Landgericht Offenburg:
Beschluss vom 31. Mai 2006
Aktenzeichen: 1 KLs 16 Js 10008/05 - 1 AK 12/05

(LG Offenburg: Beschluss v. 31.05.2006, Az.: 1 KLs 16 Js 10008/05 - 1 AK 12/05)

Der notwendige Verteidiger kann für die Teilnahme an einem Termin zur Exploration des Beschuldigten durch einen psychiatrischen Sachverständigen eine Terminsgebühr in analoger Anwendung der Nr. 4102 VV RVG beanspruchen.

Tenor

Auf die Erinnerung des Verteidigers wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des Landgerichts Offenburg vom 29.03.2006 dahin abgeändert, dass dem Verteidiger Rechtsanwalt ... weitere129,92 EURzu erstatten sind.

Der weitergehenden Erinnerung wird nicht abgeholfen.

Gründe

I.

Nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens beantragte der gerichtlich bestellte Pflichtverteidiger am 10.02.2006 die Festsetzung der ihm entstandenen Pflichtverteidigergebühren und Auslagen in Höhe von insgesamt 3.014,78 EUR inklusive MWSt. u.a. machte er eine Terminsgebühr nach Nr. 4102 Nr.1 VV RVG für die Teilnahme an dem Explorationsgespräch geltend, das der im Vorverfahren mit der Begutachtung der Voraussetzungen der Schuldfähigkeit und einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. §§ 20, 21, 63 StGB beauftragte psychiatrische Sachverständige am 12.08.2005 mit dem damals noch Beschuldigten geführt hat. Nach Anhörung des Vertreters der Staatskasse setzte die Rechtspflegerin des Landgerichts Offenburg durch Beschluss vom 29.03.2006 die zu erstattende Vergütung auf brutto 2.800,93 EUR fest. Abgezogen wurde neben eines geringfügigen Betrages wegen zuviel geltend gemachten Auslagen für Fotokopien insbesondere die Terminsgebühr nach Nr. 4102 Nr. 1 VV RVG für die Teilnahme an dem Explorationsgespräch mit dem psychiatrischen Sachverständigen in Höhe von 140,00 EUR zuzüglich Mehrwertsteuer, insgesamt somit 162,40 EUR.

Gegen diesen Kostenfestsetzungsbeschluss richtet sich die am 04.04.2006 eingegangene Erinnerung des Verteidigers. Zwar sehe Nr. 4102 Nr. 1 VV RVG keine Vergütung für die Teilnahme an einem Explorationsgespräch vor. Hierbei handele es sich aber um eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke. Der Gesetzgeber habe die Teilnahme des Verteidigers an Explorationsterminen übersehen und deswegen nicht geregelt. Die Tätigkeit sei vergleichbar mit richterlichen Vernehmungen und Augenscheinseinnahmen sowie mit Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft. Der Vertreter der Staatskasse sieht dagegen weder eine Gesetzeslücke noch die Befugnis der Strafkammer, eine solche zu füllen.

Nach Anhörung des Vertreters der Staatskasse hat die Rechtspflegerin mit Beschluss vom 06.04.2006 der Erinnerung nicht abgeholfen und die Angelegenheit gemäß § 56 Abs. 1 RVG zur Entscheidung vorgelegt.II.

Die Erinnerung ist gemäß § 56 Abs. 1 RVG zulässig. Auf die Streitfrage, ob hierfür eine Frist von zwei Wochen gilt (dafür Gerold/Schmidt/van Eicken/Madert/Müller-Raabe, RVG, 16. Aufl., § 204, § 56, Rdn. 5; dagegen Riedl/Susbauer/Schmal, RVG, 9.Aufl., 2005, Rdn. 5), kommt es vorliegend nicht an, da die Erinnerung jedenfalls innerhalb von zwei Wochen nach Zugang beim Verteidiger eingelegt wurde.

Gemäß § 56 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 4 S. 1 RVG ist das Landgericht Offenburg nach erfolgter Nichtabhilfeentscheidung des Rechtspflegers zur Entscheidung über die Erinnerung zuständig.III.

Die Erinnerung ist auch überwiegend begründet. Dem Pflichtverteidiger steht analog Nr. 4102 VV RVG die geltend gemachte Gebühr inklusive MWSt. in der aus dem Tenor erkennbaren Höhe zu.

1. Gemäß Nr. 4102 VV RVG entsteht eine Terminsgebühr in Höhe von 112,00 EUR (bei inhaftiertem Beschuldigten: 137,00 EUR, Nr. 4103 VV RVG) für den Pflichtverteidiger, der an

1. richterlichen Vernehmungen und Augenscheinseinnahmen,

2. Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft oder einer anderen Strafverfolgungsbehörde,

3. Terminen außerhalb der Hauptverhandlung, in denen über die Anordnung oder Fortdauer der Untersuchungshaft oder der einstweiligen Unterbringung verhandelt wird,

4. Verhandlungen im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs sowie

5. Sühneterminen nach § 380 StPO

teilnimmt.

Die Teilnahme an einem Explorationsgespräch ist in dieser Aufzählung nicht enthalten.

2. Eine Bewilligung der beantragten Gebühr in analoger Anwendung der Nr. 4102 VV zum RVG scheitert nicht daran, dass der frühere § 2 BRAGO im RVG ersatzlos gestrichen wurde (vgl. Gerold/Schmidt/van Eicken/Madert/Müller-Raabe, a.a.O., Synopse, S. 1731). § 2 BRAGO sah ausdrücklich vor, dass die Gebühren in sinngemäßer Anwendung der BRAGO-Vorschriften zu bemessen sind, wenn in der BRAGO selbst über die Gebühren für eine Berufstätigkeit des Rechtsanwalts nichts bestimmt ist. Weder der Begründung des ursprünglichen Gesetzesentwurfs vom 14.05.2002 noch der Begründung des Gesetzesentwurfes für das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz vom 11.11.2003 (Bundestagsdrucksache 15/1971) ist nämlich zu entnehmen, warum diese Vorschrift gestrichen wurde und ob hiermit überhaupt ein Regelungszweck verfolgt wurde. Aus dem bloßen Schweigen des Gesetzes und des historischen Gesetzgebers über die Möglichkeit einer analogen Anwendung kann nicht der Schluss gezogen werden, dass entgegen allgemeinen Rechtsanwendungsgrundsätzen und der bisher geltenden Regelung Analogien im Bereich des RVG nunmehr vollständig ausgeschlossen werden sollten.

Dementsprechend hat auch das Thüringer Oberlandesgericht (allerdings in einem eindeutigen Fall eines Redaktionsversehens) eine analoge Anwendung der Nr. 34104 VV RVG bejaht (Juristisches Büro 2005, 529 f) und das Sozialgericht Berlin in einem Beschluss vom 27.10.2005 eine Analogie zu Nr. 3104 VV RVG zumindest erörtert, wenn auch letztlich aus Rechtsgründen abgelehnt (vgl. RVGreport 2006, 106 f).

3. Die analoge Anwendung einer Gebührenvorschrift setzt eine Lücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus (vgl. BGH, 9 a. Zivilsenat, Beschluss vom 30.01.2004, NJW-RR 2004, 502 f.). Ob eine solche vorliegt, ist unter Berücksichtigung der Gesetzgebungsmaterialien und im Zusammenhang mit den einschlägigen Verfahrensvorschriften und den mit den Regelungen verfolgten wirtschaftlichen Zwecken zu ermitteln (vgl. Gerold/ Schmidt/van Eicken/Madert/Müller-Raabe, a.a.O., Einleitung, Rdn. 10 f.).

3.1. Eine Regelungslücke ist gegeben.

Das RVG enthält keine Aussage darüber, ob die Teilnahme an Explorationsgesprächen durch den Verteidiger vergütet werden soll oder nicht.

Ein Explorationsgespräch stellt keine Vernehmung i.S.d. Nr. 4102 VV RVG dar. Der Sachverständige ist nämlich nicht befugt, Vernehmungen im Sinne der StPO durchzuführen (Karlsruher Kommentar/Senge, StPO, 5. Aufl., § 80, Rdn. 2).

Dem Gesetz ist aber auch nicht zu entnehmen, dass die Teilnahme des Verteidigers an Explorationsgesprächen nicht zu vergüten ist. Allerdings handelt es sich bei den die Gebühren nach Nr. 4102 VV RVG auslösenden Tatbeständen um eine abschließende Aufzählung und nicht um bloße Beispiele, da dieses durch die Einfügung beispielsweise des Wortes insbesondere deutlich gemacht worden wäre. Ausdrücklich ist aber eine analoge Anwendung hierdurch nicht ausgeschlossen, wie es etwa durch die Einfügung des Wortes nur oder ausschließlich hätte geschehen können. Da im Bereich des RVG auch kein allgemeines Analogieverbot besteht (s. o.), ist der abschließenden Aufzählung in Nr. 4102 VV RVG lediglich zu entnehmen, dass die Vergütung der Teilnahme an einem Explorationsgespräch hierin nicht geregelt ist, nicht aber, dass sie im Sinne einer Nichtvergütung geregelt ist.

3.2. Diese Regelungslücke erscheint auch planwidrig.

Zweck der Neuregelung des Gebührenrechts im Strafverfahren war die Verbesserung der Honorierung der Verteidigertätigkeit im Ermittlungsverfahren. Dem Anwalt sollte es auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bereits im Stadium des Ermittlungsverfahrens möglich werden, einem Strafverfahren durch entsprechendes Engagement zu einem zügigen Abschluss zu verhelfen (vgl. Bundestagsdrucksache 15/1971, S. 146). Zudem werde das zukünftige Hauptverfahren durch das Ermittlungsverfahren bereits entscheidend mitbestimmt. Damit habe das Ermittlungsverfahren erhebliche Bedeutung für das Schicksal des Beschuldigten. Die der Hauptverhandlung vorausgehenden Verfahrensabschnitte sollten deshalb grundsätzlich entsprechend ihrem Umfang und ihrer Bedeutung für das Strafverfahren stärker berücksichtigt werden. Die sachgerechte Verteidigung erfordere ggf. eine Teilnahme des Rechtsanwalts an Vernehmungen seines Mandanten bzw. von Zeugen im Ermittlungsverfahren. Diese Teilnahme sei im Interesse des weiteren Verfahrens, insbesondere im Hinblick auf die Verwertbarkeit von Angaben des Beschuldigten bzw. von Zeugen auch wünschenswert. Denn durch eine möglichst frühzeitige Einbindung des Rechtsanwalts in das Ermittlungsverfahren und eine damit sichergestellte kompetente Verteidigung des Beschuldigten könne das Hauptverfahren entbehrlich oder eine Hauptverhandlung erheblich abgekürzt werden (vgl. Bundestagsdrucksache 15/1971, S. 219) Im Gesetzesentwurf vom 11.11.2003 war die Teilnahme an den nunmehr in Nr. 4201 VV RVG genannten Terminen bereits vorgesehen, mit Ausnahme allerdings der Teilnahme an einem richterlichen Augenschein. Diese wurde aufgrund einer Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages eingefügt. Dem Verteidiger sei auch hierfür die Anwesenheit gestattet (§ 168 b Abs. 1 StPO). Wegen der Vergleichbarkeit der jeweiligen anwaltlichen Tätigkeit erscheine es sachgerecht, die beiden Fälle gebührenrechtlich gleich zu behandeln. Dem kam der Bundesgesetzgeber nach (vgl. Otto/Klüsener/May, Das neue Vergütungsrecht, 2004, S. 463).

Diesen gesetzgeberischen Zielen entspricht es nicht, die Teilnahme des Pflichtverteidigers an einem Explorationsgespräch nicht zu vergüten.

3.3. Auch andere Aspekte sprechen für eine analoge Anwendung des Nr. 4102 VV RVG auf den geltend gemachten Sachverhalt.

Grundsätzlich sind die Vorschriften des RVG so auszulegen, dass keine Tätigkeit des Rechtsanwalts unentgeltlich ist (Gerold/Schmidt/van Eicken/Madert/Müller-Raabe, a.a.O., Einleitung, Rdn. 10). Die Teilnahme an Terminen außerhalb der Hauptverhandlung ist nach dem Willen des Gesetzgebers nicht durch die Grundgebühr und die Verfahrensgebühr in den verschiedenen Verfahrensabschnitten abgedeckt. Andernfalls wäre die Einfügung von Nr. 4102 VV RVG nicht erforderlich gewesen.

Der Verteidiger hat allerdings keinen Anspruch darauf, bei einem Explorationsgespräch anwesend zu sein (BGH NStZ 2003, 101 ff). Dies stellt aber keinen grundsätzlichen Unterschied zu den im Gebührentatbestand Nr. 4102 VV RVG geregelten Terminen dar. Auch dort sind nämlich Termine erfasst, bei denen der Verteidiger kein Anwesenheitsrecht hat, so die Vernehmungen des Beschuldigten oder von Zeugen bei der Polizei. Der Gesetzgeber hat hierzu in der Begründung zum Gesetzesentwurf ausgeführt, dass sich die Teilnahme des Verteidigers in diesem Zusammenhang daher auf solche Vernehmungen beschränkt, bei denen Polizei oder Staatsanwaltschaft die Verteidiger zulassen (Bundestagsdrucksache 15/1971, S. 223).

Die Ergänzung um die Teilnahme an richterlichen Augenscheinsterminen auf Anregung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages macht zudem deutlich, dass in dem Gesetzentwurf gebührenrelevante Tätigkeiten übersehen worden waren. Es ist anzunehmen, dass den Mitgliedern des Rechtsausschusses diesbezüglich nur die Teilnahme an richterlichen Augenscheinsterminen auffiel, der hier relevante Sachverhalt aber nicht bedacht wurde. Dass der Gesetzgeber sich auf den Vorschlag des Rechtsausschusses einließ, macht deutlich, dass tatsächlich die Teilnahme an allen wesentlichen Terminen außerhalb der Hauptverhandlung für den Verteidiger vergütungspflichtig gemacht werden sollte, um seine Tätigkeit im Ermittlungsverfahren, aber auch bei anderen Terminen außerhalb der Hauptverhandlung angemessen zu vergüten. Der Gesetzesbegründung ist weiter zu entnehmen, dass der Gesetzgeber der Auffassung ist, dass diese Tätigkeit einem modernen Verständnis von Strafverteidigung entspricht und dem Strafverfahren insgesamt zugute kommt. Angesichts der Bedeutung von Explorationsgesprächen für das weitere Verfahren, insbesondere wenn, wie hier, eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB in Betracht kommt, kann die Teilnahme des Verteidigers an solchen Gesprächen auch nicht als überflüssig angesehen werden, wenn sie auch nicht notwendig ist sowie kein Rechtsanspruch darauf besteht (BGH NStZ 2003, 101).

3.4. Insgesamt ist somit die Interessenlage bei der Teilnahme an einem Explorationsgespräch derjenigen bei der Teilnahme an anderen, in Nr. 4102 VV RVG ausdrücklich geregelten Terminen außerhalb der Hauptverhandlung so vergleichbar, dass eine Lückenschließung im Wege der Rechtsanalogie sachgerecht erscheint (vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 61. Aufl., Einleitung, Rnr. 40).III.

Dem nicht vorsteuerabzugsberechtigten Pflichtverteidiger steht somit analog Nr. 4102 VV RVG eine Pflichtverteidigergebühr in Höhe von 112,00 EUR nebst Mehrwertsteuer zu. Die einstweilige Unterbringung des Verurteilten erfolgte nämlich erst durch Beschluss vom 16.09.2005 seit dem 26.09.2005. Bis dahin war der Verurteilte nicht in Haft.

Zuzüglich der gesetzlichen Mehrwertsteuer waren dem Verteidiger daher weitere Pflichtverteidigergebühren in Höhe von 129,92 EUR zuzusprechen.

Einen Anspruch in Höhe von 140,- EUR nebst MWSt. sieht das Gesetz dagegen nicht vor, so dass der Kostenfestsetzungsantrag wegen des verbleibenden Differenzbetrages unbegründet ist.IV.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst (§ 56 Abs. 2 S. 2, 3 RVG).






LG Offenburg:
Beschluss v. 31.05.2006
Az: 1 KLs 16 Js 10008/05 - 1 AK 12/05


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