bildverarbeitung der Bilddaten beider Kameras erkennt das Spurhalte-System die Fahrbahn bzw. Fahrspuren, vgl. insb. Abs. [0042]. Aus diesem Absatz geht auch hervor, dass das Spurhalte-System den Fahrer darin unterstützt, die Fahrbahn einzuhalten, indem es die vom Fahrer gewünschte Fahrtrichtung anhand eines berechneten optimalen Lenkdrehmoments zielbezogen ermittelt und mit einem Ziel auf der Mitte der aktuell befahrenen Spur vergleicht.
Ein Abstandshalte-System, über das die eigene Fahrzeuggeschwindigkeit und der Abstand zu einem erfassten vorausfahrenden Fahrzeug in Abhängigkeit von einer vom Fahrer gesetzten Wunschgeschwindigkeit automatisch regelbar sind, offenbart die D 5 in Abs. [0043].
Der Einoder Aus-Zustand beider vorstehend genannter Systeme ist durch ein Betriebsanzeigezeichen 48 gemeinsam in dem einzigen Kombinationssymbol der Anzeigeneinheit 12 anzeigbar, vgl. insb. Sp. 12 Z. 33/34. Durch die Einblendung der jeweiligen Symbole für das jeweilige Unterstützungssystem ist auch der jeweilige Einoder Aus-Status eines jeden Systems anzeigbar, vgl. insb. Abs. [0084].
Als einziger Unterschied des beanspruchten Gegenstandes gegenüber dem vorbekannten Stand der Technik gemäß D 5 verbleibt demnach, eine gegenüber der Anzeige des Einoder Aus-Status pro System um wenigstens eine dem jeweiligen System zugeordnete weitere Darstellungsmöglichkeit. Mit anderen Worten soll streitpatentgemäß nicht nur bei dem Abstandhalte-System eine über den Einoder Aus-Status hinausgehende weitere Darstellungsmöglichkeit vorgesehen sein, sondern auch bei dem Spurhalte-System.
Wird der vorstehend definierte Fachmann mit der Aufgabe einer erweiterten Informationsdarstellung für sämtliche Unterstützungssysteme betraut, löst er sie mit denselben Fachkenntnissen, die ihn bereits in die Lage versetzt haben, die weitere Darstellungsmöglichkeit eines sich entfernenden Fahrzeuges bei dem Abstandhalte-System gemäß D 5 zu realisieren. Aus der einschlägigen D 1 erfährt er zudem, das Spurhalte-System so auszugestalten, dass eine Spurverlassungswarnung ausgegeben wird, vgl. insb. Absätze [0032] und [0033]. Dazu ist neben einer Anzeige des Einoder Aus-Status durch ein Lenkradsymbol 10 als weitere Darstellungsmöglichkeit beim ungewollten Verlassen der Spur die Anzeige eines warnenden Symbols 40 vorgesehen, vgl. insb. nachstehende Fig. 2.
Durch die einschlägig bekannte Darstellung eines Warnsymbols, wie zum Beispiel das warnende Symbol 40 gemäß D 1, in der Anzeige gemäß D 5 ist der Fachmann ohne Weiteres in der Lage, auch die Darstellung des Spurhalte-Systems so zu erweitern, dass nicht nur der Einoder Aus-Status angezeigt wird. Der Senat ist daher zu der Überzeugung gelangt, dass diese Darstellungserweiterung für den Fachmann ohne erfinderische Tätigkeit zu erreichen ist.
Mithin ist der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag ebenfalls nicht patentfähig.
Sein Schicksal teilen die darauf zurückbezogenen Patentansprüche 2 bis 7.
Pontzen Bork Paetzold Dr. Höchst Ko
BPatG:
Beschluss v. 11.10.2010
Az: 9 W (pat) 406/05
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