Verwaltungsgericht Aachen:
Urteil vom 27. Mai 2010
Aktenzeichen: 4 K 16/10

(VG Aachen: Urteil v. 27.05.2010, Az.: 4 K 16/10)

Tenor

Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Beschlusses vom 16. Dezember 2009 verpflichtet, die Feststellung des Ergebnisses der Wahl zum Rat der Stadt Aachen vom 11. September 2009 für ungültig zu erklären und eine Neufeststellung anzuordnen.

Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten des Klägers jeweils zur Hälfte. Im Óbrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner wird nachgelassen, die vorläufige Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils für den Kläger gegen ihn vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger ficht als Wahlberechtigter die Feststellung des Ergebnisses der Wahl zum Rat der Stadt Aachen an, die im Jahr 2009 stattgefunden hat. Er begehrt eine Neufeststellung des Wahlergebnisses, mit der der Europäischen Liste Aachen (ELA) ein Sitz im Rat der Stadt Aachen zugesprochen wird.

Nach den Vorschriften des Kommunalwahlgesetzes (KommwahlG) und der Kommunalwahlordnung (KommwahlO) waren in Aachen angesichts einer Zahl von über 250.000 Einwohnern 66 Vertreter, davon 33 in Wahlbezirken zu wählen. Mit Satzung vom 8. November 2006 machte die Stadt von der Möglichkeit des § 3 Abs. 2 Satz 2 KommwahlG Gebrauch und reduzierte die Zahl der zu wählenden Vertreter um zwei auf 64.

Nach Durchführung der Ratswahl am 30. August 2009 stellte der Wahlausschuss am 11. September 2009 das Wahlergebnis fest, das der Wahlleiter am 23. September 2009 bekannt gab. Danach ergab sich folgendes Wahlergebnis:

A Wahlberechtigte 187.618 B Wähler 100.321 C Ungültige Stimmen 1.585 D Gültige Stimmen insgesamt 98.736

Von den gültigen Stimmen entfielen auf

1 Christlich Demokratische Union Deutschlands C D U 37.261 2 Sozialdemokratische Partei Deutschlands S P D 26.110 3 BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN GRÜNE 18.802 4 Freie Demokratische Partei F D P 7.405 5 DIE LINKE DIE LINKE 4.073 6 AACHENER-BÜRGER-LISTE A B L 235 7 Unabhängige Wählergemeinschaft UWG 1.553 BÜRGERWILLE AACHEN U W G 8 Europäische Liste Aachen E.L.A. 718 9 FreieWählerGemeinschaft Aachen FWG 771 10 Thomas-Kupke (Einzelbewerberin) 128 11 Piratenpartei Deutschland PIRATEN 1.680

Nach dem amtlichen Endergebnis folgt aus diesen Stimmenzahlen folgende Sitzverteilung:

SITZVERTEILUNG Partei Sitze aus den Wahlbezirken aus den Reservelisten insgesamt C D U 28 0 28 S P D 4 16 20 GRÜNE 0 14 14 F D P 0 6 6 DIE LINKE 0 3 3 ABL 0 0 0 U W G 0 1 1 ELA 0 0 0 FWG 0 1 1 PIRATEN 0 1 1 ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Zusammen 32 42 74

Gegen diese Feststellung des amtlichen Endergebnisses erhob der Kläger am 1. Oktober 2009 Einspruch, mit dem er sinngemäß geltend machte, dass bei ordnungsgemäßer Anwendung des § 33 KommwahlG der Wählergruppe ELA ein Sitz zugesprochen werden müsse.

Der Wahlprüfungsausschuss des Beklagten beschloss in seiner Sitzung vom 8. Dezember 2009 einstimmig, dem Beklagten die Zurückweisung unter anderem des Einspruchs des Klägers sowie die Gültigerklärung des am 11. September 2009 festgestellten und am 23. September 2009 amtlich bekanntgemachten Wahlergebnisses zu empfehlen.

Der Beklagte wies in seiner Sitzung vom 16. Dezember 2009 (auch) den Einspruch des Klägers zurück und stellte fest, dass keiner der in § 40 Abs. 1 lit. a) bis c) KommwahlG genannten Fälle vorliege. Der Ratsbeschluss wurde am 23. Dezember 2009 bekannt gemacht.

Der Kläger hat am 5. Januar 2010 Klage erhoben. Er ist der Auffassung, der Wählergruppe ELA stehe ein Sitz im Rat der Stadt Aachen zu. Wenn infolge von Überhangmandaten eine Anhebung der Anzahl der Sitze im Rat vorgenommen werden müsse, müssten bei der erneuten Berechnung der Sitzverteilung die Stimmen aller am Verhältnisausgleich teilnehmenden Parteien und Wählergruppen berücksichtigt werden. Es sei mit § 33 KommwahlG nicht vereinbar, wenn bei der Berechnung nach § 33 Abs. 3 KommwahlG die Stimmen der Parteien und Wählergruppen, die nach dem ersten Berechnungsversuch ohne Sitz geblieben seien, ausgeschieden würden und unberücksichtigt blieben.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Beschlusses des Beklagten vom 16. Dezember 2009 den Beklagten zu verpflichten, die Feststellung des Ergebnisses der Wahl zum Rat der Stadt Aachen vom 11. September 2009 für ungültig zu erklären und eine Neufeststellung anzuordnen.

Der Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Klage abzuweisen.

Der Umstand, dass im Rahmen der zweiten Berechnung die Stimmen für die Parteien und Wählergruppen, die nach der ersten Berechnung keinen Sitz erhalten hätten, unberücksichtigt blieben, begegne keinen Bedenken. Dies entspreche der Konkretisierung in § 61 Abs. 5 KommwahlO.

Die Kammer hat mit Beschluss vom 1. März 2010 das Ratsmitglied (Frau ) beigeladen, das im Falle der erstrebten Neufeststellung des Wahlergebnisses sein Mandat zu Gunsten der ELA verlieren würde.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.

Gründe

Die Klage hat Erfolg.

Sie ist zulässig. Der Kläger ist für die vorliegende Wahlprüfungsklage aktivlegitimiert, da er zuvor gegen die Feststellung des Wahlergebnisses wirksam Einspruch erhoben hat, §§ 39, 41 des Gesetzes über die Kommunalwahlen im Lande Nordrhein-Westfalen (KommwahlG),

vgl. eingehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 8. September 1965 - III A 650/65 - OVGE MüLü 21, 332; seitdem ständige Rechtsprechung.

Die Klage ist als Verpflichtungsklage statthaft, weil sie auf Verpflichtung zum Erlass eines rechtsgestaltenden Verwaltungsakts in Form der Wahlprüfungsentscheidung gerichtet ist,

vgl. OVG NRW, Urteile vom 22. Februar 1991 - 15 A 1518/90 - OVGE MüLü 42, 152 und vom 28. November 1980 - 15 A 1660/80 - OVGE MüLü 35, 144 -; VG Aachen, Urteil vom 16. Juni 2005 - 4 K 4462/04 -.

Ein Vorverfahren hat nach § 41 Abs.1 Satz 3 KommwahlG zutreffend nicht stattgefunden; die Klagefrist des § 41 Abs. 1 Satz 1 KommwahlG wurde eingehalten.

Die Klage ist auch begründet. Die Ablehnung des Beklagten, die Feststellung des Ergebnisses der Wahl zum Rat der Stadt Aachen vom 11. September 2009 für ungültig zu erklären und eine Neufeststellung anzuordnen, ist rechtswidrig. Der Kläger hat einen Anspruch auf die vorgenannte Erklärung und Anordnung des Beklagten, § 113 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus §§ 39 Abs. 1 Satz 1, 40 Abs. 1 lit. c) KommwahlG. Danach kann ein Wahlberechtigter verlangen, dass die neue Vertretung die Feststellung des Wahlergebnisses für ungültig erklärt und eine Neufeststellung anordnet. Dies setzt voraus, dass die Feststellung des Wahlergebnisses nicht gemäß den verbindlichen - weil wirksamen - Vorgaben des nordrheinwestfälischen Kommunalwahlrechts erfolgt ist. Ob darüber hinaus eine Mandatsrelevanz zu fordern ist,

vgl. verneinend: Kallerhoff / von Lennep u. a., Handbuch zum Kommunalwahlrecht in Nordrhein-Westfalen, 2008, Seite 318,

kann vorliegend dahinstehen, weil eine solche gegeben ist.

Die angegriffene Feststellung des Wahlergebnisses ist rechtswidrig, weil sie den Bestimmungen des § 33 KommwahlG insoweit nicht entspricht, als bei der Berechnung der Sitzzuteilung nach § 33 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 KommwahlG die Parteien oder Wählergruppen (und die für diese abgegebenen Stimmen) unberücksichtigt geblieben sind, die ohne Vorliegen von Überhang- und Ausgleichsmandaten keinen Ratssitz erlangen würden.

§ 33 Abs. 3 KommwahlG trifft Regelungen für den Fall, dass Parteien oder Wählergruppen (durch erfolgreiche Wahlkreisbewerber) mehr Sitze in den Wahlbezirken errungen haben, als ihnen nach dem Verhältnis der Summe der für sie in allen Wahlbezirken zusammen abgegebenen Stimmen zur Gesamtzahl der Stimmen für alle diejenigen Parteien oder Wählergruppen, die jeweils eine Reserveliste gebildet haben, zustehen. § 33 Abs. 3 KommwahlG will diese Überhangmandate ausgleichen. Zu diesem Zweck wird das grundsätzlich in § 33 Abs. 1 und 2 KommwahlG geregelte Sitzzuteilungsverfahren abgeändert. Zunächst wird die sogenannte Ausgangszahl erhöht. Diese Zahl gibt die Anzahl der im Sitzzuteilungsverfahren zu verteilenden Ratssitze an. Nach § 33 Abs. 3 Satz 1 KommwahlG soll die Ausgangszahl um so viele Sitze erhöht werden wie notwendig sind, um auch unter Berücksichtigung der erzielten Mehrsitze (Überhangmandate) eine Sitzverteilung nach dem Verhältnis der Stimmenzahlen zu erreichen. § 33 Abs. 3 Satz 2 KommwahlG bestimmt präzise, wie diese Erhöhung vorzunehmen ist. Es ist zu ermitteln, welche Partei oder Wählergruppe das günstigste Verhältnis zwischen gewonnenen Sitzen einerseits zu den nach dem Verhältnis der erlangten Wählerstimmen zur Gesamtstimmenzahl zustehenden Sitzen (erste Zuteilungszahl) andererseits aufweist. Die Vorschrift bezieht sich bei diesen Rechenvorgaben ausdrücklich auf die Gesamtstimmenzahl nach § 33 Absatz 1 KommwahlG und damit auf die dort definierte bereinigte Gesamtstimmenzahl. § 33 Abs. 3 Satz 2 KommwahlG bestimmt weiter, dass die Anzahl der gewonnenen Sitze (dieser Partei oder Wählergruppe mit dem vorgenannten günstigsten Verhältnis) mit der bereinigten Gesamtstimmenzahl multipliziert und durch die Stimmenzahl dieser Partei oder Wählergruppe dividiert werden soll. Damit wird nach dem Gesetz die zweite Ausgangszahl ermittelt, für die § 33 Abs. 3 Sätze 3 und 4 KommwahlG weitere Rechenregeln vorsehen, die sicherstellen, dass eine ganze und gerade (zweite) Ausgangszahl ermittelt wird. Hieraus ergibt sich folgende Berechnung: 28 (errungene Sitze der CDU) x 98.608 (bereinigte Gesamtstimmenzahl) : 37.261 (Stimmen für CDU) = 74,0 => 74 = Zweite Ausgangszahl. Um die Verteilung der Gesamtsitze auf die Parteien und Wählergruppen vornehmen zu können, muss ein Zuteilungsdivisor bestimmt werden, durch den die jeweils erlangten Wählerstimmen zu dividieren sind. Die Ermittlung dieses Zuteilungsdivisors regelt § 33 Abs. 2 Satz 7 KommwahlG, wonach die Gesamtstimmenzahl durch die Ausgangszahl zu teilen ist. Also ist zu rechnen: 98.608 : 74 mit 1.332,5405 als neuem Zuteilungsdivisor. Hieraus ergibt sich:

Partei Stimmen Divisor ungerundet gerundet C D U 37.261 : 1.332,5405 = 27,9623 28

S P D 26.110 : 1.332,5405 = 19,5941 20

GRüNE 18.802 : 1.332,5405 = 14,1098 14

F D P 7.405 : 1.332,5405 = 5,5570 6

DIE LINKE 4.073 : 1.332,5405 = 3,0565 3

A B L 235 : 1.332,5405 = 0,1763 0

UWG 1.553 : 1.332,5405 = 1,1654 1 E.L.A. 718 : 1.332,5405 = 0,5388 1

FWG 771 : 1.332,5405 = 0,5785 1

PIRATEN 1.680 : 1.332,5405 = 1,2607 1 ------------------------------------------------------------------------------------------------ gesamt: 75

Da bei Anwendung dieses Divisors mehr Sitze vergeben würden als die Ausgangszahl vorgibt, ist nach § 33 Abs. 2 Satz 8 Halbsatz 2 KommwahlG der Divisor soweit zu vergrößern, dass sich bei seiner Anwendung eine Gesamtsitzzahl ergibt, die der Ausgangszahl entspricht. Dies ist dann der Fall, wenn derjenige nächsthöhere Divisor gewählt wird, der bei einer Partei oder Wählergruppe die bislang erzielte Zuteilungszahl unter die Rundungsgrenze von x,5 fallen lässt:

Partei Stimmen Divisor ungerundet gerundet C D U 37.261 : 27,5 = 1.354,9454 => 1.354,9455

S P D 26.110 : 19,5 = 1.338,9743 => 1.338,9744

GRüNE 18.802 : 13,5 = 1.392,7407 => 1.392,7408

F D P 7.405 : 5,5 = 1.346,3636 => 1.346,3637

DIE LINKE 4.073 : 2,5 = 1.629,2000 => 1.629,2001

A B L 235 : 0 =

UWG 1.553 : 0,5 = 3.106,0000 => 3.106,0001 E.L.A. 718 : 0,5 = 1.436,0000 => 1.436,0001

FWG 771 : 0,5 = 1.542,0000 => 1.542,0001

PIRATEN 1.680 : 0,5 = 3.360,0000 => 3.360,0001

Hieraus folgt, dass dies bei einem nächsthöheren Divisor von 1.338,9744 geschieht.

Unter Anwendung dieses Divisors ergibt sich folgende Sitzzuteilung:

Partei Stimmen Divisor ungerundet gerundet C D U 37.261 : 1.338,9744 = 27,8280 28

S P D 26.110 : 1.338,9744 = 19,4999 19

GRüNE 18.802 : 1.338,9744 = 14,0420 14

F D P 7.405 : 1.338,9744 = 5,5303 6

DIE LINKE 4.073 : 1.338,9744 = 3,0418 3

A B L 235 : 1.338,9744 = 0,1755 0

UWG 1.553 : 1.338,9744 = 1,1598 1 E.L.A. 718 : 1.338,9744 = 0,5362 1

FWG 771 : 1.338,9744 = 0,5758 1

PIRATEN 1.680 : 1.338,9744 = 1,2546 1 ------------------------------------------------------------------------------------------------ gesamt: 74

Dieses Wahlergebnis ist mit Blick auf die der Partei SPD und der Wählergruppe ELA zustehenden Sitze nicht zutreffend festgestellt worden.

Entgegen der Auffassung des Beklagten und der Beigeladenen lässt sich das festgestellte Wahlergebnis nicht auf § 61 Abs. 5 Sätze 2 und 3 KommwahlO stützen, die ausdrücklich bei einer durch Überhang- und Ausgleichsmandate erforderlich werdenden Sitzverteilung nach § 33 Abs. 3 KommwahlG die Nichtberücksichtigung von Parteien oder Wählergruppen vorsehen, die bei einer Sitzverteilung ausschließlich nach § 33 Abs. 2 KommwahlG keinen Sitz erlangen würden.

Diese Bestimmungen sind nichtig und daher unanwendbar, weil sie nicht durch die Ermächtigungsgrundlage des § 51 KommwahlG gedeckt sind und auch sonst gegen höherrangiges Recht verstoßen. Eine Rechtsverordnung, die den Rahmen ihrer Ermächtigungsnorm überschreitet, ist nichtig,

vgl. Geller-Kleinrahm, Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, Kommentar (Loseblattausgabe), Art. 70 Anm. 10. m.w.N.

In § 51 Abs. 1 KommwahlG ist keine ausdrückliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber enthalten, zu § 33 KommwahlG sitzverteilungsrelevante Vorschriften zu erlassen, da die letztere Bestimmung nicht in der Liste der Normen des § 51 Abs. 1 KommwahlG aufgeführt ist, zu denen der Innenminister im Wege einer Rechtsverordnung weitere Vorschriften erlassen kann. Eine Ermächtigung lässt sich auch nicht daraus herleiten, dass der Auflistung kein abschließender Charakter zukommt ("insbesondere"). Angesichts der zentralen Bedeutung, die den Regelungen über die Umsetzung von Wählerstimmen in eine Sitzverteilung in jedem Wahlrecht zukommt, bedürfte es jedenfalls einer dem Verordnungsgeber ausdrücklich eingeräumten Ermächtigung zur Modifizierung des in § 33 Kommunalwahlgesetz vorgegebenen Berechnungsverfahrens. Eine solche Ermächtigung an den Verordnungsgeber, eigenständige sitzverteilungsrelevante Bestimmungen zu erlassen, wäre auch nicht zulässig. Denn dies dürfte weder mit der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen (Verf NRW) noch mit dem Grundgesetz (GG) in Einklang zu bringen sein. Art. 70 Verf NRW lässt unter Berücksichtigung des auch im Bereich des Wahlrechts geltenden Parlamentsvorbehalts eine solche landesgesetzliche Ermächtigungsgrundlage nicht zu,

vgl. zum Gesetzesvorbehalt im Wahlrecht: BVerfG, Urteil vom 3. März 2009 - 2 BvC 3/07 und 2 BvC 4/07 - BVerfGE 123, 39.

Darüber hinaus ist der Gesetzgeber nach dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Gebot der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet, die wesentlichen Grundzüge des Wahlrechts, zu denen zentral die Vorschriften über die Umsetzung der Wählerstimmen in eine Sitzverteilung gehören, selbst zu bestimmen,

vgl. grundlegend: Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Loseblattausgabe), Art. 80 Rz. 96ff mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Demzufolge enthält § 51 Abs. 1 KommwahlG auch nur die Ermächtigung an den Innenminister, die zur Ausführung dieses Gesetzes erforderlichen Vorschriften zu erlassen. § 61 Abs. 5 Sätze 2 und 3 KommwahlO führen aber die Bestimmungen des § 33 KommwahlG nicht aus, sondern ändern diese ab. In der Vergangenheit hat der Landesgesetzgeber seine Selbstentscheidungspflicht im Hinblick auf Klauseln, die eine Nichtberücksichtigung von Parteien oder Wählergruppen und der für diese abgegebenen Stimmen vorsehen, auch regelmäßig beachtet und diese Entscheidungen im jeweiligen Kommunalwahlgesetz selbst geregelt,

vgl. § 31 Abs. 6 Kommunalwahlgesetz vom 21. Juni 1960 (GV NW 187); § 31 Abs. 6 Kommunalwahlgesetz vom 5. März 1964 (GV NW 53); § 32 Abs. 6 Kommunalwahlgesetz vom 12. Dezember 1968 (GV NW 480); § 33 Abs. 6 Kommunalwahlgesetz vom 22. Juli 1974 (GV NW 665); § 33 Abs. 1 Kommunalwahlgesetz vom 8. Januar 1979 (GV NW 2); § 33 Abs. 1 Kommunalwahlgesetz vom 15. August 1993 (GV NW 521); § 33 Abs. 1 Kommunalwahlgesetz vom 30. Juni 1998 (GV NW 454); § 33 Abs. 3 Kommunalwahlgesetz in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes vom 9. Oktober 2007 (GV NW 374) - KommwahlG 2007.

Auch die letzte Änderung des Kommunalwahlgesetzes,

vgl. Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes vom 30. Juni 2009 (GV NW 372),

lässt keine Anhaltspunkte für eine abweichende Handhabung erkennen.

Von der Selbstentscheidungspflicht ist der Gesetzgeber nicht abgewichen, indem er die einzige im Gesetz geregelte Nichtberücksichtigungsklausel, hier des § 33 Abs. 3 KommwahlG 2007 ersatzlos gestrichen hat. Unzutreffend ist der Einwand des Beklagten, bei der infolge des Urteils des Verfassungsgerichtshofs vom 16. Dezember 2008,

vgl. Verfassungsgerichtshof NRW, Urteil vom 16. Dezember 2008 - VerfGH 12/08 - www.nrwe.de,

erforderlich gewordenen Änderung des Kommunalwahlgesetzes,

vgl. Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes vom 30. Juni 2009 (GV NW 372),

seien über den vom Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärten § 33 Abs. 3 Satz 1 KommwahlG 2007 hinaus, nur versehentlich auch die Sätze 2 und 3 des Absatzes 3 gestrichen worden, weil - so der Einwand weiter - der Gesetzgeber nicht erkannt habe, dass diese nicht nur Folgeregelungen des § 33 Abs. 3 Satz 1 KommwahlG 2007 gewesen, sondern auch Grundlage für die in § 61 Abs. 5 Sätze 2 und 3 KommwahlO neu vorgesehenen Ausschlussklauseln seien. Schon der Wortlaut des § 33 Abs. 3 Sätze 2 und 3 KommwahlG 2007 ("In diesem Fall..." und "Dabei...") spricht eindeutig gegen einen Anwendungsbereich, der über den Fall des § 33 Abs. 3 Satz 1 KommwahlG 2007 hinausgehen sollte. Der seinerzeitige Anwendungsbereich des § 33 Abs. 3 Satz 1 war nur eröffnet, wenn Parteien oder Wählergruppen eine niedrigere Zuteilungszahl als 1,0 erzielt hatten. Eine Regelung etwa über die Nichtberücksichtigung von Parteien oder Wählergruppen bei der Sitzverteilung in einem infolge von Überhang- und Ausgleichsmandaten vergrößerten Rat hat es in § 33 Abs. 3 Satz 1 KommwahlG nicht gegeben. Dementsprechend würde es § 61 Abs. 5 Sätze 2 und 3 KommwahlO selbst dann an der erforderlichen Ermächtigungsgrundlage fehlen, wenn der Gesetzgeber § 33 Abs. 3 Sätze 2 und 3 KommwahlG 2007 nicht gestrichen hätte.

Wollte man den Verordnungsgeber zu den Regelungen des § 61 Abs. 5 Sätze 2 und 3 KommwahlO gleichwohl für ermächtigt halten, wären diese jedenfalls deshalb nichtig, weil sie mit der gesetzlichen Regelung des § 33 Abs. 3 KommwahlG nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Sie widersprechen dem in § 33 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 1 und 2 KommwahlG schon ihrem Wortlaut nach gesetzlich vorgegebenen Berechnungsverfahren und sind auch mit dem von diesen Vorschriften angestrebten Zweck nicht in Einklang zu bringen. Durch Ausgleichsmandate soll auch unter Berücksichtigung der erzielten Mehrsitze (Überhangmandate) eine Sitzverteilung erreicht werden, die dem Verhältnis der Stimmenzahlen entspricht. Der Gesetzgeber geht hierbei von der bereinigten Gesamtstimmenzahl des § 33 Abs. 1 KommwahlG aus und will daher die Stimmen für die Parteien oder Wählergruppen, die auf der Grundlage der regulären Sitzzahl des Rates nicht zumindest für einen Sitz gereicht haben, nicht unberücksichtigt lassen. Eine den Stimmenanteilen an dieser Gesamtstimmenzahl entsprechende Sitzverteilung kann aber nur erzielt werden, wenn alle Parteien oder Wählergruppen, die eine Reserveliste aufgestellt haben, berücksichtigt werden. Folglich sind die Parteien oder Wählergruppen und die für sie abgegebenen Stimmen auch bei einer Sitzverteilung im vergrößerten Rat einzubeziehen.

§ 61 Abs. 5 Sätze 2 und 3 KommwahlO wären im Falle ihrer Anwendbarkeit schließlich auch deshalb nichtig, weil sie unter Verstoß gegen das Gebot der Gleichheit der Wahl Wählerstimmen unterschiedliche Erfolgswerte beimessen würden, ohne dass hierfür eine erforderliche verfassungsrechtlich relevante Rechtfertigung besteht. Allerdings steht dem Gesetzgeber grundsätzlich eine Gestaltungsfreiheit bei der Wahl des Verfahrens zu, wie Wählerstimmen in Sitze einer Vertretungskörperschaft umgerechnet werden sollen. Systembedingte Differenzierungen im Erfolgswert von Stimmen sind hinzunehmen. Eine Modifizierung, die eine zusätzliche Erfolgswertungleichheit bewirkt, ist aber nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn dafür ein zwingender Grund besteht,

vgl. Verfassungsgerichtshof NRW, Urteil vom 16. Dezember 2008 - VerfGH 12/08 - www.nrwe.de.

Die Regeln des § 61 Abs. 5 Sätze 2 und 3 KommwahlO führen - wie dargestellt - zu anderen Ergebnissen in der Sitzzuteilung als die Berechnung auf der Grundlage des Kommunalwahlgesetzes und sind nicht "systembedingt" im obigen Sinne. Sie wirken der Sache nach wie eine Sperrklausel bei der Sitzverteilung im vergrößerten Rat für diejenigen Parteien und Wählergruppen, die bei einer Berechnung ausschließlich nach § 33 Absatz 2 KommwahlG ohne Sitz bleiben würden. Hierfür fehlt es an einer ausreichenden Rechtfertigung. Das Argument des Beklagten, einer Partei oder Wählergruppe dürfe im Berechnungsverfahren nach § 33 Abs. 3 KommwahlG nicht ein Sitz entzogen werden, weil nach diesem Verfahren nur Sitze "aufgestockt" werden dürften, ist unzutreffend. Das Verteilungsverfahren nach § 33 Abs. 3 KommwahlG sieht keine Aufstockung von Sitzen in dem Sinne vor, dass etwa die nach § 33 Abs. 2 KommwahlG im ersten Schritt errechneten Mandate als feststehend anzusehen wären und diesen allenfalls weitere Sitze hinzugefügt werden könnten, sondern ordnet eine entsprechend dem ersten Rechenschritt vorzunehmende Neuverteilung aller Sitze, nunmehr unter Berücksichtigung der Überhang- und Ausgleichsmandate, an. § 33 Abs. 3 Satz 5 KommwahlG macht dies deutlich. Hiernach nehmen ausdrücklich an der weiteren Berechnung und Verteilung auch diejenigen Parteien teil, die mit ihren Überhangmandaten das weitere Berechnungsverfahren gemäß § 33 Abs. 3 KommwahlG ausgelöst haben.

Die nach § 33 Abs. 3 KommwahlG vorzunehmende Berechnung führt auch nicht - wie der Beklagte meint - zu einem Verlust von im ersten Rechenschritt nach § 33 Abs. 2 KommwahlG, also ohne Berücksichtigung von Überhang- und Ausgleichsmandaten, errechneten Sitzen. Zur Ermittlung der Zuteilungszahl werden die Wählerstimmen jeder Partei bzw. Wählergruppe grundsätzlich gleichmäßig durch einen Zuteilungsdivisor dividiert, der bei der Berechnung nach § 33 Abs. 3 KommwahlG gegenüber der nach § 33 Abs. 2 KommwahlG aber verkleinert ist. Die (ungerundete) Zuteilungszahl muss hiernach zwingend höher ausfallen als bei dem Rechenwerk nach § 33 Abs. 2 KommwahlG. Für die SPD bedeutet dies vorliegend, dass sie infolge des Verfahrens nach § 33 Abs. 3 KommwahlG gegenüber der Verteilung nach § 33 Abs. 2 KommwahlG nicht einen Sitz verliert, sondern zwei hinzugewinnt.

Die Meinung des Beklagten und des Beigeladenen, das Verhältnis der Sitzverteilung im Rat zwischen den Parteien und Wählergruppen, wie es sich nach dem ersten Rechenschritt gemäß § 33 Abs. 2 KommwahlG ergebe, müsse gewahrt bleiben und dies zwinge bei der weiteren Berechnung zu einer Nichtberücksichtigung der Parteien und Wählergruppen, denen nach dem ersten Rechenschritt kein Sitz zustünde, hält die Kammer für nicht zutreffend. Die erneute Berechnung nach § 33 Abs. 3 KommwahlG bezweckt eine Veränderung / Anpassung des Verhältnisses der zunächst nach Abs. 2 berechneten Sitzverteilung, um die überhangmandatsbedingte Verzerrung in der Mandatsverteilung auszugleichen. Dieser Zweck ist durch das System des Verhältniswahlrechts vorgegeben, das den für eine Partei oder Wählergruppe abgegebenen Anteil der Stimmen in einem entsprechenden Verhältnis der Ratssitze zur Gesamtsitzzahl des Rates abbilden will.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und 3, 159 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 100 Abs. 1 ZPO.

Der Ausspruch zur Vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 Abs. 1 und 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Kammer hat die Berufung gemäß §§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zugelassen, weil die Rechtssache im Hinblick auf die Frage, wie eine Sitzverteilung in den Fällen des § 33 Abs. 3 KommwahlG zu berechnen ist, grundsätzliche Bedeutung hat.






VG Aachen:
Urteil v. 27.05.2010
Az: 4 K 16/10


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