Bundesverfassungsgericht:
Urteil vom 14. Dezember 1999
Aktenzeichen: 1 BvR 1327/98
(BVerfG: Urteil v. 14.12.1999, Az.: 1 BvR 1327/98)
Tenor
1. § 13 der Berufsordnung der Rechtsanwälte vom 10. Dezember 1996 (BRAK-Mitteilungen 1996, Seite 241) ist mit Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.
2. Der Beschluß des Anwaltsgerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer Koblenz vom 15. Juni 1998 - 2 AG 1/98 -, der Einspruchsbescheid der Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk Koblenz vom 19. Dezember 1997 - B IV 90-340/97 - und der Rügebescheid der Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk Koblenz vom 6. Oktober 1997 - B IV 90-340/97 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben.
Die Sache wird an das Anwaltsgericht zur Entscheidung über die Kosten zurückverwiesen.
3. Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
A.
Das Verfahren betrifft die Frage, ob Rechtsanwälte ergänzend zur Zivilprozeßordnung (ZPO) bei der Erwirkung von Versäumnisurteilen § 13 der Berufsordnung der Rechtsanwälte vom 10. Dezember 1996 (BRAK-Mitt. 1996, S. 241 - im folgenden: BORA) beachten müssen.
I.
1. Der Beschwerdeführer, ein Rechtsanwalt, vertrat einen Kläger in einem Zivilrechtsstreit vor dem Amtsgericht. Auch die beklagte Partei war anwaltlich vertreten. Zur mündlichen Verhandlung am 30. Mai 1997 erschien deren Prozeßbevollmächtigter nicht, obwohl der Termin in der Kanzlei notiert worden war; der Grund der Säumnis ist ihm nicht mehr erklärlich. Nach Aufruf der Sache wartete der Beschwerdeführer 15 Minuten und beantragte sodann ein Versäumnisurteil. Das Versäumnisurteil erging antragsgemäß.
2. Der Rechtsanwalt, der den Termin versäumt hatte, beschwerte sich bei der Rechtsanwaltskammer wegen des unkollegialen Verhaltens. Diese erteilte dem Beschwerdeführer eine Rüge, weil er dem gegnerischen Kollegen nicht gemäß § 13 BORA angedroht habe, im Falle der Säumnis ein Versäumnisurteil zu erwirken.
§ 13 BORA lautet:
Versäumnisurteil
Der Rechtsanwalt darf bei anwaltlicher Vertretung der Gegenseite ein Versäumnisurteil nur erwirken, wenn er dies zuvor dem Gegenanwalt angekündigt hat; wenn es die Interessen des Mandanten erfordern, darf er den Antrag ohne Ankündigung stellen.
3. Nach Zurückweisung seines Einspruchs rief der Beschwerdeführer erfolglos das Anwaltsgericht an, das den Rügebescheid bestätigte:
Der Beschwerdeführer habe gegen § 13 BORA verstoßen. Die Berufsordnung sei spätestens am 11. März 1997 wirksam in Kraft getreten und zu beachten. Danach genüge es nicht, daß er in seinem klagebegründenden Schriftsatz bereits einen Antrag auf Erlaß eines Versäumnisurteils angekündigt habe. Diese Ankündigung habe sich auf § 331 Abs. 3 ZPO bezogen und Vorsorge für den Fall getroffen, daß ein schriftliches Vorverfahren gemäß § 276 ZPO stattfinde; mit der Ankündigung eines Antrages auf Erlaß eines Versäumnisurteils in der mündlichen Verhandlung gemäß § 331 Abs. 1 ZPO könne dies nicht gleichgestellt werden. Wolle der Beschwerdeführer nach Beendigung des schriftlichen Vorverfahrens im Termin der mündlichen Verhandlung gegen die säumige, jedoch anwaltlich vertretene Partei ein Versäumnisurteil erwirken, müsse er seine Absicht dem gegnerischen Kollegen ankündigen. Das Verhalten sei nicht ausnahmsweise deshalb gerechtfertigt, weil der Beschwerdeführer gemeint habe, im Interesse seines Mandanten handeln zu müssen. Diese in § 13 BORA vorgesehene Ausnahme sei eng auszulegen. Es müßten konkrete Umstände vorliegen, die die Interessen des Mandanten über die Interessen der anwaltlichen Berufsordnung stellten. Dazu habe der Beschwerdeführer in seiner Antragsschrift nicht substantiiert vorgetragen. Dies obliege ihm wegen des in § 13 BORA niedergelegten Regel-Ausnahme-Prinzips.
II.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG geltend. Die Rüge der Rechtsanwaltskammer und der sie bestätigende Beschluß des Anwaltsgerichts griffen rechtswidrig in sein Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit ein, weil es hierfür keine rechtswirksame Grundlage gebe. Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1987 (BVerfGE 76, 171) lasse sich das Verbot, ohne vorherige Ankündigung ein Versäumnisurteil zu beantragen, nicht mehr aus vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht herleiten. Als Rechtsgrundlage komme daher allein § 13 BORA in Betracht. Diese Bestimmung sei jedoch unwirksam.
Umstritten sei bereits, ob die von der Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer verabschiedete Satzung verfassungskonform ausgefertigt worden sei. Jedenfalls habe die Satzungsversammlung die ihr nach § 59 b der Bundesrechtsanwaltsordnung (im folgenden: BRAO), eingefügt durch Gesetz vom 2. September 1994 (BGBl I S. 2278) eingeräumte Satzungsautonomie überschritten. § 13 BORA greife einschneidend in die Rechtssphäre der rechtsuchenden Mandanten ein, in deren Interesse das Versäumnisurteil regelmäßig liege. Damit verschlechtere das Verbot die Rechtsposition der Mandanten insbesondere dann, wenn wegen des hierdurch eintretenden Zeitverlustes die Zwangsvollstreckung durch Vermögensverfall des Schuldners vereitelt werde. In jedem Fall führe das Verbot zu Vertagungen oder zum Ruhen des Verfahrens, also immer zu einer Prozeßverlängerung. Eine derartige Regelung könne grundsätzlich nur durch den Gesetzgeber getroffen werden oder müsse zumindest im wesentlichen durch diesen in der Ermächtigungsnorm vorgezeichnet sein; dies sei jedoch in § 59 b BRAO nicht geschehen. Die Rechtsetzungskompetenz der berufsständischen Selbstverwaltung sei grundsätzlich auf die Kammermitglieder beschränkt. Zwar ließen sich gewisse Rückwirkungen des berufsinternen Satzungsrechts auf Dritte nicht vermeiden. Je stärker jedoch Dritte betroffen seien, desto weniger bestehe eine Regelungskompetenz der Kammern. Den etwaigen Interessenwiderstreit zwischen dem Berufsstand der Rechtsanwälte einerseits und andererseits den Mandanten, die von einem Verbot, ein Versäumnisurteil zu beantragen, betroffen seien, könne nur der Gesetzgeber auflösen. § 13 BORA sei Ausdruck eines antiquierten standesegoistischen Zunftdenkens auf Kosten der Rechtspflege wie auch des rechtsuchenden Bürgers.
Das Verbot sei auch materiell verfassungswidrig, weil nicht im Interesse des Gemeinwohls geeignet, erforderlich und zumutbar. Es diene nicht der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, wie die Erfahrungen nach 1987 gezeigt hätten und worauf auch der Bundesgerichtshof zu Recht hingewiesen habe.
III.
Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium der Justiz namens der Bundesregierung, der Präsident des Bundesgerichtshofs, der Vorsitzende des 1. Senats des Bundesarbeitsgerichts, die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein sowie als Beteiligte des Ausgangsverfahrens die Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk Koblenz Stellung genommen.
1. Das Bundesministerium der Justiz hält die angegriffene Vorschrift für mit dem Grundgesetz vereinbar.
Die Berufsordnung sei formell wirksam zustande gekommen, insbesondere ordnungsgemäß ausgefertigt und veröffentlicht worden. Die Veröffentlichung habe den Hinweis enthalten, daß die Berufsordnung am 10. Dezember 1996 dem Bundesministerium der Justiz übermittelt worden sei und am 11. März 1997 in Kraft treten werde, soweit nicht das Bundesministerium der Justiz die Satzung oder Teile derselben bis zum 10. März 1997 aufhebe. Hierdurch sei die Berufsordnung der Öffentlichkeit förmlich zugänglich gemacht worden; die Betroffenen hätten sich verläßlich Kenntnis von ihrem Inhalt verschaffen können. Eine erneute Befassung der Satzungsversammlung nach der Aufhebung des § 21 BORA (BAnz 1997, S. 2769) sei nicht erforderlich gewesen, weil sich die aufgehobene Regelung auf den übrigen Inhalt der Berufsordnung nicht ausgewirkt habe.
Die Ermächtigung zur Regelung des beruflichen Verhaltens in § 59 b Abs. 2 Nr. 8 BRAO betreffe lediglich die Art und Weise der Berufsausübung. Sie beziehe sich auf Verhaltensweisen, die den kollegialen und fairen Umgang der Rechtsanwälte miteinander sicherstellten und sich in einer langen Tradition herausgebildet hätten. Die Norm ermächtige den Satzungsgeber dagegen nicht zu Eingriffen in die Rechtsstellung Dritter, insbesondere in die prozessualen Rechte des Mandanten. § 13 BORA sei durch diese Ermächtigung grundsätzlich gedeckt, bedürfe allerdings einer verfassungskonformen Auslegung, weil er bei wörtlicher Anwendung nachteilige Folgen für die außerhalb des Berufsstandes stehenden Mandanten haben könnte. Deren Interessen forderten, daß der Rechtsanwalt bereits bei einer Gefährdung der rechtlichen oder wirtschaftlichen Interessen seines Mandanten befugt bleibe, ein Versäumnisurteil auch ohne Ankündigung zu beantragen. Ein Vorrang der Mandanteninteressen sei bereits dann anzunehmen, wenn nur Zweifel daran bestünden, ob die Verhaltenspflicht aus § 13 BORA ohne Vernachlässigung berechtigter Mandanteninteressen eingehalten werden könne.
In den übrigen Fällen sei dem Rechtsanwalt eine Ankündigung des Antrags auf Erlaß eines Versäumnisurteils zumutbar. § 13 BORA sei durch hinreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt und genüge dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Vorschrift komme den Prozeßparteien und dem Verfahren zugute. Sie trage dazu bei, Versäumnisurteile zu vermeiden, die im weiteren Prozeßverlauf voraussichtlich keinen Bestand hätten. Insgesamt dürften ihre Auswirkungen in der gerichtlichen Praxis gering sein. In der Regel lasse sich der Grund des Ausbleibens eines Rechtsanwalts durch telefonische Rückfragen ohne größeren Aufwand klären. Bei einem Büroversehen oder einer unvorhergesehenen Terminüberschneidung könne die Verhandlung in der Mehrzahl der Fälle mit geringfügiger Verspätung dennoch durchgeführt werden.
2. Der Präsident des Bundesgerichtshofs verweist auf die Beschlüsse des Senats für Anwaltssachen (AnwBl 1999, S. 553; NJW 1999, S. 2678), wonach die Berufsordnung am 11. März 1997 ordnungsgemäß in Kraft getreten sei. Verfahrensrechtliche Bedenken bestünden nicht; insbesondere lasse sich der Bundesrechtsanwaltsordnung nicht entnehmen, daß Ausfertigung und Veröffentlichung der Satzung dem aufsichtsrechtlichen Prüfungsverfahren nachfolgen müßten.
Der Bundesgerichtshof habe bisher zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 13 BORA keine Entscheidung getroffen, halte aber die Norm, die durch die Ermächtigung in § 59 b Abs. 2 Nr. 8 BRAO gedeckt sei, bei verfassungskonformer Auslegung für verfassungsmäßig. Die Regelung diene der Vermeidung von Versäumnisurteilen. § 337 ZPO mache in Verbindung mit § 344 ZPO deutlich, daß ein Versäumnisurteil nur dann ergehen solle, wenn die Versäumnis auf einem Verschulden beruhe. Der mit § 13 BORA getroffenen Regelung liege die Annahme des Satzungsgebers zugrunde, daß die Säumnis typischerweise unverschuldet sei. § 13 BORA könne daher in gewissem Sinne als Ergänzung des § 337 ZPO verstanden werden. Der weitere Aspekt des Schutzes säumiger Kollegen, denen es erspart werde, sich gegenüber dem eigenen Mandanten zu rechtfertigen, trete demgegenüber in den Hintergrund. § 13 BORA sei verfassungskonform dahin auszulegen, daß die Voraussetzungen, unter denen die Interessen des Mandanten den Antrag auf Erlaß eines Versäumnisurteils erforderten, nicht hoch anzusetzen seien. Zwar werde das bloß abstrakte, theoretisch stets bestehende Risiko einer Vermögensverschlechterung des Gegners nicht ausreichen; sobald aber aufgrund konkreter Anhaltspunkte Zweifel daran bestünden, ob ohne Vernachlässigung der Interessen des Mandanten auf ein Versäumnisurteil verzichtet werden könne, werde man dem Rechtsanwalt die Befugnis zur Antragstellung nicht absprechen dürfen.
3. Nach Auffassung des 1. Senats des Bundesarbeitsgerichts, der bisher mit einschlägigen Rechtsfragen nicht befaßt war, kollidiert die standesrechtliche Regelung in nicht unbedenklicher Weise mit Grundsätzen des Prozeßrechts. Die Regelung des § 227 ZPO, nach der ein Termin nur aus erheblichen Gründen aufgehoben und verlegt werden dürfe, könne durch bloßes Fernbleiben unterlaufen werden. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren werde auf diese Weise das Gebot der obligatorischen Güteverhandlung entwertet. Außerdem führe die streitige Regelung im arbeitsgerichtlichen Verfahren insoweit zu einer Schieflage, als hier erst- und zweitinstanzlich als Prozeßvertreter auch Vertreter von Gewerkschaften und Verbänden auftreten können, denen gegenüber die standesrechtliche Verpflichtung nicht gelte. § 13 BORA korrigiere Grundsätze des arbeitsgerichtlichen Verfahrens in störender Weise.
4. Innerhalb der Bundesrechtsanwaltskammer besteht keine einheitliche Auffassung zur Verfassungsbeschwerde. Einheitlich wird lediglich angenommen, daß § 13 BORA formell ordnungsgemäß in Kraft gesetzt worden sei. Im übrigen werden in der Stellungnahme verschiedene Standpunkte mitgeteilt.
a) Teilweise wird der Beschluß des Anwaltsgerichts zwar für rechtswidrig, nicht aber für verfassungswidrig gehalten. Die von § 13 BORA geforderte Ankündigung könne bereits in der Klageschrift enthalten sein. Außerdem treffe den Anwalt nicht die Darlegungs- und Beweislast dafür, daß er im Interesse des Mandanten gehandelt habe, weil § 74 a BRAO die Vorschriften der Strafprozeßordnung für anwendbar erkläre.
b) Teilweise wird die Auffassung vertreten, daß § 13 BORA durch die Ermächtigung in § 59 b Abs. 2 Nr. 5 Buchstabe a BRAO gedeckt werde. Indem der Gesetzgeber es ermöglicht habe, besondere Berufspflichten bei der Wahrnehmung des Mandats zu regeln, habe er die Satzungsversammlung mit Regelungskompetenz gegenüber Dritten ausgestattet. Bei verfassungskonformer Auslegung gebe es auch kein striktes Regel-Ausnahme-Prinzip. In Zweifelsfällen könnten die Interessen des Mandanten, die allerdings aufgrund konkreter Umstände feststellbar sein müßten, stets Vorrang haben. Die Norm greife auch nicht unverhältnismäßig in die Berufsausübung ein. Versäumnisurteile führten auf seiten der säumigen Partei mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer Erhöhung der Prozeßkosten, zu vermeidbarer Hinterlegung von Sicherheiten zur Abwendung der Zwangsvollstreckung sowie zu Haftpflichtansprüchen und -prozessen. Unter den heutigen Bedingungen bestehe für jeden Rechtsanwalt die Gefahr, einen Termin zu versäumen. Der Nachteil des nicht säumigen Rechtsanwalts, der lediglich in einem nicht durch gebührenmäßige Vorteile aufgewogenen Zeitverlust bestehe, sei geringer einzuschätzen. Erst aufgrund einer durch § 13 BORA geforderten Nachfrage beim Gegenanwalt werde der Richter in die Lage versetzt, gemäß § 337 ZPO anhand von Tatsachen zu entscheiden, ob ein Fall schuldhafter Säumnis vorliege.
c) Der Verfassungsrechtsausschuß hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. Zwar werde die Berufsausübungsfreiheit durch § 13 BORA nicht unverhältnismäßig eingeschränkt. Die Vorschrift sei jedoch verfassungswidrig und unwirksam, weil die Satzungsversammlung die ihr nach § 59 b BRAO eingeräumte Satzungsautonomie überschritten habe. Die Regelung bewirke Eingriffe in den Rechtskreis von Externen, die so erheblich seien, daß die Satzungsermächtigung sie nicht umfasse. Sie greife in die prozessuale Rechtsstellung der Partei eines Zivilrechtsstreits ein, weil nicht auf den subjektiven Willen des Mandanten, sondern auf die objektive Interessenlage abgestellt werde. Dabei komme es nicht darauf an, ob die Norm ein Regel-Ausnahme-Prinzip enthalte, weil die Befugnisse der Zivilprozeßordnung selbst unter keinerlei Vorbehalt stünden. Der Eingriff habe auch besonderes Gewicht, weil ein Versäumnisurteil für den Begünstigten ein besonders effektives Mittel zur Durchsetzung seiner Rechte darstelle. Die Möglichkeit der Ankündigung beseitige den Eingriff nicht. Um die Norm nicht leerlaufen zu lassen, werde deshalb auch im Schrifttum vertreten, daß pauschale Ankündigungen insoweit nicht ausreichten.
5. Der Deutsche Anwaltverein hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. § 59 b Abs. 2 Nr. 8 BRAO ermächtige die Satzungsversammlung dazu, das berufliche Verhalten gegenüber anderen Mitgliedern der Rechtsanwaltskammer, insbesondere die sogenannten Kollegialitätspflichten, zu regeln. Inhaltlich sei die Ermächtigungsnorm jedoch keine ausreichende gesetzliche Grundlage für § 13 BORA. Auch mittelbare Rückwirkungen des Satzungsrechts auf Dritte bedürften einer gesetzlichen Ermächtigung. Je stärker die mittelbaren Auswirkungen auf berufsfremde Dritte seien, desto weniger bestehe für den Satzungsgeber die Möglichkeit, ohne entsprechende gesetzgeberische Vorgaben in Rechtspositionen Dritter einzugreifen. Das Verbot, ohne vorherige Ankündigung ein Versäumnisurteil zu beantragen, wirke sich mittelbar nicht unerheblich auf Vermögensinteressen der Mandanten aus. Das geschehe nicht mehr oder weniger zufällig, sondern gezielt. Die Ermächtigungsnorm der Berufsordnung lasse jedoch nicht ansatzweise erkennen, daß der Gesetzgeber solche faktischen Eingriffe in die Rechtssphäre Dritter habe zulassen wollen.
§ 13 BORA verstoße auch materiell gegen Art. 12 Abs. 1 GG. Der Zweck der Regelung, den fairen und kollegialen Umgang der Rechtsanwälte untereinander sicherzustellen, sei für eine funktionsfähige Rechtspflege allerdings wichtig. Werde von prozeßrechtlich zulässigen Instrumenten Gebrauch gemacht, könne dies aber schwerlich als unkollegial bewertet werden. Sei die Säumnis verschuldet, gebe es keinen Grund für kollegiale Rücksichtnahme. Für den Fall, daß Anhaltspunkte für eine unverschuldete Säumnis bestünden, sehe § 337 ZPO ohnedies die Vertagung von Amts wegen vor. § 13 BORA sei schon deshalb unverhältnismäßig im engeren Sinne, weil die Vermögensinteressen des Mandanten im Prozeß von hoher Bedeutung und durch den Verzicht auf das Versäumnisurteil im Regelfall negativ betroffen seien. Verzögerungen des Rechtsstreits und der Verzicht auf die rasche Durchsetzung oder Sicherung des im Prozeß geltend gemachten Anspruchs seien erhebliche Nachteile. Die Interessen des Mandanten erforderten den Antrag auf Erlaß eines Versäumnisurteils im Regelfall und nicht - wie § 13 BORA dies vorsehe - nur im Ausnahmefall.
6. Die Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk Koblenz verteidigt den Rügebescheid. § 13 BORA sei wirksam in Kraft gesetzt. Die Norm sei auch inhaltlich verfassungsgemäß. Seitdem es Standesrichtlinien gebe, hätten sie die Rechtsanwälte Einschränkungen hinsichtlich der Möglichkeit, ein Versäumnisurteil zu erwirken, unterworfen. Die Regelung sei Ausdruck der Kollegialität, diene aber auch der Rechtspflege, selbst wenn sie nicht zu deren Aufrechterhaltung unerläßlich sei. Durch den Wegfall der Lokalisation werde sie noch an Bedeutung gewinnen. Sie statuiere kein Regel-Ausnahme-Prinzip, sondern gebe den Interessen des Mandanten Vorrang. Sie greife daher nicht in die Rechte der Mandanten ein und sei als Berufsausübungsbestimmung durch Art. 12 GG gedeckt, weil sie auf vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls beruhe und den Rechtsanwalt nicht übermäßig und unzumutbar treffe.
IV.
In der mündlichen Verhandlung haben sich der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers, die Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk Koblenz, die Bundesrechtsanwaltskammer sowie der Deutsche Anwaltverein geäußert.
B.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
Die dem Beschwerdeführer erteilte Rüge greift in sein Grundrecht auf freie Berufsausübung als Rechtsanwalt ein. Für diesen von dem Anwaltsgericht gebilligten Eingriff fehlt bereits die gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG erforderliche gesetzliche Grundlage. § 13 BORA ist durch die Ermächtigung in § 59 b BRAO nicht gedeckt und daher nichtig.
I.
Die Vorschriften der Berufsordnung der Rechtsanwälte sind allerdings nicht deshalb unwirksam, weil Ausfertigung und Verkündung nicht den rechtsstaatlichen Anforderungen genügten. Die Auffassung des Bundesgerichtshofs, daß die Ausfertigung der Berufsordnung vor Abschluß der Prüfung durch das Bundesministerium der Justiz Rechtsvorschriften nicht verletzt (NJW 1999, S. 2678), begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
II.
Die Rechtsanwaltskammer und das Berufsgericht haben jedoch die Reichweite der gesetzlichen Ermächtigung verkannt.
1. Gegen Berufsausübungsregelungen in Gestalt von Satzungen öffentlichrechtlicher Berufsverbände bestehen grundsätzlich keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfGE 94, 372 <390>; stRspr). Das zulässige Ausmaß von Beschränkungen der Berufsfreiheit hängt von Umfang und Inhalt der den Berufsverbänden vom Gesetzgeber erteilten Ermächtigung ab. Bei der Überantwortung der Rechtsetzungskompetenz muß er die durch Satzungsrecht möglichen Einschränkungen besonders deutlich vorgeben, wenn die Berufsangehörigen selbst in ihrer freien beruflichen Betätigung empfindlich beeinträchtigt werden (vgl. BVerfGE 98, 49 <60 f.>). Dies gilt erst recht, wenn der eigentliche Verantwortungsbereich des Satzungsgebers - nämlich die Regelung der inneren Angelegenheiten des Berufsstands - überschritten wird und die Interessen Dritter oder der Allgemeinheit an der Art und Weise der Tätigkeit berührt werden. Verbandsinterne Regelungen, die in fremde Befugnisse eingreifen oder gesetzlich geregelte Verfahren beeinflussen, können außenstehenden Dritten zum Nachteil gereichen oder Allgemeinwohlbelange beeinträchtigen. Insoweit birgt eine Rechtsetzung durch Berufsverbände besondere Gefahren in sich, da sie sich bei der Schaffung von Satzungsrecht typischerweise von Verbandsinteressen leiten lassen (vgl. BVerfGE 76, 171 <185>). Diese Gefahren muß der Gesetzgeber berücksichtigen, wenn er einem Verband die Ermächtigung zum Erlaß von Satzungsrecht erteilt. Je stärker die Interessen der Allgemeinheit berührt werden, desto weniger darf sich der Gesetzgeber seiner Verantwortung dafür entziehen, daß verschiedene einander widerstreitende Interessen und Rechtspositionen gegeneinander abzuwägen und zum Ausgleich zu bringen sind (vgl. BVerfGE 33, 125 <158 f.>; 71, 162 <172>; 76, 171 <185>). Deshalb reichen Ermächtigungsnormen, die einer mit Autonomie ausgestatteten Körperschaft Regelungsspielräume zur Bestimmung von Berufspflichten eröffnen, die sich über den Berufsstand hinaus auswirken, nur so weit, wie der Gesetzgeber erkennbar selbst zu einer solchen Gestaltung des Rechts den Weg bereitet (vgl. BVerfGE 38, 373 <381 ff.>).
2. Eine gewisse Berührung mit den Interessen und Rechten Dritter ist bei den Berufsregelungen, die von der Satzungsversammlung autonom auf der Grundlage der Bundesrechtsanwaltsordnung erlassen werden, unvermeidlich.
Der Gesetzgeber hat die Regelungsbereiche mit Außenwirkung in § 59 b Abs. 2 Nr. 5 bis 9 BRAO auch ausdrücklich genannt. Die dort aufgeführten Materien berühren das Verhältnis der Anwälte zu Mandanten, Gerichten und Behörden, zu Mitarbeitern und beim grenzüberschreitenden Rechtsverkehr; inhaltlich geht es um die Beratung, die Vertretung vor Gericht, die Vollstreckung, die Beitreibung von Kosten und die Beschäftigung von Mitarbeitern. Die Satzungsversammlung ist danach ermächtigt, Regelungen mit Außenwirkung für die genannten Sachverhalte und Personenkreise zu treffen.
Die Ermächtigung ist allerdings eingebettet in den Regelungszusammenhang der Bundesrechtsanwaltsordnung sowie in die sonstigen gesetzlichen Vorschriften, die das Verhalten von Rechtsanwälten bei der Wahrnehmung eines Auftrags im Verhältnis zu den Gerichten, ihren Mandanten und den Rechtsanwaltskollegen steuern. Hierzu zählen vornehmlich die Prozeßordnungen und die sonstigen das Verfahren betreffenden Gesetze, aber auch die einschlägigen Vorschriften des Zivil- und Strafrechts. Das Berufsrecht der Rechtsanwälte greift insoweit lediglich ergänzend und konkretisierend ein.
3. Die Vorschrift des § 13 BORA überschreitet jedoch die der Satzungsversammlung gezogenen Grenzen, weil sich der Bundesrechtsanwaltsordnung nicht entnehmen läßt, daß die Handlungsspielräume der Prozeßparteien durch Satzungsrecht eingeengt werden dürfen; insoweit verstößt die Regelung gegen den Vorbehalt des Gesetzes. Sie mißachtet zugleich den Vorrang, der den zivilprozessualen Regelungen des Versäumnisverfahrens zukommt.
a) Diese Verstöße bestehen unabhängig davon, ob die Ermächtigungssgrundlage für § 13 BORA in § 59 b Abs. 2 Nr. 5 Buchstabe a BRAO gesehen wird, wie dies die Bundesrechtsanwaltskammer in Übereinstimmung mit der Systematik der Berufsordnung ausgeführt hat, oder ob mit dem Bundesministerium der Justiz und dem Bundesgerichtshof die Grundlage eher der Nr. 8 entnommen wird.
Die Regelung in § 13 BORA umfaßt beide Arten von Berufspflichten, solche im Zusammenhang mit der Wahrnehmung eines Auftrags und solche des beruflichen Verhaltens gegenüber anderen Mitgliedern der Rechtsanwaltskammer. Sie fordert eine kollegiale Rücksichtnahme bis an die Grenze, die durch das unabweisbare Interesse des Mandanten gezogen wird. Insoweit geht es um Berufspflichten gegenüber anderen Rechtsanwälten. Zugleich stellt die Regelung die prozessuale Befugnis, zugunsten des eigenen Mandanten ein Versäumnisurteil zu erwirken, unter den Vorbehalt vorheriger Ankündigung. Insoweit betrifft sie Berufspflichten bei der Wahrnehmung eines Auftrags.
b) Mit § 13 BORA wird das in der Zivilprozeßordnung ausgeformte Versäumnisverfahren geändert. Dabei wird der Umfang der Ermächtigung in § 59 b BRAO in beiden Alternativen überschritten. Das wird auch durch Zweck und Entstehungsgeschichte von § 13 BORA belegt.
aa) Die Vorschrift dient nach allgemeiner Meinung, die eine lange Tradition hat (vgl. Gerrit W. Hartung, Das anwaltliche Verbot des Versäumnisurteils, 1991), der Vermeidung von Versäumnisurteilen, bei denen von vornherein anzunehmen sei, daß gegen sie ein Einspruch erfolge und der Prozeß streitig fortgesetzt werde. Dadurch würden überflüssiger Aufwand und Kosten vermieden, die mit dem - nach der Zivilprozeßordnung rechtmäßigen - Erlaß eines Versäumnisurteils verbunden sind. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs kann § 13 BORA in gewissem Sinne als Ergänzung des § 337 ZPO verstanden werden; der Schutz des Anwalts, dem es erspart werde, sich gegenüber dem Mandanten zu rechtfertigen, trete daneben in den Hintergrund. Demgegenüber sieht der Deutsche Anwaltverein als Kehrseite kollegialer Rücksichtnahme eine gezielte Zurückstellung der Vermögensinteressen des eigenen Mandanten.
Hingegen ist das Regelwerk der Zivilprozeßordnung auf Beschleunigung angelegt. Anträgen auf Vertagung wird nur aus erheblichen Gründen stattgegeben (§ 227 ZPO). Zu den erheblichen Gründen zählt auch, wenn das Gericht dafür hält, daß die Partei ohne ihr Verschulden am Erscheinen verhindert ist. Bei schuldhafter Säumnis gilt dies jedoch nicht; eine Vertagung kann also von einem Rechtsanwalt nicht einseitig durchgesetzt werden. Geht das Gericht davon aus, daß nach den bekanntgewordenen Umständen der säumige Rechtsanwalt nicht entschuldigt ist, wird antragsgemäß entweder nach Lage der Akten entschieden oder ein Versäumnisurteil erlassen (§ 331 a ZPO); anderenfalls wird das Ruhen des Verfahrens angeordnet (§ 251 a ZPO). Das Erwirken eines Versäumnisurteils setzt nach der Zivilprozeßordnung keine Ankündigung gegenüber dem Gegner voraus. Es sichert in dem Konflikt zwischen Beschleunigung, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit einstweilen die Durchsetzbarkeit des geltend gemachten Anspruchs ohne Sicherheitsleistung (§§ 330, 331, 708 Nr. 2 i.V.m. §§ 719, 707 ZPO).
bb) Die erheblichen Nachteile für die säumige Prozeßpartei, unter anderem auch die Kostenlast des § 344 ZPO, die ihrerseits wieder Haftungsansprüche gegenüber dem säumigen Anwalt zu begründen vermögen, haben seit mehr als einhundert Jahren dazu geführt, daß es unter den Anwälten als unkollegial gilt, ohne triftige Gründe ein Versäumnisurteil gegen einen Kollegen aus demselben Kammerbezirk zu erwirken. Die Ehrengerichte der Anwaltschaft haben dies immer wieder bestätigt (1892: EGH VI, S. 79; 1898: EGH IX, S. 232; 1906: EGH XIII, S. 43; 1911: EGH XV, S. 130; 1916: EGH XVII, S. 315). Lediglich das Reichsgericht (RGZ 10, 25) führte im Jahre 1908 aus: "Derartige kollegiale Gewohnheiten haben nicht die Kraft und, wie ohne weiteres anzunehmen ist, auch nicht die Absicht, die dem Anwalt seiner Partei gegenüber obliegenden Pflichten irgend abzuändern oder einzuschränken." Diese Auffassung hat sich indessen nicht durchgesetzt. Sowohl ein "Vademecum" aus dem Jahre 1929 als auch die Richtlinien der Reichsrechtsanwaltskammer von 1934 sowie die nach dem Zweiten Weltkrieg überarbeiteten Standesrichtlinien enthielten eine Vorschrift, nach der es unzulässig war, gegen die von einem Kollegen vertretene Partei ein Versäumnisurteil zu erwirken, wenn dies nicht rechtzeitig vorher angekündigt war (vgl. Lingenberg/Hummel, Kommentar zu den Grundsätzen des anwaltlichen Standesrechts, 1981, Einl., Anm. 2; Noack, Kommentar zur Reichsrechtsanwaltsordnung, 1937, S. 258 ff.; Kalsbach, Bundesrechtsanwaltsordnung und Richtlinien für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs, 1960, nach § 43, S. 165 ff.; zusammenfassend Gerrit W. Hartung, a.a.O.).
Nachdem das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1987 die berufsständischen Regelungen in Form von Richtlinien für verfassungswidrig erklärt hatte (BVerfGE 76, 171 und 76, 196), normierte die novellierte Bundesrechtsanwaltsordnung von 1994 neben der Generalklausel in § 43 BRAO die wichtigsten anwaltlichen Pflichten, unter anderem zur Wahrung der Unabhängigkeit und zur Verschwiegenheit, sowie das Verbot der Wahrnehmung widerstreitender Interessen und Gebote zur Sachlichkeit und zur ständigen Fortbildung (§ 43 a BRAO), ferner Regelungen zur Werbung (§ 43 b BRAO), zu den Fachanwaltschaften (§ 43 c BRAO), zur Berufshaftpflichtversicherung (§ 51 BRAO) und zur beruflichen Zusammenarbeit (§ 59 a BRAO). Zum Versäumnisverfahren enthält die Bundesrechtsanwaltsordnung keine speziellen Vorschriften. Bis zum Erlaß des § 13 BORA war daher das anwaltliche Verhalten allein von den Vorschriften der Zivilprozeßordnung bestimmt (vgl. BGH, NJW 1991, S. 42 <43>; BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, NJW 1993, S. 121 <122>).
Die Satzungsversammlung (vgl. §§ 191 a bis 191 e BRAO), die zum Erlaß des autonomen Satzungsrechts gebildet wurde, erachtete allerdings die hier angegriffene Regelung des § 13 BORA nach streitiger Beratung für unverzichtbar (vgl. die Nachweise in dem Protokoll über die 5. Sitzung der Satzungsversammlung vom 28. bis 29. November 1996, S. 9 f.). Kollegialität und faire Verfahrensgestaltung ließen die Regelung weiterhin geboten erscheinen. Die Zurückdrängung von Mandanteninteressen wurde bis zu der von der Berufsordnung gezogenen Grenze für hinnehmbar erachtet.
c) Die durch § 13 BORA bewirkte Änderung des Versäumnisverfahrens ist von erheblicher Tragweite.
Die Wirkung dieser Änderung ist zwar in den Stellungnahmen zur vorliegenden Verfassungsbeschwerde verschiedentlich als geringfügig eingestuft worden, weil der erschienene Rechtsanwalt allenfalls eine Einbuße an Arbeitszeit ohne gebührenrechtlichen Anspruch erleide. Geringfügig ist sie aber nur aus der Sicht des betroffenen Rechtsanwalts. Für diesen stellt sich die kollegiale Rücksichtnahme als besonders wichtiger Belang dar. Unter den Rechtsanwälten tritt der kollegiale Gesichtspunkt besonders deutlich hervor, wenn man in den Blick nimmt, daß aufgrund der Satzungsregelung auch die schuldhafte Säumnis praktisch ohne haftungsrechtliche Konsequenzen bleibt.
Dagegen führt diese Kollegialität zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen bei Dritten. Der Mandant, zu dessen Lasten auf eine vom Prozeßrecht eingeräumte Befugnis verzichtet werden muß, wenn der Antrag auf Versäumnisurteil nicht angekündigt worden ist, erleidet typischerweise eine Vermögensgefährdung oder -einbuße, der regelmäßig auf seiner Seite keine wirtschaftlichen oder ideellen Vorteile gegenüberstehen. Die Modifizierung zivilprozessualer Rechte und Pflichten nützt daher im allgemeinen nicht dem einzelnen Mandanten, sondern der Anwaltschaft insgesamt. Nicht zuletzt wegen der Terminierungspraxis von Gerichten, die zeitliche Ungenauigkeiten und Sammeltermine in Kauf nehmen, ist auch für sorgfältig arbeitende Rechtsanwälte die Säumnis nicht immer vermeidbar. Dem Mandanten, in dessen Vertretung kein Versäumnisurteil erwirkt wird, stehen aber typischerweise keine Vorteile in Aussicht, die den Nachteil kompensieren könnten, der aus dem Verzicht auf die prozessuale Gestaltungsmöglichkeit durch ein Versäumnisurteil folgt. Er prozessiert in der Regel nicht fortlaufend und steht deshalb nicht in der Gefahr, selbst in einem anderen Verfahren säumig zu werden. Der Mandant ist seinem Prozeßgegner auch nicht in kollegialer Weise verbunden.
d) Zu einer solchen Änderung der zivilprozessualen Stellung des Mandanten im Wege autonomen Satzungsrechts ermächtigt die Bundesrechtsanwaltsordnung nicht.
In der Bundesrechtsanwaltsordnung fehlen Hinweise dafür, daß das autonom gesetzte Berufsrecht ein Abweichen von den jeweiligen Prozeßordnungen erlauben könnte, wenn die Parteien durch Rechtsanwälte vertreten sind. Die Bundesrechtsanwaltsordnung setzt vielmehr voraus, daß die Interessen der Mandanten in dem Umfang, wie sie durch die Prozeßordnungen und das materielle Recht ausgeformt sind, vom Rechtsanwalt wahrgenommen werden. Ihn trifft zuvörderst die Pflicht, alles zu tun, was im Rahmen seines Auftrags zugunsten des Mandanten möglich ist. Schon deshalb bedürfte es einer ausdrücklichen und klaren gesetzlichen Grundlage, wenn die Satzungsversammlung ermächtigt sein sollte, Vorschriften zur Stärkung der Kollegialität so auszugestalten, daß die primären Verpflichtungen aus dem Mandantenvertrag zurückgedrängt oder abgeschwächt werden. Eine solche Ermächtigung ist aus dem Wortlaut und dem Regelungszusammenhang der Bundesrechtsanwaltsordnung nicht zu entnehmen. Das wird durch die Entstehungsgeschichte insoweit bekräftigt, als sich der Gesetzgeber bei der Novellierung der Bundesrechtsanwaltsordnung im Jahre 1994 in besonderer Weise bewußt war, daß die wesentlichen Rechte und Pflichten von ihm selbst geregelt werden sollten. Dies folgte bereits aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum anwaltlichen Standesrecht von 1987 (vgl. BVerfGE 76, 171 und 76, 196). Zu keinem Zeitpunkt standen aber bei der Neuordnung des anwaltlichen Berufsrechts durch den Gesetzgeber inhaltliche Korrekturen zivilprozessualer Rechte zur Debatte.
4. Die Satzungsversammlung hat mit § 13 BORA zugleich den Vorrang des Gesetzes mißachtet. Solange der Bundesgesetzgeber die Zivilprozeßordnung nicht dahin einschränkt, daß der Antrag auf Erlaß eines Versäumnisurteils prozessual gegenüber dem Gegner eine Ankündigung voraussetzt, besteht eine solche Pflicht nicht. Den untergesetzlichen Normen des Berufsrechts fehlt die Kraft zur inhaltlichen Änderung der Zivilprozeßordnung.
5. Die dargestellten Mängel des § 13 BORA lassen sich nicht durch verfassungskonforme Auslegung vermeiden.
Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung endet dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde (vgl. BVerfGE 18, 97 <111>; 98, 17 <45>; stRspr). Im übrigen muß das Gesetz auch bei einer solchen Auslegung sinnvoll bleiben (vgl. BVerfGE 2, 266 <282>; 95, 64 <93>; stRspr). Beiden Voraussetzungen kann mittels Auslegung nicht genügt werden.
a) Die protokollierte Vorgeschichte zu § 13 BORA (vgl. Protokoll der 1. Sitzung des Ausschusses 4 der Satzungsversammlung am 1./2. Dezember 1995, S. 31 f.; Protokoll über die 4. Sitzung der Satzungsversammlung vom 13. bis 15. Juni 1996, S. 6 f.; Protokoll über die 5. Sitzung der Satzungsversammlung vom 28. bis 29. November 1996, S. 9 f.) belegt den Willen der Satzungsversammlung, sich nicht auf eine Verdeutlichung ohnedies bestehender prozessualer Rechte und Pflichten zu beschränken. Die Norm dient vielmehr der Korrektur der nach der Zivilprozeßordnung vorgefundenen Ausgangslage. Das sollte - wie dies in den angegriffenen Entscheidungen auch angenommen worden ist - durch ein Regel-Ausnahme-Verhältnis erreicht werden. Grundsätzlich sollte der Anwalt das Versäumnisurteil ohne Ankündigung nicht beantragen dürfen, es sei denn, daß die Interessen des Mandanten es objektiv erfordern. Ersichtlich kann dieser Inhalt der Norm nicht aufrechterhalten werden, wenn aus den oben dargelegten Gründen eine verfassungskonforme Auslegung abweichend davon geböte, regelmäßig im Interesse des eigenen Mandanten zu handeln. Maßt sich eine untergesetzliche Norm an, die Wahrnehmung prozessualer Rechte als unkollegial zu bezeichnen, so zielt sie auf eine Veränderung des Gesetzesrechts ab. Dies widerstreitet einer verfassungskonformen Auslegung zum Zwecke der Herstellung der gesetzlichen Ausgangslage.
b) Bliebe die Norm bestehen, die nach ihrem Wortlaut regelmäßig voraussetzt, daß der Antrag auf Erlaß eines Versäumnisurteils zuvor angekündigt wird, obwohl dies bei verfassungskonformer Auslegung gerade nicht der Regelfall ist, hätte dies zudem eine rechtsstaatlich bedenkliche Unklarheit über den Norminhalt zur Folge. Der publizierte Text wäre so weit von der durch verfassungskonforme Auslegung gewonnenen Rechtslage entfernt, daß er als Handlungsanweisung nicht mehr taugte. Die Rechtsanwendung wäre in erhöhtem Maße irrtumsanfällig, ohne daß diese Vorgehensweise auch Vorteile mit sich brächte.
c) Eine verfassungskonforme Auslegung soll zudem von der Absicht des Normgebers das Maximum dessen aufrechterhalten, was nach der Verfassung aufrechterhalten werden kann (vgl. BVerfGE 9, 194 <200>; 93, 37 <81>; stRspr). Vorliegend verbleibt aber kein Restbestand der Norm, dessen Anwendung mit verfassungskonformer Auslegung gesichert werden könnte. Die Nichtigkeit der Norm führt auch nicht zu einer Regelungslücke. Schon der Mandatsvertrag verpflichtet den Anwalt, das Versäumnisurteil nur dann zu erwirken, wenn es im konkreten Fall tatsächlich den Interessen seines Mandanten entspricht. Dies ergibt sich bereits aus § 1 Abs. 3 BORA. Kein Rechtsanwalt ist durch die Zivilprozeßordnung gezwungen, ein Versäumnisurteil zu beantragen; insoweit bleibt auch Raum für kollegiale Rücksichtnahme.
III.
Die auf der verfassungswidrigen Vorschrift beruhende Rüge sowie der Einspruchsbescheid und der Beschluß des Anwaltsgerichtshofs entbehren der in Art. 12 Abs. 1 GG geforderten gesetzlichen Grundlage. Sie sind verfassungswidrig und aufzuheben.
BVerfG:
Urteil v. 14.12.1999
Az: 1 BvR 1327/98
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