Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 18. Dezember 2001
Aktenzeichen: 1 BvR 391/01

(BVerfG: Beschluss v. 18.12.2001, Az.: 1 BvR 391/01)

Tenor

1. Der Beschluss des Sächsischen Landessozialgerichts vom 24. Januar 2001 - L 5 RJ 206/00 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

2. Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 DM (in Worten: achttausend Deutsche Mark) festgesetzt.

Gründe

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Ablehnung der Prozesskostenhilfe für ein sozialgerichtliches Berufungsverfahren, in dem der Beschwerdeführer seinen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit verfolgt.

I.

1. Mit Beschluss vom 24. Januar 2001 lehnte das Sächsische Landessozialgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren ab. Zur Begründung führte es aus, die Vertretung durch einen Rechtsanwalt sei nicht erforderlich, weil das vorliegende Verfahren tatsächlich und rechtlich einfach sei. Es sei nur noch das Leistungsvermögen des Beschwerdeführers zu klären. Zur Ermittlung und Beurteilung medizinischer Sachverhalte könnten Rechtsanwälte als medizinische Laien wenig beitragen. Das Verfahren vor den Sozialgerichten sei von richterlichen Aufklärungs-, Kontroll- und Fürsorgepflichten geprägt und führe zu einer weitreichenden sozialrechtlichen Betreuung des Bürgers. Der Versicherungsträger stehe zwar formal dem Bürger gegenüber. Er habe aber von Amts wegen an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken und die berechtigten Ansprüche zu berücksichtigen.

2. Gegen den Beschluss des Landessozialgerichts hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde erhoben. Sein Vortrag lässt noch hinreichend deutlich erkennen, dass, seiner Ansicht nach, das Landessozialgericht den Begriff der "Erforderlichkeit" anwaltlicher Vertretung im Sinne von § 73 a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 121 Abs. 2 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) in verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise verkannt hat.

3. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Sächsischen Staatsministerium der Justiz und der Gegnerin des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Das Ministerium hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an. Die Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hierfür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 81, 347 <356 f.> m.w.N.).

1. Die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und die aus Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Garantie des effektiven Rechtsschutzes.

a) Aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, der in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für die Rechtsschutzgewährung in Art. 19 Abs. 4 GG besonderen Ausdruck findet, ergibt sich das Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 78, 104 <117 f.>; 81, 347 <357>; stRspr). Mit dem Institut der Prozesskostenhilfe hat der Gesetzgeber auch Unbemittelten einen weitgehend gleichen Zugang zu den Gerichten ermöglicht.

b) Zwar ist das Verfahren vor den Sozialgerichten ohne Anwaltszwang und gerichtskostenfrei ausgestaltet. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist hier jedoch insofern von Bedeutung, als der Unbemittelte durch die Beiordnung des Rechtsanwalts von dessen Vergütungsansprüchen freigestellt wird. Dem Unbemittelten ist daher gemäß § 73 a SGG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 Satz 1 erste Alternative ZPO ein Rechtsanwalt dann beizuordnen, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint. Den Rechtsbegriff der Erforderlichkeit, dessen Auslegung und Anwendung in erster Linie den Fachgerichten obliegt, hat das Landessozialgericht hier ersichtlich in einer Weise ausgelegt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruht (vgl. BVerfGE 81, 347 <358> m.w.N.).

c) Das Vorliegen der Voraussetzungen der Beiordnung eines Rechtsanwalts beurteilt sich im Einzelfall nicht nur nach Umfang und Schwierigkeit der Sache, sondern auch nach der Fähigkeit des Beteiligten, sich mündlich und schriftlich auszudrücken (vgl. BVerfGE 63, 380 <394>). Das Gericht muss erwägen, ob ein Bemittelter in der Lage des Unbemittelten vernünftigerweise einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hätte. Davon ist regelmäßig dann auszugehen, wenn im Kenntnisstand und in den Fähigkeiten der Prozessparteien ein deutliches Ungleichgewicht - wie hier schon wegen der vorliegenden Leiden und Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet und vor dem Hintergrund seiner medizinisch festgestellten Persönlichkeitsstruktur angenommen werden muss - besteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Februar 1997, NJW 1997, S. 2103 f.). Dies gilt auch dann, wenn ausschließlich oder schwerpunktmäßig tatsächliche Fragen im Streit sind, die möglicherweise durch eine Beweiserhebung im Wege der Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens geklärt werden müssen.

2. Diese Maßstäbe verkennt das Landessozialgericht, wenn es die Rolle des Beschwerdeführers darauf beschränkt, sich lediglich medizinischen Begutachtungen zu unterziehen, und es sich mit dessen besonderer Lage, insbesondere seinen intellektuellen Fähigkeiten, nicht hinreichend auseinandersetzt. Auch in Anbetracht des Amtsermittlungsgrundsatzes darf das Recht der Beteiligten auf Gewährung effektiven, sozial gerechten Rechtsschutzes nicht verletzt werden. Die Aufklärungs- und Beratungspflicht des Anwalts geht über die Reichweite der Amtsermittlungspflicht des Richters hinaus. Insbesondere kann der Anwalt verpflichtet sein, auch solche tatsächlichen Ermittlungen anzuregen und zu fördern, die für den Richter aufgrund des Beteiligtenvorbringens nicht veranlasst sind (vgl. BVerfG, a.a.O). Eine insoweit verständige und sachgerechte Prozessführung wird zumindest in den Rentenverfahren ohne anwaltliche Hilfe nicht zu bewältigen sein, in denen die sogenannte Waffengleichheit - wie oben dargelegt - nicht besteht. Die pauschale Bezugnahme des Landessozialgerichts auf den Amtsermittlungsgrundsatz verstößt gegen das Prinzip der Rechtsschutzgleichheit und die Garantie des effektiven sozialen Rechtsschutzes.

3. Der angefochtene Beschluss ist demnach aufzuheben und die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 1, Abs. 2 BVerfGG).

4. Da die Verfassungsbeschwerde schon aus den dargelegten Gründen Erfolg hat, bedarf es keiner weiteren Entscheidung darüber, ob der angegriffene Beschluss zugleich Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung der Werts der anwaltlichen Tätigkeit auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO in Verbindung mit den dazu vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.






BVerfG:
Beschluss v. 18.12.2001
Az: 1 BvR 391/01


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