Sozialgericht Düsseldorf:
Urteil vom 2. November 2010
Aktenzeichen: S 52 R 230/09

(SG Düsseldorf: Urteil v. 02.11.2010, Az.: S 52 R 230/09)

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Mai 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2009 sowie des Überprüfungsbescheides vom 14. September 2010 verurteilt, die Klägerin ab dem 1. Januar 2009 von der Versicherungspflicht zu befreien. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin; im Übrigen tragen die Beteiligten ihre außergerichtlichen Kosten jeweils selbst.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung.

Die am 0. November 1971 geborene Klägerin absolvierte erfolgreich ein Studium der Rechtswissenschaften. Seit dem 6. November 2002 ist sie Mitglied der Rechtsanwaltskammer E1; seit dem 7. November 2002 ist sie Pflichtmitglied im Versorgungswerk der Rechtsanwälte NRW.

Die Klägerin arbeitete u.a. zunächst mit einem befristeten Vertrag vom 16. April 2007 bis 31. März 2008 bei der W1 T1 GmbH in M als Sachbearbeiterin im Bereich Rechnungswesen. Mit Bescheid vom 24. Mai 2007 erteilte die Beklagte für diese Tätigkeit der Klägerin auf Antrag eine Befreiung von der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung für die Dauer des befristeten Arbeitsverhältnisses. Nachdem dieser Arbeitsvertrag befristet verlängert wurde, erteilte die Beklagte mit Bescheid vom 5. Mai 2008 erneut einen Befreiungsbescheid.

Zum 1. Oktober 2008 wechselte die Klägerin zur E2LW2 F T2 GmbH als Sachbearbeiterin im Bereich Risikomanagement; die Einstellung erfolgte zunächst befristet als Elternzeitvertretung.

Mit Bescheid vom 12. November 2008 erteilte die Beklagte auf Antrag die Befreiung von der Versicherungspflicht zur Rentenversicherung. Die Befreiung war befristet für die Zeit vom 1. Oktober 2008 bis 30. Mai 2010.

Nachdem zum 1. Januar 2009 der befristete Arbeitsvertrag der Klägerin bei der Fa. E2LW2 F T2 GmbH in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis umgewandelt worden war, was mit einer Versetzung der Klägerin auf eine Stelle als "Sachbearbeiterin im Team Steuern / Recht" verbunden war, stellte die Klägerin am 2. Februar 2009 erneut einen Befreiungsantrag bei der Beklagten. Sie fügte eine Stellen- und Funktionsbeschreibung ihres Arbeitgebers vom 1. Januar 2009 bei, wo u.a. festgelegt war, dass das Aufgabengebiet der Klägerin im Bereich des Umsatzsteuerrechts sowie in der Beratung des Unternehmens bei vertrags- und gesellschaftsrechtlichen Angelegenheiten liege. Wegen der weiteren Einzelheiten der Stellen- und Funktionsbeschreibung wird auf Bl. 28 - 29 der Rentenakte Bezug genommen.

Mit Bescheid vom 24. April 2009 hob die Beklagte ohne Anhörung den Bescheid vom 12. November 2008 mit Wirkung zum 1. Januar 2009 auf, weil nach ihrer Auffassung die Voraussetzungen von der Befreiung von der Versicherungspflicht nicht mehr vorlagen, da das Arbeitsverhältnis in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis umgewandelt worden sei. Mit weiterem Bescheid vom gleichen Tag lehnte die Beklagte den Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht ab, weil die Klägerin nicht anwaltlich, d.h. nicht rechtsberatend und rechtsvermittelnd für ihren Arbeitgeber tätig sei. Diese Bescheide wurden an eine Adresse versandt, unter der die Klägerin nie wohnhaft war. Die Klägerin erhielt diese Bescheide später zur Kenntnis in Kopie über die Beigeladene, das Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Land NRW.

Gegen den Bescheid über die Versagung der Befreiung legte die Klägerin vorsorglich am 15. Mai 2009 Widerspruch ein, wobei sie bereits darauf hinwies, dass der Bescheid wegen der unzutreffenden Adressierung und mangelnden Zustellung formell fehlerhaft sei. Im Übrigen sei der Bescheid auch materiell fehlerhaft, da sie als Rechtsanwältin mit allen Kompetenzen für ihren Arbeitgeber beschäftigt sei.

Die Beklagte übersandte den Bescheid bezüglich der Ablehnung der Befreiung sodann unter dem Datum des 28. Mai 2009 nochmals an die zutreffende Adresse der Klägerin.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin per Fax am 2. Juli 2009 Widerspruch ein. Zur Begründung ihres Widerspruchs übersandte sie u.a. eine Bestätigung ihres Arbeitgebers vom 12. August 2009, wonach sie selbständig für das Unternehmen E2LW2 F T2 GmbH Vertragsverhandlungen führe und nach außen hin als rechtskundige Entscheidungsträgerin mit einer eigenen Entscheidungskompetenz auftrete. Wegen der Einzelheiten der Arbeitgeberbescheinigung wird auf Bl. 47 der Rentenakte Bezug genommen.

Laut einem Aktenvermerk der Beklagten vom 24. August 2009 schlug ein Mitarbeiter der Beklagten vor, dem Widerspruch abzuhelfen, da die Voraussetzungen für die Befreiung vorliegen würden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Oktober 2009 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass eine sachbearbeitende Tätigkeit keine anwaltliche Tätigkeit sei.

Die Klägerin hat am 9. Oktober 2009 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr Vorbringen im Verwaltungsverfahren. Ergänzend trägt sie vor: Sie sei als Rechtsanwältin in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis von der Versicherungspflicht zu befreien. Sie hat ihrer Klage nochmals eine Stellen- und Funktionsbeschreibung ihres Arbeitsplatzes beigefügt, eine Kopie des Schreibens über die Umwandlung ihres Arbeitsverhältnisses in ein unbefristetes zum 1. Januar 2009 und eine Stellungnahme ihres Arbeitgebers zum vorliegenden Verfahren vom 19. Januar 2010. Wegen der Einzelheiten der von der Klägerin eingereichten Unterlagen wird auf Bl. 20 - 21 und 31 - 32 der Gerichtsakte Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Mai 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2009 sowie des Überprüfungsbescheides vom 14. September 2010 zu verurteilen, sie ab dem 1. Januar 2009 von der Versicherungspflicht zu befreien.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte bezieht sich zur Begründung ihres klageabweisenden Antrags auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden. Ergänzend trägt die Beklagte vor: Die Klägerin könne nicht weisungsfrei entscheiden, da bei der E2LW2 F T2 GmbH das Vier-Augen-Prinzip gelte. Schon deswegen sei sie keiner freiberuflichen Rechtsanwältin vergleichbar. Im Übrigen spreche auch die tarifliche Einstufung der Klägerin für eine Tätigkeit als Sachbearbeiterin, und nicht als Volljuristin.

Mit Richterbrief vom 18. Juni 2010 hat das Gericht die Beklagte zur ergänzenden Stellungnahme zu konkreten Punkten im vorliegenden Verfahren aufgefordert sowie um Vorlage des Manteltarifvertrages für Arbeitnehmer im Groß- und Außenhandel NRW, auf den sich die Beklagte zur Begründung u.a. gestützt hat. Die Beklagte ist der Erledigung dieser gerichtlichen Verfügung bis zum ersten Termin zur mündlichen Verhandlung am 28. Juni 2010 nicht nachgekommen. Wegen des Verlaufs des ersten Termins zur mündlichen Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokoll vom 28. Juni 2010 Bezug genommen.

Mit Beschluss vom 5. Juli 2010 hat das Gericht das Versorgungswerk der Rechtsanwälte zum Verfahren beigeladen.

Dieses hat keinen Antrag gestellt und sich mit Schriftsatz vom 2. August 2010 dem Klägervorbringen angeschlossen.

Während des Klageverfahrens hat die Beklagte einen Überprüfungsantrag der Klägerin mit Bescheid vom 14. September 2010 abgelehnt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

Gründe

Die Klage hat Erfolg.

Der Bescheid der Beklagten vom 28. Mai 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2009 sowie der Überprüfungsbescheid vom 14. September 2010 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, vgl. § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Ablehnung der Befreiung von der Versicherungspflicht für die unbefristete Beschäftigung der Klägerin bei der E2LW2 F T2 GmbH als Volljuristin durch den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid, nicht jedoch die rückwirkende Aufhebung der befristet erteilten Befreiung vom 12. November 2008, da diese an eine konkrete (befristete) Tätigkeit der Klägerin im Bereich Risikomanagement angeknüpft hat, die die Klägerin unstreitig seit Januar 2009 nicht mehr ausübt.

Die Klägerin hat aber in Bezug auf die bei E2LW2 F T2 GmbH ausgeübte unbefristete Beschäftigung als Volljuristin im "Team Steuern / Recht" Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI.

Nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI werden unter bestimmten Voraussetzungen auf Antrag Angestellte und selbständig Tätige für die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit, wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Versorgungseinrichtung und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind, von der Versicherungspflicht befreit. Die Befreiung von der gesetzlichen Versicherungspflicht setzt eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit voraus, die in der gesetzlichen Rentenversicherung die Versicherungspflicht von Gesetzes wegen oder auf Antrag begründet hat und nimmt unter den Voraussetzungen der Zugehörigkeit zum Personenkreis des Abs. 1 und eines Antrags nach § 6 Abs. 2 SGB VI die von ihr erfassten Sachverhalte von der Versicherungspflicht aus. Mit der einem Mitglied der berufsständischen Versorgungseinrichtung nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI eingeräumten Möglichkeit der Befreiung von der Versicherungspflicht koordiniert das SGB VI die selbständig nebeneinander stehenden, sich partiell überschneidenden Systeme der berufsständischen Altersversorgung und der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Koordinationsregelung soll den Berufsangehörigen die Verpflichtung nehmen, Beiträge zu zwei weitgehend funktionsgleichen Sicherungssystemen zahlen zu müssen (Klattenhoff in Hauck/Haines, Kommentar zum SGB VI., K § 6 Rdnr. 9, 14, 35). Als Ausnahmevorschrift ist § 6 SGB VI abschließend und einer erweiternden Auslegung im Wege der Analogie nicht zugänglich (LSG NRW, Urteil vom 16.07.2001, L 3 RA 73/00; Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 09.10.2002, L 8 RA 48/01). Die Befreiung ist nicht personen-, sondern tätigkeitsbezogen. Die Befreiung erfolgt nur wegen der jeweilige Beschäftigung, aufgrund derer eine Pflichtmitgliedschaft in der berufsständischen Versorgungseinrichtung besteht (BSG, Urteil vom 22.10.1998, B 5/4 80/97 R, SozR 3-2600 § 56 Nr. 12).

Die gesetzlich normierten Voraussetzungen für eine Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI für die abhängige Beschäftigung als Volljuristin bei der E2LW2 F T2 GmbH sind bei der Klägerin erfüllt.

So ist die Klägerin ist nach § 60 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) Mitglied der Rechtsanwaltskammer E1 und deswegen seit dem 7. November 2002 Mitglied der Beigeladenen nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die Rechtsanwaltsversorgung im Landes NRW (RAVG NRW). Sie ist dementsprechend nach § 7 Abs. 1 RAVG NRW zur Zahlung der satzungsmäßig vorgesehenen Beiträge verpflichtet. Nach § 11 Nr. 2 RAVG NRW werden die näheren Einzelheiten der Begründung und Beendigung der Mitgliedschaft durch Satzung geregelt. Insoweit gilt die Satzung des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen. Nach § 10 Nr. 2 der Satzung ist Pflichtmitglied des Versorgungswerks, wer nach dem 30. November 1984 Mitglied einer Rechtsanwaltskammer im Lande Nordrhein-Westfalen wird und das 45. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin vor; dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Für die Klägerin hat auch unstreitig in E1 als Rechtsanwältin bereits vor dem 1. Januar 1995 eine gesetzliche Verpflichtung zur Mitgliedschaft bei der Rechtsanwaltskammer bestanden (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 a) SGB VI). Nach §§ 15 ff. der Satzung des Versorgungswerks der Rechtsanwälte NRW leistet die Klägerin auch einkommensbezogene Beiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zur berufsständigen Versorgungseinrichtung (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 b) SGB VI) und aufgrund dieser Beiträge werden nach der Satzung Leistungen für den Fall verminderter Erwerbsfähigkeit und des Alters sowie für Hinterbliebene erbracht und angepasst (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 c) SGB VI).

Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI insoweit ist auch zwischen den Beteiligten unstreitig.

Soweit sich die Beklagte darauf beruft, dass als ungeschriebene Tatbestandsmerkmale überwiegend rechtsberatende, rechtsentscheidende, rechtsanwendende und rechtsvermittelnde Tätigkeiten von der Klägerin auszuüben sind und die Klägerin zudem weisungsfrei tätig sein muss, folgt die Kammer diese zahlreich in der Rechtsprechung (vgl. nur Hessisches LSG, Urteil vom 29. Oktober 2009 - L 8 KR 189/08 -; noch weiter einschränkend zur "berufsspezifischen Tätigkeitkeit" z.B. LSG NRW, Urteil vom 19. März 2004, L 4 RA 12/03- jeweils m.w.N.) vertretenen Auffassung nicht, denn sie steht nach Auffassung der Kammer nicht im Einklang mit Art. 20 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) und der im Sozialrecht spezialgesetzlichen Vorschrift des § 31 SGB I, wonach Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen dieses Gesetzbuchs nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden dürfen, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt.

Art. 20 Abs. 3 GG aber auch § 31 SGB I beinhalten den sog. Gesetzesvorbehalt. Dies bedeutet, dass eine gesetzliche Grundlage überall dort erforderlich ist, wo das Grundgesetz für eine bestimmte Frage ein Gesetz vorschreibt, sei es durch einen grundrechtlichen oder einen organisatorischen Gesetzesvorbehalt (vgl. Jarass in Jarass/Pieroth, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 10. Auflage, München 2009, Art. 20 GG, Rn. 46 ff.). Der (allgemeine) Gesetzesvorbehalt verlangt, "dass der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muss" (BVerfG 84, 212ff; 49, 89 ff.), was durch die sog. Wesentlichkeitstheorie gekennzeichnet wird. Das Parlament darf die Entscheidungen nicht anderen Normgebern überlassen, nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive. Für die Abgrenzung der wesentlichen Entscheidungen kommt es auf den jeweiligen Sachbereich und die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes an, wobei die Wertungskriterien den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes zu entnehmen sind (BVerfG, a.a.O.; Jarass/Pieroth, a.a.O.). Dabei betrifft der Vorbehalt des Gesetzes nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt sein muss, sondern auch wieweit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben. Das förmliche Gesetz muss in diesem Sinne ausreichend bestimmt und genau sein. Insbesondere im Bereich belastender hoheitlicher Maßnahmen - wie hier - sind an diese Anforderungen nach Auffassung der Kammer strenge Maßstäbe anzulegen.

Mit dem vom Grundgesetz in Art. 20 Abs. 3 GG vorgesehenen Gesetzesvorbehalt unter Berücksichtigung der sog. Wesentlichkeitstheorie hält es die Kammer unvereinbar, dass an das Vorliegen der Befreiung im Sinne des § 6 SGB VI weitere Anforderungen zulasten der Klägerin gestellt werden, die nicht ausdrücklich wörtlich vom Gesetz vorgesehen sind. Die vier von der Beklagten und der bisherigen Rechtsprechung aufgestellten zusätzlichen Kriterien, nämlich dass der bei einem Unternehmen angestellte Volljurist rechtsberatend, rechtsentscheidend, rechtsanwendend und rechtsvermittelnd tätig sein muss, überspannt die Anforderungen an die Befreiung und hätte nach Auffassung der Kammer - wenn der Gesetzgeber dies gewollt hätte - ausdrücklich gesetzlich normiert werden müssen. Bei der zusätzlichen Erfüllung von vier weiteren Kriterien handelt es sich nach Auffassung der Kammer auch um "wesentliche" Elemente, zumal in vielen vergleichbaren Fällen immer die gesetzlich ausdrücklich normierten Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 SGB VI vorliegen und regelmäßig über die - angeblich bestehenden - ungeschriebenen vier Tatbestandsmerkmale gestritten wird.

Die Aufstellung dieser vier weiteren ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale passt nach Auffassung der Kammer auch nicht in die Gesetzessystematik des SGB VI, was sich insbesondere auch am vorliegenden Fall und der Arbeitsbiografie der Klägerin zeigt. So war die Klägerin jahrelang während ihrer befristeten Beschäftigungen bei verschiedenen Arbeitgebern von der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung befreit, obwohl sie dort unstreitig nicht als Volljuristin gearbeitet hat. So war die Klägerin zunächst befristet tätig als Sachbearbeiterin im Bereich Rechnungswesen und später als Sachbearbeiterin im Bereich Risikomanagement. Die Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht erfolgte allein aufgrund der Vorschrift des § 6 Abs. 5 Sätze 1 und 2 SGB VI. Nach dieser Vorschrift ist die Befreiung auf die jeweilige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit beschränkt; sie erstreckt sich in den Fällen des Absatz 1 Nr. 1 und 2 auch auf andere versicherungspflichtigte Tätigkeiten, wenn diese infolge ihrer Eigenart oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist und der Versorgungsträger für die Zeit der Tätigkeit den Erwerb einkommensbezogener Versorgungsanwartschaften gewährleistet. Würde man also der Rechtsauffassung der Beklagten und der bisherigen Rechtsprechung folgen, würde dies bedeuten, dass derjenige Volljurist, der sein Leben lang befristet beschäftigt ist und nicht unbedingt als Jurist arbeitet, während seines gesamten Arbeitslebens von der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung befreit wäre, wohingegen derjenige, der "nur" für ein einziges Unternehmen und damit einen einzigen Mandanten tatsächlich - wie hier die Klägerin - als Volljurist arbeitet, sich nicht von der Versicherungspfllicht befreien lassen könnte, sobald er über einen unbefristeten Vertrag verfügt. Auch diesen Wertungswiderspruch hat die Rechtsprechung bislang nach Auffassung der Kammer nicht ausreichend berücksichtigt bei der Aufstellung weiterer Kriterien als die ausdrücklich in § 6 Abs. 1 SGB VI normierten. Dem Gericht ist dementsprechend auch aus eigener Kenntnis bekannt, dass einige Volljuristen, die nur für einen Arbeitgeber (- in der Regel einem Unternehmen -) tätig sind, den Abschluss von befristeten Verträgen bevorzugen, um die zuvor aufgezeigten gesetzlich nicht normierten weiteren Anforderungen zu umgehen. Auch dies kann nicht im Sinne des Gesetzgebers gewesen sein. Derjenige, der wegen der Befristung der Arbeitsverträge besonders schutzbedürftig ist und in die Solidargemeinschaft der gesetzlich Versicherten einzubeziehen sein sollte, wird nach der gesetzlichen Regelung gerade außen vor gelassen mit dem Argument der Gewährung der Kontinuität in der Versicherungsbiografie. Gerade am Lebenslauf der Klägerin zeigt sich aber, dass bei einer anderen Entscheidung des Gerichts die Kontinuität in der Versicherungsbiografie nicht gewahrt würde. Sinn und Zweck der berufsständischen Versorgung ist es gerade, dass die Angehörigen der Berufsgruppen, die traditionell in einem berufsständischen Versorgungswerk versichert sind, nicht mit einer doppelten Beitragszahlung belastet werden. Gleichzeitig soll auch damit gewährleistet werden, dass diejenigen, die im Laufe ihres Berufslebens in die Selbstständigkeit überwechseln, eine geschlossene Versicherungsbiografie in ihrer berufsständischen Versorgungseinrichtung aufbauen können (BT-Drucks. 13/2590, S. 118). In der heutigen Zeit, wo ständige Arbeitsplatzwechsel an der Tagesordnung sind, ist es auch für Volljuristen nicht unüblich, zunächst als angestellter Jurist bei einer Firma zu arbeiten, und sich später aber mit eigener Kanzlei selbstständig zu machen. Auch vor dem Hintergrund der tatsächlichen Lebensverhältnisse ist die Rechtsauffassung der Beklagten nicht mehr angemessen.

Aber selbst unter Berücksichtigung der von der Kammer abgelehnten Rechtsprechung zur Einschränkung des § 6 SGB VI hätte die Klage Erfolg, denn die Klägerin erfüllt nach Auffassung der Kammer auch die oben genannten einschränkenden Kriterien. Sie ist nach Auffassung der Kammer für ihren Arbeitgeber rechtsberatend, rechtsentscheidend, rechtsanwendend und rechtsvermittelnd tätig. Dies ergibt sich eindeutig aus dem Vorbringen der Klägerin und der Funktions- und Stellenbeschreibung ihres Arbeitgebers vom 1. Januar 2009, die offensichtlich Bestandteil des Arbeitsvertrages der Klägerin mit der E2LW2 R T2 GmbH geworden ist, da sie von beiden Vertragsparteien unterzeichnet worden ist. Nach dieser Stellenbeschreibung betreut die Klägerin, die nach Angaben ihres Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung über den Titel Fachanwältin für Steuerrecht verfügt, für ihren Arbeitgeber den Bereich des Umsatzsteuerrechts und berät das Unternehmen bei vertrags- und gesellschaftsrechtlichen Anforderungen. Das Aufgabengebiet der Klägerin hat dabei internationalen Bezug. Sie berät die Gesellschaften rechtlich (rechtsberatend), nimmt eine steueroptimale Gestaltung vor (rechtsanwendend), führt Verhandlungen mit Finanzbehörden, mit denen bei Steuerprüfungen auch Einigungen zu erzielen sind (rechtsvermittelnd) und erstellt Rechtsbehelfe (rechtsanwendend). Im Rahmen der Rechtsberatung ist sie dabei unter anderem für die unabhängige Analyse, die selbstständige Lösungsweg-Ausarbeitung sowie die eigenverantwortliche Beantwortung , Bewertung und Erläuterung in Bezug auf alle konkreten Einzel- und Grundsatzfragen des Arbeitgebers, der Tochterfirmen und -gesellschaften, der Mitarbeiter, der einzelnen Fachbereich sowie auch der Kunden, Lieferanten und Partner des Arbeitgebers zuständig, also somit bei allen betriebsrelevanten Fragestellungen des nationalen und internationalen Steuer-, Umsatzsteuer-, Vertrags- und Gesellschaftsrecht tätig. Bei Gesetzesänderungen ist sie fachlich versierter Ansprechpartner in begleitender und beratender Funktion. Im Rahmen der Rechtsentscheidung nimmt die Klägerin Umstrukturierungen oder Neugründungen von Tochtergesellschaften wahr, leitet diese eigenverantwortlich und trifft dabei die notwendigen Entscheidungen selbst. Auch die unabhängige Entscheidung über die betrieblich bzw. wirtschaftlich sinnvollste Gestaltungsmöglichkeit in Bezug auf internationale und nationale Steuerrechtsgestaltungen obliegt der Klägerin. Sie ist dafür verantwortlich, ob Rechtsmittel gegen Steuerbescheide eingelegt werden oder nicht. Sie trifft dabei laut Stellenbeschreibung und eigener Einlassung nach außen hin wirksame und bindende Entscheidungen für den Arbeitgeber, die sie mit eigenen Entscheidungskompetenzen und unabhängig von dem beim Arbeitgeber grundsätzlich praktizierten "Vier-Augen-Prinzip" dann inhaltlich allein zu verantworten hat. Im Rahmen der Rechtsgestaltung wirkt die Klägerin bei Vertragsgestaltungen und -ausarbeitungen mit, wobei sie einerseits vorhandenes Vertragswerk sichtet und überarbeitet, d.h. an Aktualität anpasst, und andererseits neue Verträge für ihren Arbeitgeber entwirft. Zudem prüft sie Verträge, die von den Partnern des Arbeitgebers zur Anbahnung neuer Abschlüsse vorgelegt werden. Dabei bringt sie eigenverantwortlich und selbständig Vorschläge / Vorgaben für die Vertragsverhandlungen mit ein und erwägt verschiedene Regelungsmöglichkeiten zugunsten des Arbeitgebers und zeichnet die entstandenen Verträge dann als Verantwortliche mit ab. Im Rahmen der Rechtsvermittlung vermittelt die Klägerin zwischen Kunden und Lieferanten in verschiedenen rechtlichen Bereichen, veröffentlicht Aufsätze in Publikationen ("Mehrwertsteuerinformation") und erläutert regelmäßig den kaufmännischen Angestellten des Arbeitgebers alles Vertragsgestaltungsmöglichkeiten aus juristischer bzw. steuerrechtlicher Sicht, damit diese gegenüber Kunden korrekt agieren können. Betriebsrelevante Gerichtsentscheidungen sowie Gesetzesänderungen trägt die Klägerin dabei dem Arbeitgeber vor und erläutert nicht juristisch ausgebildeten Kollegen deren Tragweite und Bedeutung im Einzelfall.

Wie die Beklagte vor dem Hintergrund dieses Tätigkeitsfeldes der Klägerin zu der Einschätzung gelangt, die Klägerin sei nur "einfache" Sachbearbeiterin, ist der Kammer unverständlich. Die Klägerin übt offensichtlich eine Tätigkeit als Fachanwältin für Steuerrecht bei der E2LW2 F T2 GmbH aus. Die Beklagte knüpft offensichtlich lediglich an das Wort "Sachbearbeiterin" an, ohne hier die konkrete Arbeitsplatzgestaltung der Klägerin ausreichend zu berücksichtigten. Im Übrigen weist die Kammer darauf hin, dass in Rechtsanwaltskanzleien, in denen mehrere Rechtsanwälte beschäftigt sind, der für den jeweiligen Fall zuständige Rechtsanwalt im heutigen Sprachgebrauch auch regelmäßig als "zuständiger Sachbearbeiter" in der jeweiligen Kanzlei bezeichnet wird.

Soweit die Beklagte an das Gehalt der Klägerin und ihre tarifliche Eingruppierung zur Manifestierung ihrer Rechtsauffassung anknüpft, erschließt sich dem Gericht im konkreten Fall der Zusammenhang nicht. Unstreitig ist in der Entgeltgruppe V bzw. in keiner der Entgeltgruppen des Manteltarifvertrages für das Groß- und Außenhandelsgewerbe der "Volljurist" bzw. "Syndikusanwalt" explizit erwähnt. Das Bruttojahresgehalt der Klägerin entspricht jedenfalls - und dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig - dem Durchschnitts-Bruttojahresverdienst eines Rechtsanwalts und im Übrigen dem ungefährem Jahresbruttoverdienst eines Richters der Besoldungsgruppe R1 im Alter der Klägerin. Wie die Beklagte aber dann aus dem Jahresbruttogehalt von 42.000,- EUR herleiten will, dass die Klägerin als Volljuristin offensichtlich nicht so wenig verdienen kann und dieser Verdienst mehr für eine einfache Sachbearbeitung spricht, vermag die Kammer vor dem Hintergrund des zuvor Dargestellten nicht ansatzweise nachzuvollziehen. Wie die Beigeladene in ihrem Schriftsatz vom 15. Oktober 2010 zutreffend darstellt, ist eine Eingruppierung in einen entsprechenden Entgelttarifvertrag nicht maßgeblich, sondern die vom Arbeitgeber erstellte Stellen- und Funktionsbeschreibung, die im vorliegenden Fall - wie bereits ausgeführt - für das Vorliegen einer anwaltlichen Tätigkeit spricht.

Auch der Hinweis, dass die Klägerin wegen des bei der E2LW2 F T2 GmbH geltenden Vier-Augen-Prinzips nicht weisungsfrei entscheiden und damit nicht vergleichbar einer freiberuflichen Rechtsanwältin sei, geht fehl. Wie die Beigeladene in ihrem Schriftsatz vom 2. August 2010 zutreffend ausführt, gehört das Vier-Augen-Prinzip zu den organisatorischen Vorkehrungen, die Unternehmen üblicherweise zur Verhinderung von Straftaten oder sonstigen schädigenden Handlungen von Mitarbeitern einschließlich der Geschäftsführung gegen das Unternehmen treffen.

Im Übrigen spricht nach Auffassung der Kammer auch einiges für die teilweise in der Literatur vertretene Auffassung, dass ein Syndikusanwalt im Rahmen rechtsberatender und - vertretender Tätigkeit generell als Rechtsanwalt auftritt und dabei jeweils genuin anwaltliche Tätigkeit ausübt. Sowohl bei der Rechtsberatung und - vertretung eines Ratsuchenden ohne dienstvertragliche Bindung wie auch bei der Rechtsberatung und - besorgung für den eigenen Arbeitgeber handelt es sich demnach um anwaltliche Tätigkeit.

Der Überprüfungsantrag der Klägerin bezüglich des Bescheides vom 24. April 2009 in der Gestalt des "Widerspruchsbescheides" vom 28. August 2009 ging nach Auffassung der Kammer ins Leere. Zunächst ist der Bescheid vom 24. April 2009, der inhaltsgleich mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 28. Mai 2009 ist, der Klägerin unstreitig nicht förmlich von der Beklagten bekanntgegeben worden. Dies hat auch die Beklagte so gesehen und deswegen richtigerweise den Bescheid unter neuem Datum nochmals ausgefertigt und der Klägerin richtig bekanntgegeben. Aus dem Bescheid vom 24. April 2009 kann die Beklagte mangels wirksamer Bekanntgabe daher keine Rechte herleiten. Im Übrigen existiert kein Widerspruchsbescheid vom 28. August 2009. Bei dem Schreiben der Beklagten vom 28. August 2009 handelt es sich nur um eine sog. Zwischennachricht, die beinhaltet, dass der Widerspruch der Klägerin vom 3. Juli 2009 zur Entscheidung an die Widerspruchsstelle abgegeben wurde. Der Überprüfungsbescheid vom 14. September 2010, der ohnehin nicht auf das Vorbringen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin diesbezüglich eingeht, ist hingegen inhaltsgleich mit dem Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens. Für einen solchen Überprüfungsbescheid nach § 44 SGB X war nach Auffassung der Kammer aber wegen des hier anhängigen Rechtsstreits zu dieser Frage überhaupt kein Raum; der Überprüfungsbescheid war daher schon wegen eines formellen Fehlers aufzuheben. Im Übrigen ist er aus den oben genannten Erwägungen auch materiell rechtswidrig.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG. Die Beklagte hatte nicht die Kosten des beigeladenen Versorgungswerks zu erstatten, da die Beigeladene keinen Antrag gestellt hat und damit kein Kostenrisiko eingegangen ist.






SG Düsseldorf:
Urteil v. 02.11.2010
Az: S 52 R 230/09


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