Bayerisches Landessozialgericht:
Beschluss vom 1. Juli 2011
Aktenzeichen: L 15 SF 82/10 B E

(Bayerisches LSG: Beschluss v. 01.07.2011, Az.: L 15 SF 82/10 B E)

Tenor

I. Der Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth vom 4. März 2010 wird abgeändert.

II. Unter Abänderung der Kostenfestsetzung vom 13. November 2009 wird die aus der Staatskasse zu zahlende Vergütung des Beschwerdeführers auf insgesamt 537,88 Euro festgesetzt. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Gründe

I.

Gegenstand des Verfahrens ist die Höhe des Rechtsanwaltshonorars nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG), das dem Beschwerdeführer nach Beiordnung im Rahmen der Bewilligung von Prozesskostenhilfe aus der Staatskasse zusteht. Streitig sind die Höhe der Verfahrensgebühr, die Erledigungs- bzw. Einigungsgebühr dem Grunde nach und die Anrechenbarkeit der Geschäftsgebühr für Beratungshilfe auf die Gebühren für ein anschließendes gerichtlichen Verfahrens.

In dem Klageverfahren vor dem Sozialgericht Bayreuth mit dem Aktenzeichen S 15 AS 1002/07 ging es um die Rechtmäßigkeit eines Sanktionsbescheids der beklagten Arbeitsagentur vom 13.06.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 27.09.2007 (Absenkung der Leistungen nach SGB II wegen Verstoßes gegen eine Eingliederungsvereinbarung). Mit Klageerhebung am 11.10.2007 stellte der Beschwerdeführer Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung. Die Entbindungserklärung legte er im Juli 2008 vor. Nach Einsicht in die Akten begründete er die Klage mit einem dreiseitigen Schriftsatz vom 04.08.2008 und einem zweiseitigen Schriftsatz vom 15.09.2008. Im März 2009 wies er darauf hin, dass über den Prozesskostenhilfeantrag noch nicht entschieden worden sei. Im April 2009 nahm er nochmals Einsicht in die Akten und fertigte einen weiteren zweiseitigen Schriftsatz vom 24.04.2009. Am 23.07.2009 fand ein Erörterungstermin statt, in dem das Verfahren erledigt wurde. Am 01.09.2009 legte der Beschwerdeführer dem Gericht die Erklärung der Klägerin über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vor, derzufolge die Klägerin Leistungen nach dem SGB II bezieht. Das Sozialgericht bewilligte mit Beschluss vom 02.09.2009 Prozesskostenhilfe ab 23.07.2009 und ordnete den Beschwerdeführer bei.

In einem weiteren Klageverfahren zwischen den Beteiligten (S 15 AS 382/09) ging es um die Rechtmäßigkeit eines Bescheids vom 11.08.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 08.04.2009, mit dem die Beklagte einen Antrag vom August 2007 auf Überprüfung eines Sanktionsbescheids vom 14.11.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.09.2007 abgelehnt hatte. Für diese Klage wurde Prozesskostenhilfe weder bewilligt noch beantragt.

Im Erörterungstermin am 23.07.2009 schlossen die Beteiligten folgenden Vergleich:

1. Die Beklagte hebt den Sanktionsbescheid vom 14.11.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 27.09.2007 sowie den Bescheid nach § 44 SGB X vom 13.07.2009 auf.

2. Die Beklagte erstattet die notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Verfahren S 15 AS 382/09.

3. Die Klägerin nimmt die Klage zum Aktenzeichen S 15 AS 1002/07 sowie den Antrag nach § 44 SGB X vom 01.08.2008 hinsichtlich der Anrechnung eines fiktiven Einkommens zurück.

4. Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass mit diesem Vergleich die Rechtsstreite S 15 AS 382/09 sowie S 15 AS 1002/07 in vollem Umfang erledigt sind.

Die Ladung der Beteiligten war unter dem Aktenzeichen S 15 AS 1002/07 erfolgt. Bei der Abschlussverfügung wurde für beide Klageverfahren von einer Erledigung durch Vergleich ausgegangen.

Im Klageverfahren S 15 AS 382/09 setzte das Sozialgericht Bayreuth die Kosten gegen den Verfahrensgegner in Höhe von 681,39 Euro fest. Der Beschwerdeführer erhielt antragsgemäß die Verfahrensgebühr in Höhe von 170 Euro (Nr. 3103 VV RVG) und die Einigungs-/ Erledigungsgebühr in Höhe von 190 Euro (Nr. 1006 VV RVG); nicht anerkannt wurde u.a. die Terminsgebühr (Nr. 3106 VV RVG), die der Beschwerdeführer auf 200 Euro veranschlagt hatte. Die gegen diese Kostenfestsetzung einlegte Erinnerung wurde mit Beschluss vom 26.07.2010 zurückgewiesen (S 10 SF 18/10 E).

Der Beschwerdeführer stellte mit Schriftsatz vom 08.09.2009 784,92 Euro für seine anwaltliche Tätigkeit im Verfahren S 15 AS 1002/07 im Wege der Prozesskostenhilfe in Rechnung. Er verlangte eine Verfahrensgebühr (Nr. 3103 VV RVG) in Höhe von 170 Euro, eine Terminsgebühr (Nr. 3106 VV RVG) in Höhe von 200 Euro und eine Einigungsgebühr (Nr. 1006 VV RVG) in Höhe von 190 Euro. Einen Betrag von 35 Euro setzte er für "Anrechnung Beratungshilfe" ab.

Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle (Kostenbeamtin) setzte die aus der Staatskasse zu erstattenden Gebühren am 13.11.2009 wie folgt fest:

Verfahrensgebühr, Nr. 3103 VV RVG 40,00 EuroTerminsgebühr, Nr. 3106 VV RVG 200,00 EuroAuslagenpauschale, Nr. 7002 VV RVG 20,00 EuroReisekosten, Nr. 7003 VV RVG 42,00 EuroTage- und Abwesenheitsgeld, Nr. 7005 VV RV G 20,00 Euroabzüglich Beratungshilfe, Nr. 2503 VV RVG - 35,00 Euro 287,00 Euro19% Mehrwertsteuer, Nr. 7008 VV RVG 54,53 Euroinsgesamt 341,53 Euro.Zur Begründung führte sie bezüglich der streitigen Punkte Folgendes aus: Die geltend gemachte Verfahrensgebühr in Höhe von 170 Euro sei überhöht. Da Prozesskostenhilfe erst ab dem 23.07.2009 bewilligt worden sei, habe die vorhergehende anwaltliche Tätigkeit nicht berücksichtigt werden können. Unter Berücksichtigung der Schwierigkeit und des Umfangs der anwaltlichen Tätigkeit ab diesem Zeitpunkt (Abwicklung des Erörterungstermins und Entgegennahme des Prozesskostenhilfebeschlusses) sowie der Bedeutung der Angelegenheit für die Klägerin und deren Einkommensverhältnisse sei die Gebühr auf 40 Euro festzusetzen. Die Festsetzung einer Einigungsgebühr müsse abgelehnt werden, da das Verfahren durch Zurücknahme der Klage beendet worden sei. Die erhaltene Beratungshilfe sei nach Nr. 2503 VV RVG hälftig mit 35 Euro in Abzug zu bringen.

Der Beschwerdeführer hat am 18.11.2009 Erinnerung eingelegt. Er hat sich gegen die Kürzung der Verfahrensgebühr, für die er weiterhin die Mittelgebühr veranschlagt, und gegen die Nichtanerkennung der Einigungs- bzw. Erledigungsgebühr gewendet. Es könne nicht richtig sein, die Verfahrensgebühr auf 40 Euro festzusetzen und für die Beratungshilfe 35 Euro abzuziehen, so dass sich für die Verfahrenskosten 5 Euro ergeben würden. Die Erledigungsgebühr gemäß Nr. 1002 i.V.m. Nr. 1006 VV RVG entstehe, wenn sich die Rechtssache durch die anwaltliche Mitwirkung erledige. Das sei der Fall, wenn der Anwalt auf seinen Mandanten einwirke, einer Erledigung des Rechtsstreits zuzustimmen.

Das Sozialgericht Bayreuth hat die Erinnerung mit Beschluss vom 04.03.2010 als unbegründet zurückgewiesen. Die Verfahrensgebühr sei nach Nr. 3103 VV RVG zu bemessen. Die verlangte Mittelgebühr von 170 Euro sei nicht gerechtfertigt, angemessen sei eine Gebühr von 40 Euro. Es handele sich zwar bei dem Verfahren, das die Aufhebung einer Sanktion nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) betreffe, um ein vor den Sozialgerichten übliches Verfahren. Das Verfahren habe aber ab Wirksamwerden der Prozesskostenhilfebewilligung ab 23.07.2009 bis zur Verfahrensbeendigung am gleichen Tag nur wenige Stunden gedauert. Die anwaltliche Tätigkeit, die der Beschwerdeführer vor dem 23.07.2009 unstreitig erbracht habe, könne im Rahmen einer Abrechnung nach Prozesskostenhilfe nicht berücksichtigt werden. Somit sei die Verfahrensgebühr für die ab 23.07.2009 anteilig angefallene Verfahrensgebühr auf der Basis einer am unteren Rand des Gebührenrahmens angesiedelten Gebühr festzusetzen. Die Einigungsgebühr nach Nrn. 1000, 1006, 1005 VV RVG sei nicht angefallen. In dem die gesamten Angelegenheiten der Mandantin des Beschwerdeführers beinhaltenden "Vergleich" sei auch die Rücknahme der Klage protokolliert worden. Die vor der Klageerhebung erhaltene Beratungshilfegebühr sei, so das Sozialgericht weiter, zutreffend nach Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 VV RVG zur Hälfte auf die im Rahmen der Prozesskostenhilfe aus der Staatskasse zu erstattenden Gebühren angerechnet worden.

Gegen den am 05.03.2010 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer am 08.03.2010 wegen aller Punkte Beschwerde eingelegt. Hinsichtlich der Einigungs- bzw. Erledigungsgebühr übersehe das Sozialgericht, dass mit der Erledigungsgebühr das Bemühen des Anwalts zur Streitvermeidung und die damit einhergehende Entlastung der Gerichte gewürdigt werde. Im übrigen sei aus dem Protokoll zu entnehmen, dass ein Vergleich geschlossen worden sei. Der Kostenbeamte könne nicht die Auffassung vertreten, es läge kein Vergleich vor, wenn die Parteien übereinstimmend von einem Vergleich ausgehen. Weiter beanstandet der Beschwerdeführer die Kürzung der Verfahrensgebühr auf 40 Euro und nimmt in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung des Senats im Fall L 15 SF 303/09 B E Bezug. Bezüglich der seiner Meinung nach fehlerhaften hälftigen Anrechnung der Beratungshilfe verweist er auf die Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 04.01.2010 (L 19 B 316/09 AS).

Der Beschwerdegegner hat sich mit Schriftsätzen vom 22.04.2010 und vom 26.04.2010 geäußert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Akten des Sozialgerichts Bayreuth S 10 SF 119/09 E und S 10 SF 18/10 E sowie die Prozessakten S 15 AS 1002/07 (mit Prozesskostenhilfe-Beiakte) und S 15 AS 382/09 Bezug genommen.

II.

Diese Entscheidung trifft der Kostensenat des Bayer. Landessozialgerichts nach Übertragung der Rechtssache auf den Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 56 Abs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG).

Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere auch statthaft, da der Wert des Beschwerdegegenstands 200 Euro übersteigt (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG).

Die Beschwerde ist teilweise begründet. Für die Tätigkeit im Rahmen der Prozesskostenhilfe im Rechtsstreit S 15 AS 1002/07 hat der Beschwerdeführer Anspruch gegen die Staatskasse auf Zahlung von 537,88 Euro. Dieser Anspruch beruht auf § 45 Abs. 1, § 48 Abs. 1, § 3 Abs. 1 Satz 1, § 2 Abs. 2, § 14 Abs. 1 RVG. Über den von der Kostenbeamtin am 13.11.2009 festgesetzten Zahlbetrag von 341,53 Euro hinaus kann der Beschwerdeführer die Zahlung von weiteren 196,35 Euro verlangen.

Höhe der Verfahrensgebühr

Der Anspruch des Beschwerdeführers gegen die Staatskasse auf Vergütung der Verfahrensgebühr ergibt sich aus § 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Nr. 3103 VV RVG, § 14 Abs. 1 RVG. Ihm steht wie beantragt die Mittelgebühr in Höhe von 170 Euro zu.

Maßgeblich ist der Gebührenrahmen der Nr. 3103 VV RVG (20 Euro bis 320 Euro), weil der Beschwerdeführer für die Klägerin schon im Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahren tätig war.

Der Beschwerdeführer kann die Gebühren verlangen, die sich aus seiner Tätigkeit seit Wirksamwerden der Beiordnung ergeben. Nach dem Prozesskostenhilfebeschluss vom 02.09.2009 besteht die Beiordnung seit 23.07.2009. Ab diesem Zeitpunkt ist die Verfahrensgebühr mehrfach dadurch entstanden, dass der Beschwerdeführer den Gerichtstermin am 23.07.2009 wahrgenommen hat, die Rücknahme der Klage erklärt hat und den Prozesskostenhilfebeschluss vom 02.09.2009 entgegengenommen hat. Da der Beschwerdeführer am und nach dem 23.07.2009 Tätigkeiten entfaltet hat, die geeignet sind, die Verfahrensgebühr entstehen zu lassen, ist diese Gebühr angefallen, und zwar in vollem Umfang und nicht nur anteilig, wie die Kostenbeamtin und das Sozialgericht angenommen haben. Nicht zulässig ist die Kürzung der in Höhe von 170 Euro beantragten Verfahrensgebühr auf 40 Euro mit der Begründung, dass nur Tätigkeiten ab dem 23.07.2009 berücksichtigungsfähig seien (zum Ganzen ausführlich Bayer. LSG, Beschluss vom 22.07.2010, L 15 SF 303/09 B E; Beschluss vom 24.08.2010, L 15 SF 131/10 B E).

Der Senat sieht keine Veranlassung, die vom Beschwerdeführer bestimmte Verfahrensgebühr in Höhe der Mittelgebühr für unbillig und nicht verbindlich anzusehen. Bei Betragsrahmengebühren im Sinn des § 3 Abs. 1 Satz 1 RVG bestimmt der Rechtsanwalt die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen; bei Rahmengebühren, die sich nicht nach dem Gegenstandswert richten, ist auch das Haftungsrisiko zu berücksichtigen (§ 14 Abs. 1 Sätze 1 und 3 RVG). Das Beurteilungs- und Entscheidungsvorrecht des Rechtsanwalts bei der Bestimmung der Gebühr ist mit der Pflicht zur Berücksichtigung der in § 14 RVG genannten Kriterien verbunden. Verbindlich ist die von ihm vorgenommene Bestimmung der Gebühr allerdings nur, wenn sie tatsächlich billigem Ermessen entspricht. Im Fall einer nicht verbindlichen Bestimmung der Gebühr durch den Rechtsanwalt wird die Gebühr im Kostenfestsetzungsverfahren bestimmt. In Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung hält der Senat die vom Rechtsanwalt bestimmte Gebühr für noch verbindlich, wenn sie bis zu 20 % von der Gebühr abweicht, die der Kostenbeamte und gegebenenfalls das Gericht bzw. das Beschwerdegericht für angemessen halten. Für "Normalfälle" bzw. "Durchschnittsfälle", in denen sich die Tätigkeit des Rechtsanwalts nicht nach oben oder unten vom Durchschnitt abhebt, ist die Mittelgebühr, also die Mitte des Gebührenrahmens, zugrunde zu legen (zum Ganzen ausführlich Bayer. LSG, Beschluss vom 21.03.2011, L 15 SF 204/09 B E m.w.N.).

In Übereinstimmung mit dem Sozialgericht ("übliches Verfahren") ordnet der Senat den Rechtsstreit S 15 AS 1002/07 als Normalfall ein. Die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit war von durchschnittlicher Art. Durchschnittlich war hier auch der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit. Bei Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist zwar normalerweise von unterdurchschnittlichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen auszugehen, denen jedoch regelmäßig eine überdurchschnittliche Bedeutung der Angelegenheit gegenübersteht (BSG vom 01.07.2009, B 4 AS 21/09 R, Leitsatz Nr. 3). So liegt der Fall auch hier. Ein besonderes Haftungsrisiko ist nicht erkennbar.

Erledigungs- bzw. Einigungsgebühr

Der Beschwerdeführer hat keinen Anspruch auf eine Erledigungsgebühr oder Einigungsgebühr.

31Die Voraussetzungen für die Erledigungsgebühr gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 RVG i.V.m. Nrn. 1006, 1005, 1002 VV RVG sind nicht gegeben, weil sich der Rechtsstreit nicht "durch die anwaltliche Mitwirkung" erledigt hat. Nach den amtlichen Erläuterungen zu Nr. 1002 VV RVG entsteht die Gebühr, "wenn sich eine Rechtssache ganz oder teilweise nach Aufhebung oder Änderung des mit einem Rechtsbehelf angefochtenen Verwaltungsakts durch die anwaltliche Mitwirkung erledigt" (Satz 1). Nach Satz 2 gilt das Gleiche, "wenn sich eine Rechtssache ganz oder teilweise durch Erlass eines bisher abgelehnten Verwaltungsakts erledigt." Nach Nr. 1005 VV RVG entsteht eine Gebühr im Fall einer "Einigung oder Erledigung in sozialrechtlichen Angelegenheiten, in denen im gerichtlichen Verfahren Betragsrahmengebühren entstehen (§ 3 RVG)." Ist über den Gegenstand ein gerichtliches Verfahren anhängig, sieht Nr. 1006 VV RVG für die Gebühr 1005 einen Rahmen von 30 bis 350 Euro vor.

Das Entstehen der Erledigungsgebühr setzt regelmäßig eine besondere Tätigkeit des Rechtsanwalts voraus, die über die normale Prozessführung hinausgeht. Die Erledigungsgebühr ist eine Erfolgsgebühr, die die Entlastung des Gerichts und das erfolgreiche anwaltliche Bemühen um die Herstellung des Rechtsfriedens ohne Sachentscheidung des Gerichts honoriert. Die "anwaltliche Mitwirkung" erfordert daher einen besonderen, nicht ganz unwesentlichen Beitrag des Rechtsanwalts zur Erledigung des Rechtsstreits ohne eine gerichtliche Entscheidung. Der Senat sieht sich dabei in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, das für das Entstehen der Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 VV RVG (im Widerspruchsverfahren) eine besondere Tätigkeit des Rechtsanwalts im Sinn einer qualifizierten anwaltlichen Mitwirkung bei der Erledigung der Rechtssache verlangt (Urteil vom 07.11.2006, B 1 KR 13/06 R; vom 21.03.2007, B 11a AL 53/06 R; vom 02.10.2008, B 9/9a SB 5/07 R und B 9/9a SB 3/07 R; vom 05.05.2009, B 13 R 137/08 R; vom 05.05.2010, B 11 AL 14/09 R; vom 09.12.2010, B 13 R 63/09 R; vgl. auch Bayer. LSG, Urteil vom 28.07.2010, L 15 SB 4/09). Für das Entstehen der Erledigungsgebühr reichen nicht schon Tätigkeiten aus, die durch andere Gebühren wie etwa die Verfahrensgebühr oder die Terminsgebühr honoriert werden (Bayer. LSG, Beschluss vom 26.01.2011, L 15 SF 169/10 B E m.w.N.).

Eine solche besondere Tätigkeit im Sinn einer qualifizierten anwaltlichen Mitwirkung bei der Erledigung des Rechtsstreits hat der Beschwerdeführer nicht entfaltet. Die Erörterung der Sach- und Rechtslage im Gerichtstermin rechtfertigt nicht den Ansatz der Erledigungsgebühr. Diese anwaltliche Tätigkeit wird mit der Terminsgebühr honoriert. Der Beschwerdeführer hat die Erledigungsgebühr auch nicht damit verdient, dass er im Erörterungstermin die Klage S 15 AS 1002/07 zurückgenommen hat. Eine Klagerücknahme ist, wie auch eine Erledigterklärung oder die Annahme eines Anerkenntnisses, keine über die allgemeine Prozessführung hinausgehende Mitwirkung des Rechtsanwalts an der Erledigung. Die Abgabe dieser Prozesserklärung ist schon mit der Verfahrensgebühr abgegolten (vgl. Bayer. LSG, Beschluss vom 26.01.2011, L 15 SF 169/10 B E, für den Fall der Annahme eines Anerkenntnisses; Beschluss vom 10.03.2011, L 15 SF 105/10 B E, für den Fall der Erledigterklärung; vgl. auch Hartmann, Kostengesetze, 41. Aufl. 2011, VV 1002, Rn. 9, 10, 14).

Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers liegt eine anwaltliche Mitwirkung im Sinn der Nr. 1002 VV RVG nicht schon dann vor, wenn der Anwalt auf seinen Mandanten eingewirkt hat, der Erledigung des Rechtsstreits zuzustimmen. Ließe man das für das Entstehen der Erledigungsgebühr genügen, würde diese Gebühr immer anfallen, wenn der Prozess nicht durch eine schriftliche Entscheidung des Gerichts (Urteil, Gerichtsbescheid, Beschluss) beendet wurde. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber einen derartig weiten Anwendungsbereich der Erledigungsgebühr gewollt haben könnte. Auch für die Erledigungsgebühr gemäß § 24 Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (BRAGO) ging die herrschende Meinung davon aus, dass eine Klagerücknahmeerklärung nicht genügt, um die Gebühr auszulösen. Für die Erledigungsgebühr gemäß § 24 BRAGO wurde eine besondere, auf die Beilegung der Sache ohne Entscheidung gerichtete anwaltliche Tätigkeit verlangt, die über die allgemeine Prozessführung hinausgeht (vgl. Hartmann, Kostengesetze, 32. Auflage 2003, § 24 BRAGO Rn. 9 ff. m.w.N.).

Die Voraussetzungen für die Einigungsgebühr gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 RVG i.V.m. Nr. 1006, 1005, 1000 VV RVG sind ebenfalls nicht erfüllt. Nach der amtlichen Anmerkung zu Nr. 1000 VV RVG entsteht die Gebühr "für die Mitwirkung beim Abschluss eines Vertrags, durch den der Streit oder die Ungewissheit über ein Rechtsverhältnis beseitigt wird, es sei denn, der Vertrag beschränkt sich ausschließlich auf ein Anerkenntnis oder einen Verzicht" (Absatz 1 Satz 1). Während die frühere Vergleichsgebühr des § 23 BRAGO durch Verweisung auf § 779 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ein gegenseitiges Nachgeben vorausgesetzt hatte, soll die Einigungsgebühr jegliche vertragliche Beilegung eines Streits der Parteien honorieren und so die frühere Vergleichsgebühr nicht nur ersetzen, sondern gleichzeitig inhaltlich erweitern (so die Gesetzesbegründung BT-Drs. 15/1971 S. 147). Voraussetzung für die Entstehung der Einigungsgebühr ist nicht, dass durch die Einigung eine konkrete Entlastung der Gerichte eintritt (vgl. BGH, Beschluss vom 17.09.2008, IV ZB 13/08).

Für die Einigungsgebühr kommt es darauf an, ob es (1) im jeweiligen Klageverfahren zum Abschluss eines Vertrags im Sinn der Nr. 1000 Absatz 1 Satz 1 VV RVG gekommen ist, und ob (2) nicht der Ausschlusstatbestand des letzten Halbsatzes des Satzes 1 greift. Wenn wie hier ein Vergleich mehrere Klageverfahren betrifft und fraglich ist, ob mehrere Einigungsgebühren angefallen sind, ist Bezugspunkt der vergütungsrechtlichen Würdigung das jeweilige Klageverfahren bzw. der jeweilige Rechtsstreit. Dies mag eine Selbstverständlichkeit sein, bedarf aber gleichwohl der Klarstellung. Auch ein Prozessrechtsverhältnis, also der Rechtsstreit als solcher, ist ein "Rechtsverhältnis" im Sinn der Legaldefinition der Nr. 1000 VV RVG (so auch Müller-Rabe in Gerold/ Schmidt, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 19. Auflage 2010, VV 1000 Rn. 131, allerdings mit anderen Schlussfolgerungen). Ein am Prozessrecht ausgerichtetes Verständnis der Nr. 1000 VV RVG hält der Senat für möglich und naheliegend, nachdem der Gesetzgeber die Voraussetzungen der früheren Vergleichsgebühr in die jetzige Einigungsgebühr auch mit dem Ziel umgestaltet hat, die häufigen kostenrechtlichen Auseinandersetzungen über die Frage, ob ein Vergleich im Sinne von § 779 BGB vorliegt, zu vermeiden (BT-Drs. 15/1971 S. 204).

Hier ist eine Einigungsgebühr nicht entstanden, weil die Klage zurückgenommen worden ist. Daran vermag auch der Umstand, dass die Klagerücknahme als Bestandteil eines Vergleichs protokolliert worden ist, nichts zu ändern. Denn der zwischen den Beteiligten abgeschlossene Vergleich bzw. "Vertrag" im Sinn der Nr. 1000 VV RVG beschränkt sich hinsichtlich des Klageverfahrens S 15 AS 1002/07 ausschließlich auf einen Verzicht. Unter "Verzicht" im Sinn der Nr. 1000 VV RVG ist der Verzicht auf die Weiterverfolgung des Anspruchs zu verstehen. Das verdeutlicht die Gesetzesbegründung. Danach ist die Einschränkung notwendig, "damit nicht schon die Erfüllung des geltend gemachten Anspruchs oder der Verzicht auf Weiterverfolgung eines Anspruchs die Gebühr auslösen kann" (BT-Drs. 15/1971 S. 204). Der Gesetzgeber wollte damit einem Missbrauch entgegenwirken (BT-Drs. 15/1971 S. 147). Nachdem der Kläger mit der Rücknahme der Klage von der Weiterverfolgung der Angelegenheit mit dem Aktenzeichen S 15 AS 1002/07 Abstand genommen hat, liegt ein Verzicht im Sinn der Nr. 1000 VV RVG vor. Unerheblich ist, wie die gerichtliche Abschlussverfügung erfolgt ist. Sie ist ein rein interner Akt ohne Einfluss auf die vergütungsrechtliche Prüfung. Die dortige Angabe über die Art der Erledigung des Klageverfahrens hat nur für statistische Zwecke Bedeutung.

Unbestritten hat die Einigungsgebühr einen weiteren Anwendungsbereich als die frühere Vergleichsgebühr. Sie kann auch anfallen, wenn zusätzlich zu einem Anerkenntnis oder einem Verzicht etwas Anderes vereinbart wird, beispielsweise eine Ratenzahlung (vgl. Müller-Rabe a.a.O. VV 1000 Rn. 174, 226 ff.; BGH, Beschluss vom 17.09.2008, IV ZB 13/08) oder wenn eine Einigung bezüglich der Kosten erzielt wird (vgl. Hartmann, Kostengesetze a.a.O. VV 1000 Rn. 33). Liegt aber in Bezug auf ein Klageverfahren ausschließlich ein Anerkenntnis oder ausschließlich ein Verzicht vor, kommt sie nicht zur Entstehung.

39Klagerücknahmen lösen nicht allein dadurch Einigungsgebühren aus, dass sie anlässlich eines anderweitigen Vergleichs erfolgen, die Verfahren also "miterledigt" werden. Wenn von einem Vergleich mehrere, beispielsweise vier Klageverfahren zwischen denselben Beteiligten betroffen sind, wie dies insbesondere im Gebiet der Grundsicherung für Arbeitslose nicht selten vorkommt, löst das vier Einigungsgebühren nur dann aus, wenn sich für jedes einzelne Klageverfahren die Voraussetzungen der Nr. 1000 VV RVG belegen lassen, d.h. wenn auch jeweils der Ausschlusstatbestand nicht greift. Als Beispiel kann die Entscheidung des Senats vom 07.01.2011 (L 15 B 939/08 SF) dienen. Im dortigen Fall betraf der geschlossene Vergleich ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und das dazugehörige Hauptsacheverfahren. Der Kläger hatte in der Sache (teilweise) Erfolg, was sich gleichermaßen auf die Hauptsache und das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes auswirkte. Die "Erledigterklärung" des Hauptsacheverfahrens war hier nicht gleichbedeutend mit einem Verzicht im Sinn der Nr. 1000 VV RVG. Der "Gesamtcharakter der Einigung" (so im Beschluss vom 07.01.2011) blieb von dieser Art Erledigterklärung, die keinen Verzicht bedeutete, unberührt.

Keine hälftige Anrechnung der Beratungshilfegebühr

Der Vergütungsanspruch des Beschwerdeführers gegen die Staatskasse ist nicht um 35 Euro zu mindern. Er hat zwar im Rahmen der Beratungshilfe eine Geschäftsgebühr in Höhe von 70 Euro erhalten. Entgegen Nr. 2503 Absatz 2 Satz 1 VV RVG in der bis 23.05.2011 geltenden Fassung ist die Geschäftsgebühr im Rahmen der Beratungshilfe auf die im Gerichtsverfahren angefallenen Gebühren aber nicht zur Hälfte anzurechnen. Diese Position kann unbeschadet des Umstands berücksichtigt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Kostenfestsetzungsantrag vom September 2009 selbst 35 Euro von seiner Gebührenforderung abgesetzt hatte. Denn der ihm zuerkannte Betrag bleibt gleichwohl hinter seiner Forderung von 784,92 Euro zurück.

Wie der Senat in der Entscheidung vom 04.11.2010 (L 15 B 617/08 SB KO) dargelegt hat, hält er die "Zweigleisigkeit der Kürzungstatbestände" für höchst problematisch. Eine erste, aus dem früheren Recht (§ 132 Abs. 2 Satz 2 BRAGO) übernommene "Gebührenkürzung" folgt aus Nr. 2503 VV RVG. Nach diesem Gebührentatbestand entsteht für das Betreiben eines Geschäfts im Rahmen der Beratungshilfe eine Geschäftsgebühr in Höhe von 70 Euro, die nach Nr. 2503 Absatz 2 Satz 1 VV RVG auf die Gebühren für ein anschließendes gerichtliches Verfahren zur Hälfte anzurechnen ist. Einen weiteren, 2004 eingeführten "Kürzungstatbestand" beinhaltet Nr. 3103 VV RVG, wonach für die Verfahrensgebühr ein reduzierter Gebührenrahmen von 20 Euro bis 320 Euro für den Fall vorgesehen ist, dass eine Tätigkeit des Rechtsanwalts im Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren vorausgegangen ist. Der Gesetzgeber hat berücksichtigen wollen, dass "die Tätigkeit in diesen Verwaltungsverfahren die Tätigkeit im gerichtlichen Verfahren durchaus erleichtert" (BT-Drs. 15/1971 S. 212), hat aber übersehen oder nicht hinreichend bedacht, dass es damit in Beratungshilfe-Fällen zu einer doppelten Berücksichtigung der beim Rechtsanwalt eintretenden Arbeitserleichterung wegen Vorbefassung mit der Angelegenheit kommt.

Mit Wirkung ab 24.05.2011 ist Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 VV RVG dergestalt geändert worden, dass eine Anrechnung auf die Gebühren 2401 und 3103 nicht stattfindet (Art. 11 Nr. 3 des Gesetzes zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 4/ 2009 und zur Neuordnung bestehender Aus- und Durchführungsbestimmungen auf dem Gebiet des Internationalen Unterhaltsverfahrensrechts - BGBl I S. 898, 917). Der Gesetzgeber hat damit das Problem der doppelten Berücksichtigung des durch die Vorbefassung des Rechtsanwalts ersparten Aufwands in der Weise gelöst, dass bei Anwendung der Nr. 3103 VV RVG eine Anrechnung der Geschäftsgebühr wegen Beratungshilfe nicht (mehr) erfolgt. Im vorliegenden Fall ist allerdings Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 RVG alter Fassung anzuwenden (§ 60 Abs. 1 RVG).

44Unter dem Eindruck der Gesetzesänderung modifiziert der Senat seine Auffassung, die der Entscheidung vom 04.11.2010 (L 15 B 617/08 SB KO) zugrunde gelegen hat, dahingehend, dass - entsprechend der Neufassung der Nr. 2503 VV RVG - die (Beratungshilfe-) Geschäftsgebühr nicht auf die im Gerichtsverfahren angefallenen Gebühren angerechnet wird (ebenso LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.12.2009, L 19 B 180/09 AS; Beschluss vom 04.01.2010, L 19 B 316/09 AS; Beschluss vom 29.11.2010, L 6 AS 52/10 B; Beschluss vom 24.01.2011, L 20 B 81/09 AS; SG Berlin, Beschluss vom 02.10.2009, S 164 SF 1112/09 E; Beschluss vom 25.01.2010, S 165 SF 1315/09 E). Nach nochmaliger Abwägung aller Gesichtspunkte hält der Senat an der mit Beschluss vom 04.11.2010 befürworteten "umgekehrten" und weitergehenden Problemlösung, wonach in Beratungshilfe-Fällen nicht der Gebührenrahmen der Nr. 3103 VV RVG, sondern der Gebührenrahmen der Nr. 3102 VV RVG maßgeblich sein sollte, nicht fest.

Das Verfahren ist gebührenfrei, Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Sätze 2 und 3 RVG).

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).






Bayerisches LSG:
Beschluss v. 01.07.2011
Az: L 15 SF 82/10 B E


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/ccb72e0f483b/Bayerisches-LSG_Beschluss_vom_1-Juli-2011_Az_L-15-SF-82-10-B-E




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