Bundespatentgericht:
Beschluss vom 6. Mai 2002
Aktenzeichen: 9 W (pat) 64/00

(BPatG: Beschluss v. 06.05.2002, Az.: 9 W (pat) 64/00)

Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Gründe

I Die Patentabteilung 24 des Deutschen Patent- und Markenamtes hat nach Prüfung zweier Einsprüche das am 7. November 1995 angemeldete Patent mit der Bezeichnung

"Rohr oder Rohrteil aus thermoplastischem Werkstoff"

mit Beschluss vom 18. August 2000 widerrufen. Nach Auffassung der Patentabteilung ist zwar der Widerrufsgrund der mangelnden Ausführbarkeit wegen unzureichender Offenbarung gemäß § 21 Abs 1 Nr 2 PatG nicht gegeben, jedoch sei das Patent zu widerrufen, da der beanspruchte Gegenstand eine im Griffbereich des zuständigen Fachmanns liegende Abwandlung des aus dem DE 87 18 020 U1 bekannten Kunststoffrohrteils darstelle.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die Patentinhaberin mit ihrer Beschwerde. Sie reicht neue Patentansprüche 1 gemäß Haupt- und Hilfsantrag ein und führt hierzu aus, das keines der in dem DE 87 18 020 U1 angegebenen Beispiele ein Rohr zeige, das alle Merkmale des Streitgegenstandes aufweise. Der Fachmann könne ausgehend von dieser Schrift auch nicht auf Grund seines Fachwissens zum Streitgegenstand gelangen, da die aus dem DE 87 18 020 U1 entnehmbare Lehre im Widerspruch zum Streitpatent stehe. Denn dort werde ein Mindestgewicht je Flächeneinheit für die Rohrleitung vorgeschrieben, wohingegen beim Patentanspruch 1 ein Höchstgewicht angegeben werde.

Die Patentinhaberin beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und das Patent auf der Grundlage des am 6. Mai 2002 eingereichten Hauptantrages, hilfsweise auf der Grundlage des am selben Tage eingereichten Hilfsantrages beschränkt aufrechtzuerhalten.

Der Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet:

Extrudiertes, spritzgussgeformtes oder blasgeformtes Rohr oder Rohrformteil aus einem Polyolefin oder einem Styrolpolymerisat zum Befördern von Flüssigkeiten in Abwasserrohrsystemen, wobei das Rohr oder Rohrformteil durch Einarbeiten eines geeigneten Zuschlagstoffes eine Dichte von 1,4 bis 2,7 g/cm3 aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass die Wanddicke der Rohre und Rohrformteile höchstens dem Zweiunddreißigstel ihres Außendurchmessers entspricht unddass deren Metergewicht 2,5 kg nicht übersteigt.

Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag hat folgenden Wortlaut:

Extrudiertes, spritzgussgeformtes oder blasgeformtes Rohr oder Rohrformteil aus einem Polyolefin oder einem Styrolpolymerisat zum Befördern von Flüssigkeiten in Abwasserrohrsystemen, wobei das Rohr oder Rohrformteil durch Einarbeiten eines geeigneten Zuschlagstoffes eine Dichte von 1,4 bis 2,7 g/cm3 aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass die Wanddicke der Rohre und Rohrformteile höchstens dem Zweiunddreißigstel ihres Außendurchmessers entspricht, dass deren Gewicht pro Flächeneinheit weniger als 8 kg pro Quadratmeter beträgt, unddass deren Metergewicht 2,5 kg nicht übersteigt.

An den Patentanspruch 1 schließen sich jeweils die erteilten Patentansprüche 2 bis 7 an.

Die Einsprechenden stellen in der mündlichen Verhandlung (Einsprechende II) und schriftsätzlich (Einsprechende I) übereinstimmend den Antrag, die Beschwerde zurückzuweisen.

Nach Auffassung der Einsprechenden II ist der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag nicht zulässig. Dieser enthalte nämlich ein Merkmal, das den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht zu entnehmen sei. Außerdem seien die mit Haupt- und Hilfsantrag beanspruchten Gegenstände weder neu noch beruhten diese auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Die Einsprechende I hat entsprechend ihrer Ankündigung in der Eingabe vom 2. Mai 2002 an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen.

II Die statthafte Beschwerde ist frist- und formgerecht eingelegt worden und auch sonst zulässig. In der Sache hat sie keinen Erfolg.

1. Die Erfindung betrifft ein durch Extrusion, Spritzguss oder Blasformung hergestelltes Rohr oder Rohrteil aus einem Polyolefin oder einem Styrolpolymerisat zum Befördern von Flüssigkeiten in Abwasserrohrsystemen.

Beim Ableiten von Abwasser in Gebäuden von den Verbrauchsstellen zum Hausanschlusskanal entstehen im Inneren von Abwasserrohren vor allem an Aufprallstellen des Abwassers oder an Krümmungen Schallwellen, die zu einer erheblichen Lärmbelästigung führen. Im Stand der Technik werden an Stelle relativ dünnwandiger Abwasserrohre aus nicht oder nur gering gefüllten thermoplastischen Werkstoffen Mehrschichtenrohre oder Rohre mit in den Kunststoff eingearbeiteten Füllstoffen höherer Dichte mit verbesserter Schalldämmung vorgeschlagen, die eine erhöhte Wanddicke aufweisen. Dies führt allerdings zu schweren Rohren mit vergrößertem Außendurchmesser.

Der Erfindung liegt das Problem zugrunde, insbesondere ein einschichtiges, schallgedämmtes Hausabflussrohr oder ein dafür verwendbares Rohrformteil anzugeben, welches bei optimaler Schalldämmung im Wanddickenbereich ungedämmter Hausabflussrohre hergestellt werden kann.

Nach dem Streitpatent ist vorgesehen, die Dichte der Rohrwand durch Einarbeiten eines geeigneten Zuschlagstoffes auf 1,4 bis 2,7 g/cm3 zu erhöhen sowie die Wanddicke der Rohre auf ein Zweiunddreißigstel ihres Außendurchmessers und deren Metergewicht auf 2,5 kg zu beschränken. Nach dem Hilfsantrag soll das Gewicht pro Flächeneinheit des Rohres maximal 8 kg/m2 betragen.

2. Die mit den Patentansprüchen 1 gemäß Haupt- und Hilfsantrag beanspruchten Gegenstände sind nicht patentfähig.

2.1 Zum Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag:

Es kann dahinstehen, ob - wie die Einsprechende II meint - Rohre mit den Merkmalen des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag bereits aus dem DE 87 18 020 U1 bekannt sind. Denn die beanspruchten Rohre beruhen zumindest nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit, da sie dem zuständigen Fachmann durch den angeführten Stand der Technik nahegelegt werden. Als zuständiger Fachmann ist hier ein Diplom-Ingenieur der Versorgungstechnik anzusehen, der über Berufserfahrung im Bereich der Herstellung und des Einsatzes von Abwasserrohren verfügt.

Aus der DIN 19 560 sind unstreitig Rohre oder Rohrformteile bekannt, die zum Befördern von Flüssigkeiten in Abwasserrohrsystemen eingesetzt werden (HT-Rohre). Die durch Extrusion oder Spritzgießen hergestellten Rohre bestehen aus Polypropylen und weisen Hilfsstoffe, zB flammhemmende Zusätze oder Wärmealterungsstabilisatoren auf. Füllstoffe sind nicht vorgesehen. In dieser Norm sind die Abmessungen von Rohrsystemen verschiedener Rohrnennweiten festgelegt. Dabei bilden die Rohrgeometrie mit Außendurchmesser und Wanddicke und die Abmessungen der Muffen, Spitzenden und Dichtringe ein aufeinander abgestimmtes System.

Das DE 87 18 020 U1 geht von einem derartigen Kunststoffrohr aus, das zur Verringerung der Geräuschbelästigung zusätzlich mit einer Schalldämmschicht aus weichem Schaumkunststoff mit offenen Poren umgeben ist. Als hierzu gleichwertig wird dort ein leichter herstellbares, einschichtiges Rohr vorgeschlagen, dessen Rohrwand durch Einarbeiten eines Füllstoffes eine Dichte von 1,4 bis 2,7 g/cm3 aufweist. Um eine Geräuschreduzierung wie bei der Verwendung einer Schalldämmschicht zu erhalten, soll das Gewicht pro Flächeneinheit der Rohrwand zumindest 8 kg/m2 betragen. Nur für diesen Fall ist diese Untergrenze offensichtlich von Bedeutung. Als allgemeine Lehre wird dort nämlich - die im übrigen allgemein bekannte - Gesetzmäßigkeit gelehrt, dass das Geräuschniveau im logarithmischen Verhältnis in dem Maße abnimmt, wie das Gewicht des Rohres pro Flächeneinheit zunimmt (aaO S 2, Abs 2). Die Erhöhung des Flächengewichtes lässt sich zum einen durch eine Erhöhung der Dichte der Rohrwand und zum anderen durch eine Erhöhung der Wanddicke erreichen. Jede Maßnahme führt bereits für sich zu einer Geräuschreduzierung, da jede zu einer Erhöhung des für die Geräuschreduzierung maßgeblichen Flächengewichtes beiträgt. Durch beide Maßnahmen zusammen kann nach den dort angeführten Beispielen der Geräuschpegel von 44,5 dB(A) für ein ungefülltes Kunststoffrohr auf bis zu 37,0 dB(A) für ein Rohr mit einem Flächengewicht von 14,9 kg/m2 reduziert werden. Damit ist ein Geräuschpegel erreichbar, der wesentlich unter dem vergleichbarer Rohre aus Grauguss liegt, für die ein Schallpegel von 41,5 dB(A) gemessen wurde.

In Kenntnis dieser Lehre liegt es im Ermessen des zuständigen Fachmanns, ob und in welchem Umfang er die Schalldämmeigenschaften von Abwasserrohren durch Erhöhung des Flächengewichtes verbessert. Dabei sind ihm aus der täglichen Praxis weitere Anforderungen bekannt, denen Abwasserrohre neben einer ausreichenden Schalldämmung genügen müssen. Für eine geringe Wanddicke spricht beispielsweise, dass schwere Rohre nur schwer zu transportieren und zu handhaben sind. Außerdem liegt auf der Hand, dass dicke Rohrwände zu hohen Materialkosten bei der Rohrherstellung führen. Weiter sollte ein problemloser Anschluss an bestehende Abwasserrohre möglich sein und es sollten einheitliche Bearbeitungswerkzeuge verwendet werden können. Diese offensichtlichen Gründe legen dem Fachmann nahe, die aus der DIN 19560 bekannten und bei Abwasserrohren üblichen geometrischen Verhältnisse beizubehalten und allein die Dichte der Rohrwand in dem von dem DE 87 18 020 U1 vorgeschlagenen Umfang zu erhöhen. Damit gelangt er zu Rohren, die den im Streitpatent S 3, Z 36 bis 48 angegebenen Beispielen entsprechen. Derartige Optimierungsüberlegungen nach Einsatzbedingungen, Kosten und Handhabung gehören zur täglichen Praxis des zuständigen Fachmanns, so dass eine erfinderische Tätigkeit nicht vorliegt.

Die von der Patentinhaberin geltend gemachten Vorteile können nicht zu einer anderen Beurteilung führen. Abgesehen davon, dass Vorteilsangaben das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit nicht begründen sondern lediglich als Hilfserwägungen stützen können, liegen die diesbezüglichen Argumentationen neben der Sache.

Bei den von der Patentinhaberin vorgelegten Untersuchungen des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik (P-BA 68/1998) ist nicht der Streitgegenstand untersucht worden. Denn die Untersuchungen betreffen nicht nach dem Patentanspruch 1 gestaltete Abwasserrohre an sich, sondern umfassen in Gebäuden angeordnete komplette Abwassersysteme mit Los- und Festschellen, Stützbefestigungen und Wanddurchführungen für das Abwasserrohr.

Der von der Patentinhaberin geltend gemachte Vorteil, dass die aus dem DE 87 18 020 U1 bekannten Rohre einen höheren Anteil an mineralischem Füllstoff aufwiesen als die patentgemäßen, ist ebenfalls durch den Patentanspruch 1 nicht gedeckt. Bei beiden Rohren wird dasselbe Grundmaterial, nämlich ein Polyolefin oder Styrolpolymerisat verwendet. Beiden wird derselbe Füllstoff zur Erhöhung der Rohrwanddichte, nämlich Bariumsulfat zugefügt, und zwar in einer Menge, die in beiden Fällen zu einer Gesamtdichte von 1,4 bis 2,7 g/cm3 führt. Nach den geltenden physikalischen Gesetzen ergibt sich daraus in beiden Fällen derselbe Prozentsatz an Bariumsulfat in der Rohrwandung. Ob sich der von der Patentinhaberin angeführte Vorteil durch Zugabe anderer Stoffe ergibt, kann dahinstehen, da der Patentanspruch 1 diesbezüglich keinerlei Angabe enthält.

Dem Argument der Patentinhaberin, dass die im Patentanspruch 1 angeführten Bereiche in ihrer Gesamtheit mit den konkret angegebenen Grenzen durch den Stand der Technik nicht nahegelegt seien, kann der erkennende Senat nicht folgen. Darauf kommt es nämlich nicht an.

Nach ständiger Rechtsprechung versteht der Fachmann durch Grenzwerte definierte Bereiche dahin, dass die Nennung der Grenzwerte nur eine vereinfachte Schreibweise für alle Gegenstände darstellt, die mit ihren Parametern innerhalb dieser Bereiche liegen (GRUR 1990, 510-512 - Crackkatalysator I, GRUR 1992, 842-844 - Chrom-Nickel-Legierung, bestätigt ua in GRUR Int 2000, 770-776 - Inkrustierungsinhibitoren, Mitt 2002, 16 - Filtereinheit). Daraus folgt, dass jeder aus dem Stand der Technik bekannte oder durch diesen nahegelegte Gegenstand, der mit seinen Parametern innerhalb der beanspruchten Bereiche liegt, zumindest dem dieselben Parameter aufweisenden beanspruchten Gegenstand die Patentfähigkeit nimmt (GRUR 1986, 163,164 - Borhaltige Stähle). Dies folgt logisch zwingend auch daraus, dass im anderen Fall Gegenstände geschützt würden, die von Dritten schon vor dem Anmeldetag des Streitpatentes hergestellt oder verwendet wurden.

Das Auffinden von Bereichsgrenzen allein kann somit in der Regel eine Patentfähigkeit nicht begründen. Die in der Rechtsprechung angeführte Ausnahme einer Auswahlerfindung (Schulte PatG 6. Aufl. § 1 Rdn 244) ist hier nicht gegeben, da zum einen das DE 87 18 020 U1 keinen undifferenziert umschriebenen, sondern einen präzise definierten Bereich für die Dichte und das Flächengewicht der Rohrwand angibt und zum anderen das Streitpatent keine Auswahl aus diesem bekannten Bereich betrifft.

2.2 Zum Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag:

Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag unterscheidet sich vom vorstehend abgehandelten Patentanspruch 1 durch das Merkmal, dass das Gewicht der Rohre pro Flächeneinheit weniger als 8 kg pro Quadratmeter beträgt. Dieses Merkmal soll nach Auffassung der Patentinhaberin als Disclaimer einen Unterschied zur Lehre nach dem DE 87 18 020 U1 sicherstellen. Somit betrifft das zusätzliche Merkmal die Frage der Neuheit. Zur Frage der erfinderischen Tätigkeit kann dieses Merkmal jedoch keinen Beitrag leisten, so dass der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag aus den zum Hauptantrag angeführten Gründen mangels erfinderischer Tätigkeit ebenfalls nicht patentfähig ist.

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BPatG:
Beschluss v. 06.05.2002
Az: 9 W (pat) 64/00


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