Bundespatentgericht:
Beschluss vom 1. Juni 2006
Aktenzeichen: 21 W (pat) 336/04

(BPatG: Beschluss v. 01.06.2006, Az.: 21 W (pat) 336/04)

Tenor

Nach Prüfung des Einspruchs wird das Patent widerrufen.

Gründe

I Auf die am 19. Juli 2000 beim Patentamt eingereichte Patentanmeldung ist das nachgesuchte Patent 100 35 447 mit der Bezeichnung "Linearauszug für Abfalleimer" erteilt worden. Die Veröffentlichung der Erteilung ist am 13. Mai 2004 erfolgt. Am 28. Oktober 2004 ist eine berichtigte Fassung der Streitpatentschrift veröffentlicht worden.

Gegen das Patent ist Einspruch erhoben worden.

Die Einsprechende führt zur Begründung ihres Einspruchs hinsichtlich des erteilten Patentanspruchs 1 aus, dass dessen Gegenstand angesichts des aus jeder der beiden Entgegenhaltungen E1: Schreiben der Firma Kesseböhmer vom 22. Juni 1992 mit anliegendem Katalog der Firma Kesseböhmer "Separare, der Umweltschrank" und E2: Presseinformation der Firma Leicht mit anliegender Katalogseite 88 bekannten Standes der Technik nicht mehr neu sei.

Vom Senatsberichterstatter ist die Druckschrift E5: DE 93 17 719 U1 in das Verfahren eingeführt worden.

Die Einsprechende beantragt, das Patent zu widerrufen.

Die Patentinhaberin beantragt, das Patent mit folgenden Unterlagen beschränkt aufrechtzuerhalten:

- Patentansprüche 1 bis 14 gemäß Hauptantrag, hilfsweise Patentansprüche 1 bis 14 gemäß Hilfsantrag,

- Beschreibung Seite 2, sämtlich überreicht in der mündlichen Verhandlung, übrige Unterlagen gemäß Berichtigung der Patentschrift.

Die Patentinhaberin vertritt die Auffassung, dass der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag neu sei und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Dies gelte auch für den Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hilfsantrag.

Der mit Gliederungspunkten versehene, hinsichtlich offensichtlicher Interpunktionsfehler berichtigte Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet:

M1 Linearauszug (1) für Abfalleimer (2), Utensilienträger etc. zum Einbau in einen Küchenschrank (3), insbesondere einen Spülenunterschrank mit einem in einer Arbeitsplatte (4) des Schrankes (3) eingesetzten Spülbecken (5), M2 mit an einem Boden (6) oder an den Seiten (7) des Küchenschrankes (3) oder einer den Linearauszug (1) insgesamt bildenden, in einen Küchenschrank (3) einbaubaren Einheit anzubringenden Führung (8), M3 einem an den Führungen (8) linear verfahrbarenausziehbaren Träger (11) für darauf angeordnete, darin eingehängte oder daran anderweit befestigte Abfalleimer (2), Utensilienträger etc., M4 mit einer Handhabe (12) an der vorderen Stirnseite des Trägers (11) zum Herausziehen oder Hineinschieben des Trägers (11) und ggf. mit einem im Schrank (3) bzw. in der Einheit verbleibend angeordneten Deckel (13) für einige oder alle Abfalleimer (2), Utensilienträger etc., M5 wobei die Führung (8), der Träger (11) und die Abfalleimer (2) etc. sich über einen großen Teil der Tiefe des Schrankes (3) bzw. der Einheit bis zur vollen lichten Tiefe des Schrankes (3) bzw. der Einheit und in der Höhe über einen vom Boden (6) ausgehenden erheblichen Teil der lichten Höhe des Schrankes (3) bzw. der Einheit erstrecken M6 und wobei bei eingebautem Linearauszug (1) zwischen der Oberseite der Abfalleimer (2) etc. bzw. dem Deckel (13) und der Arbeitsplatte (4) des Schrankes (3) bzw. der Oberseite der Einheit ein in der Tiefe ggf. vom Spülbecken (5) oder von dessen Ablauf (14) begrenzter Freiraum (15) verbleibt, M7 wobei im Freiraum (15) an einem Fachboden (16) oder an den Seiten(7) des Küchenschrankes (3) bzw. der Einheit anzubringende Zusatzführungen (17) vorgesehen sind, M8 wobei ein an den Zusatzführungen (17) linear verfahrbarerausziehbarer Zusatzträger (18) für darauf angeordnete, darin eingehängte oder daran anderweit befestigte Zusatzbehälter (19) vorgesehen ist M9 und wobei der Zusatzträger (18) an der vorderen Stirnseite eine Handhabe (20) zum Herausziehen oder Hineinschieben aufweist, dadurch gekennzeichnet, M10 dass der Zusatzträger (18) in der Tiefe kürzer ist als der Träger (11).

Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag umfasst die Merkmale M1 bis M10 des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag, wobei jedoch im Merkmal M8 eine Einfügung (kursiv) vorgenommen worden ist, so dass das Merkmal nunmehr lautet:

M8' wobei ein an den Zusatzführungen (17) linear verfahrbarerausziehbarer Zusatzauszug mit einem Zusatzträger (18) für darauf angeordnete, darin eingehängte oder daran anderweitig befestigte Zusatzbehälter (19) vorgesehen ist.

Ferner schließt sich an das letzte Merkmal des Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag im hilfsweise verteidigten Patentanspruch 1 noch das Merkmal M11 mit folgendem Wortlaut an:

M11 und dass der oberhalb des Hauptauszuges angeordnete Zusatzauszug verkürzt ist und eine geringere Tiefe aufweist als der lang gestreckte Hauptauszug mit dem Träger (11).

Hinsichtlich der Unteransprüche 2 bis 14 und weiterer Einzelheiten wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II Die Zuständigkeit des technischen Beschwerdesenats des Patentgerichts für die Entscheidung über den Einspruch ergibt sich aus § 147 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 PatG. Danach ist nicht das Patentamt, sondern das Patentgericht zuständig, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Einspruchsfrist nach dem 1. Januar 2002 zu laufen begonnen hat und der Einspruch vor dem 1. Juli 2006 eingelegt worden ist.

Der form- und fristgerecht erhobene Einspruch ist zulässig, denn die für die Beurteilung des behaupteten Widerrufsgrundes maßgeblichen tatsächlichen Umstände sind von der Einsprechenden innerhalb der gesetzlichen Frist im Einzelnen so dargelegt worden, dass die Patentinhaberin und der Senat daraus abschließende Folgerungen für das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen eines Widerrufsgrundes ohne eigene Ermittlungen ziehen können.

Soweit die Patentinhaberin in ihrem Schriftsatz vom 1. Dezember 2005 die öffentliche Zugänglichkeit der eingangs genannten Dokumente E1 und E2 bezweifelt, betrifft dieser Einwand lediglich die Begründetheit des Einspruchs, nicht jedoch dessen Zulässigkeit. Denn die Einsprechende hat zu beiden Entgegenhaltungen den - ihrer Meinung nach - jeweils maßgeblichen Zeitpunkt der öffentlichen Zugänglichkeit ("am 22. Juni 1992" bzw. "im Jahre 1992") genannt. Unzulässig wäre der Einspruch insofern nur dann, wenn dabei willkürlich ein offensichtlich falscher Zeitpunkt angegeben worden wäre (vgl. hierzu Schulte, Patentgesetz, 7. Auflage, § 59 Rdn. 90 m. w. N.). Dies ist nach Überzeugung des Senats hier nicht der Fall. So ist beispielsweise auf der zum Dokument E2 gehörenden "Presseinformation der Firma Leicht" noch die vierstellige Postleitzahl "7070" für den Firmenstandort Schwäbisch Gmünd vermerkt, welche bekanntlich nur bis zum Jahre 1993 verwendet werden durfte. Auf die tatsächliche Vorveröffentlichung der Druckschriften E1 und E2 kommt es vorliegend nicht an, weil die vom Senat in das Verfahren eingeführte E5, mit der ausschließlich der Widerruf des Patents begründet wird, unstrittig vorveröffentlicht ist.

Der Einspruch ist auch begründet, denn nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung erweisen sich die Gegenstände der Patentansprüche 1 nach Haupt- und Hilfsantrag als nicht patentfähig.

1.) Es kann dahinstehen, ob der Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag durch die ursprüngliche Offenbarung gedeckt ist. Ebenso braucht nicht erörtert zu werden, ob der beanspruchte - zweifelsohne gewerblich anwendbare - Linearauszug neu ist. Denn dieser Gegenstand beruht jedenfalls nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit des zuständigen Durchschnittsfachmanns, der als ein mit der Fertigung von Kücheneinrichtungen befasster, berufserfahrener Handwerksmeister zu definieren ist.

Aus der Druckschrift E5 (vgl. insbesondere die Figur und die Beschreibung Seite 2, letzter Absatz bis Seite 6, vorletzter Absatz ) ist unbestritten ein Linearauszug mit den Merkmalen M1 bis M9 des Obergriffs des Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag bekannt, denn die E5 offenbart bereits einen Linearauszug für Abfalleimer (Wertstoff-Sammelbehälter 11) und Utensilienträger (Drahtkörbe 6) zum Einbau in einen Küchenschrank (Schrankelement 1) [Merkmal M1], wobei in die Oberseite des Schrankes - vgl. die hierfür vorgesehene Ausnehmung (18) - auch ein Spülbecken (Spüle) eingelassen sein kann. Es sind Führungen (Führungsschienen 4) vorhanden, die an der Seite des Küchenschrankes (1) befestigt sind [Merkmal M2], wobei an den Führungen (4) linear verfahrbare Träger (Boden 3, 5) für darauf angeordnete Utensilienträger (6) vorgesehen sind [Merkmal M3]. An der Vorderseite dieses Trägers (3, 5) ist eine Front (2) mit einer (nicht dargestellten) Handhabe (Handgriff) zum Herausziehen oder Hineinschieben des Trägers (3, 5) befestigt [Merkmal M4]. Die Führungen (4) und die Träger (3, 5) erstrecken sich über einen großen Teil der Tiefe des Schrankes, und die Utensilienträger (6) nehmen einen erheblichen Teil seiner lichten Höhe ein [Merkmal M5], wobei oberhalb der Utensilienträger (6) ein gewisser Freiraum, beispielsweise für eine Spüle und deren Abfluss verbleibt [Merkmal M6]. Ferner sind in diesem Freiraum an den Seiten des Küchenschrankes (1) Zusatzführungen (Führungsschienen 17) befestigt [Merkmal M7], mit deren Hilfe sich ein Zusatzträger (Rahmen 10) ausziehen lässt, in welchen seinerseits Zusatzbehälter (11) eingehängt sind [Merkmal M8]. Die Vorderseite des Zusatzträgers (10) dient als Handhabe, um ihn herausziehen bzw. hineinschieben zu können [Merkmal M9].

Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag unterscheidet sich somit von dem aus der E5 bekannten Linearauszug nur durch das Merkmal M10 des kennzeichnenden Teils, wonach der Zusatzträger (18) in der Tiefe kürzer als der Träger (11) ist.

Die Patentinhaberin hat in der mündlichen Verhandlung den Standpunkt vertreten, das besagte Merkmal sei beim Stand der Technik gemäß Druckschrift E5 insofern nicht erfüllt, als dort zwar im Bereich der Ausnehmung (18) für die Spüle zwei in der Tiefe verkürzte Abfalleimer (11b, 11c) vorgesehen seien, wohingegen aber der neben der Ausnehmung (18) angeordnete Abfalleimer (11a) die volle Tiefe des Küchenschrankes (1) besäße. Damit werde beim Stand der Technik der Freiraum neben der Spüle besser genutzt. Eine Anregung, den Zusatzträger (10) in der Tiefe kürzer auszubilden als den Träger (3, 5 ) - wie dies insoweit vom Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag gelehrt wird - könne der Fachmann der Entgegenhaltung E5 folglich nicht entnehmen. Erst die Patentinhaberin habe erkannt, dass sich durch eine solche Maßnahme der beanspruchte Linearauszug wesentlich vereinfachen und verbilligen lasse, was als Beweisanzeichen für erfinderische Tätigkeit gewertet werden müsse.

Dieser Sichtweise vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Denn es liegt - ausgehend von Druckschrift E5 - im Rahmen fachmännischen Handelns, den dort beschriebenen Zusatzträger (10) zumindest dann in seiner Tiefe kürzer auszubilden als den Träger (3, 5), wenn sich die Ausnehmung (18) für die Spüle, wie dies bei modernen, modulartig aufgebauten Küchenzeilen häufig der Fall ist, über die gesamte Breite des Küchenschrankes erstreckt. Dann nämlich ist neben der Spüle kein nutzbarer Freiraum mehr vorhanden, so dass ein Abfalleimer (11a) großer Tiefe nicht untergebracht werden kann. Eines Zusatzträgers mit den in der E5 gezeigten Abmessungen bedarf es dann natürlich nicht mehr. Es erfordert keine erfinderische Tätigkeit des praxisorientierten Fachmanns, diesen Sachverhalt zu erkennen und im Interesse einer kostengünstigen Fertigung umzusetzen. Aus diesem Grunde vermag das Merkmal M10 die Patentfähigkeit des Gegenstandes des Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag nicht zu begründen.

2.) Die Frage der Zulässigkeit des Patentanspruchs 1 gemäß Hilfsantrag braucht ebenfalls nicht erörtert zu werden. Denn auch der hilfsweise beanspruchte Gegenstand ergibt sich für den zuständigen Fachmann in nahe liegender Weise aus dem Stand der Technik.

Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag zielt im geänderten Merkmal M8' und im neu hinzugekommenen Merkmal M11 darauf ab, dass nicht nur der Zusatzträger (18) an sich in seiner Tiefe kürzer als der Träger (11) sein soll, sondern auch der diesen Träger mit den Zusatzführungen (17) verbindende Zusatzauszug.

Die Patentinhaberin hat in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, durch die beanspruchte Maßnahme ließe sich die Montagezeit verkürzen. Dies zu erreichen sei nunmehr die vom Streitpatent objektiv gelöste Aufgabe. Man müsse es als Beweisanzeichen für erfinderische Tätigkeit werten, dass dieser Vorteil von der Patentinhaberin erstmalig erkannt worden sei.

Auch dieser Argumentation vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Denn zum Einen hat eine Verkürzung der Zusatzauszüge keinen Einfluss auf die Montagezeiten, da selbstverständlich nicht die Zusatzauszüge, sondern lediglich die Zusatzführungen (17) an den Seiten des Küchenschrankes befestigt werden. Von einer gleichzeitigen Verkürzung dieser Zusatzführungen (17) ist im Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag jedoch nicht die Rede.

Aber selbst wenn die Zusatzführungen (17) zusammen mit den Zusatzauszügen verkürzt würden, könnte dieses Merkmal die Patentfähigkeit des hilfsweise beanspruchten Gegenstandes nicht begründen. Denn dies wäre eine Maßnahme, die der Fachmann angesichts der vorstehend erörterten, nicht erfinderischen Verkürzung der Zusatzträger - vergleiche die Ausführungen zum Patentanspruch 1 nach Hauptantrag - ohnehin immer anstreben würde, da die Verwendung von Zusatzauszügen bzw. -führungen, die länger sind, als die von ihnen verfahrbar gehaltenen Zusatzträger, schlichtweg eine Materialverschwendung wäre. Nach alledem ist auch der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag nicht patentfähig.

3.) Mit den Patentansprüchen 1 nach Haupt- und Hilfsantrag fallen aufgrund der Antragsbindung die auf sie rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 14.

4.) Deshalb war das angegriffene Patent zu widerrufen.






BPatG:
Beschluss v. 01.06.2006
Az: 21 W (pat) 336/04


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