Bundespatentgericht:
Beschluss vom 12. Januar 2000
Aktenzeichen: 9 W (pat) 42/99
(BPatG: Beschluss v. 12.01.2000, Az.: 9 W (pat) 42/99)
Tenor
1. Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben.
2. Die Sache wird zur Fortsetzung des Einspruchsverfahrens an das Deutsche Patent- und Markenamt zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Patentabteilung 22 des Deutschen Patent- und Markenamts (DPMA) hat nach Prüfung der Einsprüche das am 14. Juli 1993 unter Inanspruchnahme der Priorität der Voranmeldung DE 43 10 473.8 vom 31. März 1993 angemeldete Patent 43 45 185 mit der Bezeichnung
"Verfahren zum Verringern der bei einem Aufprall eines Fahrzeugs auf ein Hindernis auf einem auf einem Sitz angegurteten Fahrzeuginsassen einwirkenden Kräfte unter Verwendung von Airbags"
widerrufen. Sie ist der Auffassung, das im Einspruchsverfahren mit neuen Unterlagen (eingegangen beim DPMA am 16. November 1995) beschränkt verteidigte Verfahren beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Es ergebe sich ohne weiteres aus einer Kombination der Druckschriften US 38 74 695 und EP 03 57 225 A1.
Gegen diesen Beschluß richtet sich die Beschwerde des Patentinhabers.
Nach einer weiteren Beschränkung des Patentbegehrens mit Unterlagen, die in der mündlichen Verhandlung überreicht wurden, vertritt er die Auffassung, der Stand der Technik nehme das Patent im zuletzt verteidigten Umfang weder vorweg noch vermöge er es nahezulegen.
Der verteidigte Patentanspruch 1 lautet:
Verfahren zum Verringern der bei einem Aufprall eines Fahrzeugs auf ein Hindernis auf einen auf einem Sitz angegurteten Fahrzeuginsassen einwirkenden Kräfte unter Verwendung von Airbags, wobei das Annähern eines Hindernisses durch als Geber dienende Annäherungssensoren erfaßt und ausgewertet wird, und nur dann, wenn ein Aufprall als unvermeidlich erkannt wird, die Airbags aktiviert werden, dadurch gekennzeichnet, daß jeder Airbag aus mehreren Kammern besteht, die unabhängig voneinander aufgeblasen oder entleert werden können, daß mindestens ein Airbag in der Rückenlehne des Vordersitzes im Beckenbereich aktiviert wird, unddaß durch das in der Rückenlehne integrierte zeitlich/örtlich eingesetzte/gesteuerte Druckauf-/-abbau-Mehrkammern-Airbagsystem, bevor die Belastung des Körpers am größten wird und der Oberkörper mit dem Kopf voran schon eine bestimmte Neigung in Aufprallrichtung hat, kurz bevor der Körper in die Rückenlehne zurück geschleudert wird, ein erster zum richtigen Zeitpunkt gesteuerter Airbagimpuls in Höhe des Gesäßes mit einem zeitörtlichgesteuerten Druckauf-/-abbau-Mehrkammern-Airbagsystem erfolgt und erst dann weitere Impulse über den Rücken und schließlich bis in den Nacken- und Kopfbereich sich ausbreitend einwirken, d.h. je nachdem zu welchem Zeitpunkt an einer bestimmten Körperstelle die Belastung am größten ist, wird eine Körperentlastung mit Hilfe des zeitlich gesteuerten Mehrkammern-Airbagsystems durch Aufblasen bzw. Entleeren einzelner Kammern bewirkt.
Auf den Patentanspruch 1 sind fünf abhängige Ansprüche 2 bis 6 rückbezogen.
Der Patentinhaber beantragt, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und das Patent mit folgenden Unterlagen beschränkt aufrechtzuerhalten:
Patentansprüche 1 bis 6, überreicht in der mündlichen Verhandlung, im übrigen mit ggf. noch anzupassenden weiteren Unterlagen.
Die Einsprechende II stellt den Antrag, die Beschwerde zurückzuweisen.
Hilfsweise regt die Einsprechende II an, die Sache zur Fortsetzung des Einspruchsverfahrens an die zuständige Patentabteilung zurückzuverweisen. Sie tritt den Ausführungen des Beschwerdeführers entgegen und macht geltend, die während der mündlichen Verhandlung neu in den Patentanspruch 1 aufgenommenen Merkmale seien bislang durch das Deutsche Patent- und Markenamt offensichtlich noch nicht geprüft worden. Auch sie selbst habe noch keine Gelegenheit gehabt, eine darauf gerichtete Recherche zum Stand der Technik durchzuführen.
Die Einsprechende I hat sich im Beschwerdeverfahren nicht mehr zur Sache geäußert und auch keinen Antrag gestellt. Trotz ordnungsgemäßer Ladung hat sie - entsprechend ihrer schriftlichen Ankündigung vom 9. Dezember 1999 - an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen.
Wegen der Einzelheiten des angefochtenen Beschlusses wird auf die entsprechenden Teile der Einspruchsakte, wegen der Beschwerdebegründung auf die Eingabe des Anmelders vom 12. September 1999 verwiesen.
II.
Die statthafte Beschwerde ist frist- und formgerecht eingelegt worden und auch im übrigen zulässig; in der Sache hat sie in dem sich aus dem Beschlußwortlaut ergebenden Umfang Erfolg.
1. Im Oberbegriff des geltenden Patentanspruchs 1 ist der Stand der Technik nach der US 38 51 305 berücksichtigt.
Die zu lösende Aufgabe besteht nach den Ausführungen des Patentinhabers in der mündlichen Verhandlung in Übereinstimmung mit der bisher schon geltenden Aufgabe darin, ein Verfahren anzugeben, das es ermöglicht, die Zeit für das Aufblasen des Airbagsystems zu erhöhen - im Sinne von verlängern - und damit einen sanfteren Aufprallschutz für Insassen zu erreichen.
Diese Aufgabe soll iVm den oberbegrifflichen Maßnahmen des Patentanspruchs 1 durch die in dessen kennzeichnendem Teil angegebenen Maßnahmen gelöst werden.
2. Das geltende Patentbegehren ist zulässig.
Der geltende Patentanspruch 1 beinhaltet die Merkmale der erteilten Patentansprüche 1 und 2 und zusätzlich die in Sp 2 Z 24 bis Z 43 der Streitpatentschrift angeführten verfahrensausgestaltenden Merkmale. Die beanspruchten Merkmale bzw Verfahrensschritte sind auch in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen offenbart, vgl insb Patentansprüche 1, 2 und 3 sowie Beschreibung S 3 vorletzter Abs bis S 4 Abs 2.
Insbesondere die aus der Beschreibung aufgenommenen Verfahrensschritte beschränken die theoretisch nach allen Seiten mögliche Wirkung des (nach Patentanspruch 2 des Streitpatents) in der Rückenlehne des Vordersitzes vorgesehenen Airbags eindeutig auf den Gesäß- bis Nacken- bzw Kopfbereich eines auf dem Sitz sitzenden Insassen, wie dies im übrigen auch in der Zeichnung der Streitpatentschrift angedeutet ist. Der geltende Patentanspruch 1 ist damit in zulässiger Weise beschränkt.
3. Der angefochtene Widerrufsbeschluß der Patentabteilung 22 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 5. Februar 1999 war aufzuheben, ohne daß in der Sache selbst zu entscheiden war, weil durch wesentliche Änderung des Patentbegehrens eine neue Tatsache bekannt geworden ist, die für die Aufrechterhaltung des Patents wesentlich ist (PatG § 79 Abs. 3 Nr. 3).
In dem angegriffenen Widerrufsbeschluß konnte das Deutsche Patent- und Markenamt die aus der Beschreibung vorgenommene Beschränkung des beanspruchten Verfahrens noch nicht berücksichtigen, denn die nunmehr beanspruchte spezielle Betätigung eines Airbags im Rücken eines Insassen hatte der Anmelder ursprünglich nur als einen beschreibenden Teilaspekt eines allgemein formulierten Patentanspruchs angegeben. Aus diesem Grund konnte das nunmehr vorliegende Patentbegehren weder Gegenstand einer gezielten abschließenden Recherche bzw. Prüfung im Deutschen Patent- und Markenamt sein, noch hatten die Einsprechenden ausreichend Zeit und Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Deshalb ist nicht auszuschließen, daß dem - wie nachstehend ausgeführt - nunmehr tragenden Erfindungsgedanken patenthinderndes Material entgegensteht. Nach Ansicht des Senats war es daher geboten, die Sache gemäß PatG § 79 Abs 3 Nr 3 an das Deutsche Patent- und Markenamt zur Fortsetzung des Einspruchsverfahrens zurückzuverweisen.
4. In der mündlichen Verhandlung hat sich ergeben, daß der bisher aufgezeigte Stand der Technik keine Veranlassung gibt, das Patent zu widerrufen, da das Verfahren nach Patentanspruch 1 insoweit patentfähig ist.
Das beanspruchte - ohne Zweifel gewerblich anwendbare - Verfahren ist unbestritten neu. Nachdem der bisher in Betracht gezogene Stand der Technik kein Verfahren offenbart, welches sich auf das Aktivieren eines in der Rückenlehne des Vordersitzes angeordneten Airbags bezieht und auf den darauf sitzenden Fahrzeuginsassen von hinten einwirkt, bedurfte seine Ausgestaltung - nach gegenwärtiger Erkenntnis - auch erfinderischer Tätigkeit.
Ein gattungsgemäßes Verfahren, welches alle im Oberbegriff des geltenden Patentanspruchs 1 angegeben Merkmale aufweist, ist - wie auch vom Patentinhaber in seiner Eingabe vom 8. November 1995 sowie in der mündlichen Verhandlung zugestanden - bereits bei dem Kollisionserkennungssystem für Fahrzeuge nach der US 38 51 305 verwirklicht. Dort wird das Annähern eines Hindernisses durch als Geber dienende Annäherungssensoren 10 erfaßt, vgl insb Sp 2 Z 19 bis 22 iVm Fig 1. In einer anschließenden Auswerteschaltung 12, 14, 23 wird das Signal des Annäherungssensors 10 weiterverarbeitet und nur dann, wenn ein Aufprall als unvermeidlich erkannt ist, wird der Auslöser 31 der nicht näher spezifizierten Airbags aktiviert, vgl insb Sp 3 Z 18 bis 20 iVm Fig. 1.
Aus der US 38 74 695 ist bekannt, einen Airbag für Fahrzeuge stufenweise und im Verhältnis zur Unfallschwere auszulösen, um einen sanfteren Aufprallschutz für die auf einem Sitz angegurteten Fahrzeuginsassen zu erreichen, vgl insb abstract. Entsprechend einer bevorzugten Ausgestaltung kann der Airbag dabei aus mehreren Kammern bestehen, die unabhängig voneinander aufgeblasen werden, vgl insb Sp 10 Z 44 bis 49. Eine Anordnung des Airbags in der Rückenlehne ist nicht offenbart.
Die EP 0 357 225 A1 beinhaltet ein übliches, von vorn auf einen Insassen wirkendes Airbagsystem mit einem Kollisionssensor 50 als Auslöser, vgl insb Sp 6 Z 40 bis 44, Sp 9 Z 18 bis 30. Weitere Sensoren 20, 30, 35, 46 und 47 erfassen die Kollisionsgeschwindigkeit sowie Sitzbelegung, Rückenlehnenstellung, Insassengröße etc, vgl insb Sp 12 Z 13 ff iVm Fig 18. Nach Auslösung werden die Signale dieser Sensoren in einer Steuereinheit 70 verarbeitet, um die Airbagentfaltung optimal an den Insassen anzupassen, vgl abstract.
Airbagsysteme in bzw an der Rückenlehne eines Vordersitzes eines Fahrzeuges sind noch aus der DE 19 55 145 A1, insb Figuren 1 und 3, sowie aus der US 28 34 606, insb Figuren 1 und 2, bekannt. In beiden Fällen wirken diese Airbags allerdings auf die jeweils dahinter sitzenden Insassen und damit grundsätzlich anders als streitpatentgemäß vorgesehen.
Die übrigen Druckschriften stehen dem nunmehr Beanspruchten inhaltlich noch ferner; auf die besondere Airbaganordnung geht keine dieser Druckschriften ein.
Eine optimierte Steuerung zum Befüllen und Entleeren eines Airbags je nach Schwere des Aufpralls bzw der augenblicklichen Verzögerungsphase lehrt die DE 40 41 049 A1, vgl insb Sp 1 Z 12/13 sowie Sp 1 Z 55 und Sp 3 Z 64.
Die DE 27 45 620 A1 befaßt sich lediglich mit einem durch ein Verzögerungsglied gestuft verlaufenden Aufblasvorgang bei einem Airbag, vgl insb Anspruch 1.
Radarsensoren zum Erfassen eines noch nicht berührten Hindernisses iVm mit Airbags und/oder Bremsen eines Fahrzeuges sind Gegenstand der SU 793841 mit WPAT, Accession No. AN-81-L 3528D/44 (L3528D), der EP 0 210 079 A2 sowie der US 3 860 923 und der US 4 104 632.
Die weiter im Verfahren befindlichen Druckschriften DE 23 44 689 A1, DE 24 43 525 A1,GB 14 79 579 und US 39 55 640 betreffen übliche, von vorn auf die Insassen einwirkende Airbags und sind bereits in der Beschreibungseinleitung Sp 1 Z 7 bis 18 der Streitpatentschrift zutreffend dargestellt.
Ein Durchschnittsfachmann, zB ein in der Fahrzeugindustrie mit der Entwicklung und Erprobung von Airbagsystemen beschäftigter Maschinenbauingenieur, hatte folglich in Kenntnis des vorstehend dargestellten Standes der Technik keine Veranlassung, ein Verfahren mit den im Patentanspruch 1 angegebenen Merkmalen auszugestalten. Diese Merkmale ergeben sich für ihn auch nicht ohne weiteres.
Gleichwohl ist der Senat aus den vorstehend unter 3. dargelegten Gründen nicht zu einer abschließenden Entscheidung gekommen.
5. Zur weiteren Behandlung der Sache ist zu bemerken, daß der Patentinhaber mit seinem Antrag auf beschränkte Aufrechterhaltung des Patents mit den jetzt geltenden Patentansprüchen 1 bis 6 auf eine Aufrechterhaltung des Patents mit den dem angefochtenen Beschluß zugrundeliegenden Ansprüchen verzichtet hat, soweit diese über das nunmehr beanspruchte hinausgehen.
Ein ausdrücklicher Verzicht bezüglich dieser Ansprüche brauchte nicht vorliegen, weil sich der Verzicht eindeutig aus dem Verlauf der mündlichen Verhandlung und dem in dieser gestellten Antrag ergibt (BGH in GRUR 1987, 510 ff - Mittelohr-Prothese). Der Patentinhaber hat nämlich auf die Bedenken des Senats, daß die Gegenstände der dem angefochtenen Beschluß zugrundeliegenden Ansprüche aufgrund des nachgewiesenen Standes der Technik nicht patentfähig seien, und um eine deshalb drohende Zurückweisung der Beschwerde zu vermeiden, einen neuen auf die Merkmale der bisherigen Ansprüche 1 und 2 sowie entscheidend der Beschreibung in Spalte 2 Zeilen 24 bis 43, der Streitpatentschrift gestützten Patentanspruch 1 überreicht und ohne Vorbehalt die beschränkte Aufrechterhaltung des Patents mit diesem Anspruch und 5 weiteren Unteransprüchen beantragt. Darin kann kein Formulierungsversuch mehr gesehen werden.
Der Senat hat wegen der noch ausstehenden Ermittlung des Standes der Technik davon abgesehen, die geltenden Unterlagen (Patentansprüche, Beschreibungseinleitung, Beispielsbeschreibung und Zeichnungen) abschließend zu überarbeiten, dh auf sprachliche Klarheit und Zweckmäßigkeit sowie auf ausreichende Darstellung des maßgeblichen Standes der Technik zu überprüfen. Diese Überprüfung ist allerdings vom Deutschen Patent- und Markenamt vor einer etwaigen Aufrechterhaltung des Patents auf jeden Fall vorzunehmen, auch dann, wenn kein neuer Stand der Technik ermittelt werden sollte.
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BPatG:
Beschluss v. 12.01.2000
Az: 9 W (pat) 42/99
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