Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 12. Dezember 2001
Aktenzeichen: 1 BvR 1571/00

(BVerfG: Beschluss v. 12.12.2001, Az.: 1 BvR 1571/00)

Tenor

1. Der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 20. Juli 2000 - S 19 KA 192/00 ER - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes, soweit der Antrag, die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Berufungsausschusses für Ärzte - Psychotherapie - für den Bezirk der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein - Nr. 176/99 - vom 12. April 2000 anzuordnen, abgelehnt wurde.

2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren auf 60.000 DM (in Worten: sechzigtausend Deutsche Mark) und für das Verfahren betreffend den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 30.000 DM (in Worten: dreißigtausend Deutsche Mark) festgesetzt.

Gründe

I.

1. Der Beschwerdeführer wurde mit Beschluss des Berufungsausschusses für Ärzte - Psychotherapie - für den Bezirk der Kassenärztlichen Vereinigung N. vom 12. April 2000 zur vertragsärztlichen Versorgung als Psychologischer Psychotherapeut zugelassen, wogegen die Kassenärztliche Vereinigung zunächst nur fristwahrend Klage bei dem Sozialgericht erhob, ohne diese zu begründen. Den Antrag des Beschwerdeführers, angesichts der aufschiebenden Wirkung der Klage die Vollziehung der Zulassungsentscheidung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes anzuordnen, lehnte das Sozialgericht ab. Zur Begründung führte das Sozialgericht aus: Zwar sei für den Beschwerdeführer nach summarischer Prüfung Bestandsschutz anzunehmen; nach § 97 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 97 Abs. 4 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB V) fehle jedoch das öffentliche Interesse am Sofortvollzug. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 4. September 2000 dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz stattgegeben.

2. Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde vor allem die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG wegen der Versagung wirkungsvollen Rechtsschutzes.

3. Das Bundesverfassungsgericht hat den Beteiligten des Ausgangsverfahrens, der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, dem Bundessozialgericht, dem Deutschen AnwaltVerein, der Bundesrechtsanwaltskammer, dem Bund Deutscher Sozialrichter und dem Deutschen Sozialrechtsverband Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung an, soweit dies zur Durchsetzung seines Anspruchs auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 93, 1 <13>; 96, 27 <39>).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig; insbesondere hat der Beschwerdeführer den Rechtsweg erschöpft (§ 90 Abs. 2 BVerfGG). Angesichts der im sozialgerichtlichen Verfahren in Zulassungssachen völlig uneinheitlichen Rechtsmittelhandhabung war dem Beschwerdeführer nicht zuzumuten, vorsorglich Beschwerde gegen die angegriffene Entscheidung einzulegen (vgl. hierzu Spellbrink, Einstweiliger Rechtsschutz vor den Sozialgerichten in Zulassungssachen gemäß § 96 Abs. 4 SGB V, MedR 1999, S. 304 <307>). Ein Beschwerdeführer verstößt nicht gegen das Subsidiaritätsprinzip, wenn er sich hinsichtlich der möglichen Rechtsmittel an einer ihm erteilten Rechtsmittelbelehrung orientiert, die mit den in der angegriffenen Entscheidung herangezogenen Rechtsgrundlagen übereinstimmt.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts verletzt den Beschwerdeführer wegen fehlender Interessenabwägung in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

a) Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet einen effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>; stRspr). Der in dieser Vorschrift verbürgte Anspruch auf eine umfassende und wirksame gerichtliche Kontrolle hat gerade in Eilverfahren erhebliche Bedeutung. Insofern kommt dem gerichtlichen Rechtsschutz namentlich hier die Aufgabe zu, irreparable Folgen soweit wie möglich auszuschließen und der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen vorzubeugen, die auch dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wenn sie sich im Nachhinein als rechtswidrig erweisen (vgl. BVerfGE 93, 1 <13>; stRspr). Zwar können es überwiegende öffentliche Belange rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Einzelnen zurückzustellen (vgl. BVerfGE 65, 1 <70 f.> m.w.N.). Sowohl bei Anfechtungs- als auch bei Vornahmesachen ist vorläufiger Rechtsschutz aber dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 <74> m.w.N.). Aus diesem Grund hat das Gericht regelmäßig eine Abwägung zwischen dem Aufschubinteresse des Drittbetroffenen und dem privaten Interesse des Betroffenen am Vollzug einer für ihn günstigen hoheitlichen Maßnahme bis zur Klärung im Hauptsacheverfahren vorzunehmen (vgl. Jörg Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 11. Aufl. 2000, § 80 a Rn. 16).

b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht. Das Sozialgericht verkennt die Bedeutung und Tragweite von Art. 19 Abs. 4 GG, indem es seine Entscheidung nach summarischer Prüfung allein auf das fehlende öffentliche Interesse stützt und damit die für die Entscheidungen des Berufungsausschusses nach § 97 Abs. 4 SGB V geltenden Voraussetzungen anwendet, obwohl diese Vorschrift auf andere Konfliktlagen zugeschnitten ist; auf die hier vorliegende Konstellation einer Drittanfechtung ist sie weder unmittelbar noch sinngemäß anwendbar. Soweit ein Dritter im Klageverfahren geltend macht, durch den gegenüber dem Begünstigten erlassenen Verwaltungsakt beschwert zu sein, hat sich das Sozialgericht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren mit der Frage auseinander zu setzen, ob die sofortige Vollziehung geboten ist, um den Eintritt schwerer und unzumutbarer, anders nicht abwendbarer Nachteile für den Begünstigten zu vermeiden, oder ob den Belangen des anfechtenden Dritten der Vorrang gebührt. Innerhalb dieses Abwägungsprozesses ist auch Raum für die Berücksichtigung des öffentlichen Interesses (vgl. die zukünftige Regelung in § 86 b SGG i.d.F. des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes <6. SGGÄndG> vom 17. August 2001 <BGBl I S. 2144>; BTDrucks 14/5943, S. 25).

Auf den Vortrag des Beschwerdeführers, die aufschiebende Wirkung der von der Kassenärztlichen Vereinigung erhobenen Klage wirke sich existenzvernichtend aus, ist das Sozialgericht nicht eingegangen, obwohl es die Erfolgsaussichten der Klage der Kassenärztlichen Vereinigung auf Grund einer summarischen Prüfung verneint und zugunsten des Beschwerdeführers für das Verfahren Kostenerstattung angeordnet hat. Damit hat es dem Beschwerdeführer im Ergebnis effektiven Rechtsschutz verweigert. Wegen weiterer diesbezüglicher Einzelheiten wird auf den Beschluss der erkennenden Kammer vom 4. September 2000 verwiesen.

c) Der angegriffene Beschluss beruht - mit Ausnahme der Kostenentscheidung - auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Die Verfassungsverletzung ist festzustellen (§§ 93 c, 95 Abs. 1 BVerfGG). Eine Aufhebung und Zurückverweisung des Verfahrens an das Sozialgericht gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG ist entbehrlich, weil das einstweilige Rechtsschutzbegehren wegen der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen im Hauptsacheverfahren gegenstandslos geworden ist und die Kostenentscheidung des Sozialgerichts den Beschwerdeführer nicht beschwert hat.

3. Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 113

Abs. 2 Satz 3 BRAGO in Verbindung mit den vom Bundesverfassungsgericht dazu entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).






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Az: 1 BvR 1571/00


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