Sozialgericht Berlin:
Beschluss vom 27. Januar 2011
Aktenzeichen: S 180 SF 2108/10 E
(SG Berlin: Beschluss v. 27.01.2011, Az.: S 180 SF 2108/10 E)
1. Auch minderjährige Kinder in SGB-2-Bedarfsgemeinschaften können Auftraggeber i. S. d. Nr 1008 RVG-VV sein, wenn der Rechtsanwalt neben den Eltern oder einem Elternteil für sie tätig wird.
2. Für die Anwendung von Nr 1008 RVG-VV kommt es nicht darauf an, ob und inwieweit dem Rechtsanwalt durch die Auftraggebermehrheit ein Mehraufwand im Einzelfall tatsächlich entstanden ist.
Tenor
Die Erinnerung gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss der Urkundsbeamtin des Sozialgerichts vom 18. Februar 2010 (Az. S 63 AS €/09 ER) wird zurückgewiesen.
Der Erinnerungsführer hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Erinnerungsgegner für dieses Erinnerungsverfahren zu erstatten.
Gründe
Die zulässige Erinnerung vom 02. März 2010, hier eingegangen am 04. März 2010, ist nicht begründet. Zu Unrecht geht der Erinnerungsführer davon aus, dass eine Berücksichtigung der Gebührenerhöhung gem. Nr. 1008 VV RVG für die drei minderjährigen Erinnerungsgegner zu 2. bis 4. ausgeschlossen ist.
2Die Ansicht des Erinnerungsführers, dass bei minderjährigen Beteiligten in SGB II-Bedarfsgemeinschaften die Gebührenerhöhung wegen mehrerer Auftraggeber nach Nr. 1008 VV RVG nicht greife, kann nicht überzeugen. Auch minderjährige Kinder sind in SGB II-Verfahren als Auftraggeber i. S. d. Nr. 1008 VV RVG zu sehen, wenn der Rechtsanwalt neben den Eltern oder einem Elternteil für sie tätig wird. Insoweit folgt die Kammer der Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) in dem Urteil vom 21. Dezember 2009 (Az. B 14 AS 83/08 R, zitiert nach juris und sozialgerichtsbarkeit.de). Dort hat das BSG u. a. ausgeführt:
€Eine Auftraggebermehrheit liegt vor, wenn derselbe Rechtsanwalt für verschiedene natürliche Personen tätig wird (vgl Müller-Rabe, aaO, RdNr 36). Abgestellt wird nur auf die Zahl der Auftraggeber unabhängig davon, wer von ihnen gegenüber dem Anwalt auftritt (vgl BT-Drucks 15/1971 S 205; BVerwG, Urteil vom 10. April 2000 6 C 3/99 Buchholz 362 § 6 BRAGO Nr 2 für die Anwaltsvertretung eines Elternpaares in einer Schulangelegenheit; Müller-Rabe, aaO, RdNr 38). Auftraggeber iS des § 7 Abs 1 RVG ist derjenige, in dessen Angelegenheit ein Rechtsanwalt tätig wird. Das waren hier beide Kläger, die unter dem Gesichtspunkt der Meistbegünstigung ihre jeweiligen Individualansprüche (BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 12) gemeinsam geltend gemacht haben. Dass der Kläger zu 2 minderjährig war und von seiner Mutter vertreten wurde, steht der Anwendung der Nr 1008 VV RVG nicht entgegen€€
Die entgegenstehenden Ausführungen in der Erinnerungsschrift können nicht überzeugen. Die Bevollmächtigte ist im gerichtlichen Eilverfahren nicht lediglich für den Vater, sondern auch für die drei minderjährigen Kinder tätig geworden. Die Voraussetzungen der Nr. 1008 VV RVG sind damit erfüllt, so dass die Gebührenerhöhung zu gewähren ist.
5Es kommt hierbei im Gegensatz zur Auffassung des Erinnerungsführers auch nicht darauf an, ob ein anwaltlicher Mehraufwand in diesem Fall tatsächlich entstanden ist. Denn es handelt sich bei der Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV RVG um einen pauschalen Aufschlag auf die Verfahrensgebühr ohne Rücksicht darauf, ob und inwieweit dem Rechtsanwalt durch die Auftraggebermehrheit eine Mehrbelastung entsteht (vgl. BGH, Urteil v. 06.10.1983, III ZR 109/82, zu der Vorgängervorschrift in § 6 Abs. 1 BRAGO; Müller-Rabe in: Gerold/Schmidt, RVG, 19. Aufl., Nr. 1008 Rn. 41 m. w. N.). Der Gesetzgeber konnte und durfte davon ausgehen, dass in diesen Fällen typischerweise ein erhöhter Arbeitsaufwand anfällt. Wie bei sonstigen Pauschalgebühren kommt es damit auf die konkreten Verhältnisse im Einzelfall nicht an.
Schließlich kann der Gebührenerhöhung auch nicht entgegengehalten werden, dass durch eine uneingeschränkte Anwendung von Nr. 1008 VV RVG bei Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft eine beachtliche Gebührenausuferung stattfinde, die vom gesetzgeberischen Anliegen nicht gedeckt sei. Für eine derartige Einschränkung der Nr. 1008 VV RVG besteht nach deren klarem Wortlaut keine Grundlage. Die Regelung in Nr. 1008 VV RVG ist insoweit keiner einschränkenden Auslegung zugänglich. Im Übrigen hat auch und gerade in SGB II-Verfahren die Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV RVG ihre sachliche Berechtigung. So sind z. B. bei der Beurteilung der Hilfebedürftigkeit stets die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sämtlicher Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zu berücksichtigen, vgl. §§ 7, 9, 11, 12 SGB II. Die Ermittlung des gesetzlich zustehenden Bedarfs ist ebenfalls mit Mehraufwand verbunden, wenn die Bedarfsgemeinschaft aus mehreren Mitgliedern besteht. Dieser Mehraufwand für den Rechtsanwalt entsteht in der Regel auch, wenn es sich um minderjährige Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft handelt. Zudem ist mit einer Mehrheit von Auftraggebern eine Erhöhung des Haftungsrisikos des Rechtsanwalts verbunden, was ebenfalls als Grund für die Gebührenerhöhung angeführt wird (vgl. BT-Drs. 15/1971, S. 205; Müller-Rabe in: a. a. O., Nr. 1008 Rn. 37). Eine Erhöhung des Haftungsrisikos tritt bei der Vertretung von Mitgliedern von Bedarfsgemeinschaften nach dem SGB II ohne weiteres ein. Daher gebietet der Sinn und Zweck der Vorschrift, auch in diesen Fällen die Gebühren zu erhöhen.
Insgesamt kommt die Kammer daher zu dem Ergebnis, dass im Kostenfestsetzungsbeschluss zu Recht die Erhöhung nach Nr. 1008 VV RVG anerkannt worden ist. Die Erinnerung war folglich als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung für das Verfahren beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Die Kammer hält im Einklang mit der Rechtsprechung der 164. Kammer und 165. Kammer des Sozialgerichts Berlin eine eigenständige Kostenentscheidung auch im Erinnerungsverfahren für notwendig, und zwar aus den z. B. in den Beschlüssen der 164. Kammer des Sozialgerichts Berlin - S 164 SF 118/09 E vom 6. März 2009 - und der 165. Kammer des Sozialgerichts Berlin - S 165 SF 11/09 E vom 2. Februar 2009 - grundsätzlich dargelegten Gründen.
Dieser Beschluss ist, auch hinsichtlich der Kostengrundentscheidung, unanfechtbar (§ 197 Abs. 2 SGG).
SG Berlin:
Beschluss v. 27.01.2011
Az: S 180 SF 2108/10 E
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