Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 12. Juli 2001
Aktenzeichen: 1 BvR 2272/00
(BVerfG: Beschluss v. 12.07.2001, Az.: 1 BvR 2272/00)
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen Entscheidungen, durch die er als Rechtsanwalt wegen angeblicher Umgehung des Gegenanwalts gerügt wurde.
1. Der Beschwerdeführer hatte in einer Grundstücksangelegenheit auf telefonische Bitte der gegnerischen Mandanten, die zu diesem Zeitpunkt bereits anwaltlich vertreten waren, unmittelbar Verhandlungen geführt, die zur Beurkundung eines notariellen Aufhebungsvertrags führten. Auf die Beschwerde des gegnerischen Rechtsanwalts erteilte der Vorstand der Schleswig-Holsteinischen Rechtsanwaltskammer durch Bescheid vom 18. Mai 2000 dem Beschwerdeführer eine Rüge wegen Verstoßes gegen § 12 Abs. 1 der Berufsordnung für Rechtsanwälte - im Folgenden: BORA - (BRAK-Mitt 1996, S. 241). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass diese Vorschrift über ihren Wortlaut hinaus nach Sinn und Zweck dahingehend auszulegen sei, dass auch der Fall erfasst werde, dass eine anwaltlich vertretene Partei sich unter Umgehung des eigenen Rechtsanwalts unmittelbar an den Gegenanwalt wende, um mit ihm in der Sache zu verhandeln. Der gegen den Rügebescheid eingelegte Einspruch sowie der Antrag auf anwaltsgerichtliche Entscheidung blieben erfolglos.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Bescheide der Schleswig-Holsteinischen Rechtsanwaltskammer und den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Anwaltsgerichts und rügt die Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG. Zur Begründung führt er aus, dass es an einer gesetzlichen Grundlage für die erteilte Rüge fehle, da § 12 Abs. 1 BORA nur ein auf Eigeninitiative beruhendes Handeln des Rechtsanwalts verbiete. In jedem Fall sei verfassungsrechtlich eine restriktive Auslegung von § 12 Abs. 1 BORA geboten, da es dem gegnerischen Mandanten aus Kostengründen und zur zügigen Erledigung der Streitigkeit möglich sein müsse, unmittelbar Kontakt zum Rechtsanwalt der Gegenpartei aufzunehmen. Den Rechtsanwalt treffe zudem primär die Pflicht, alles zu tun, was im Rahmen seines Auftrags zu Gunsten des eigenen Mandanten möglich sei.
II.
Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde (§ 93 a Abs. 2 BVerfGG) liegen nicht vor.
1. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG).
In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt, dass die anwaltliche Berufsausübung durch den Grundsatz der freien Advokatur gekennzeichnet ist, der einer staatlichen Kontrolle und Bevormundung grundsätzlich entgegensteht. Auch der Vorstand einer Rechtsanwaltskammer darf gemäß Art. 12 Abs. 1 GG in die freie anwaltliche Berufsausübung nur auf Grund eines Gesetzes und durch solche Maßnahmen eingreifen, die materiellrechtlich den Anforderungen an Berufsausübungsregelungen genügen. Im Übrigen unterliegt die anwaltliche Berufsausübung unter der Herrschaft des Grundgesetzes der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des Einzelnen (BVerfGE 50, 16 <29>; 76, 171 <188>).
2. Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
a) Das in § 12 Abs. 1 BORA enthaltene Umgehungsverbot ist mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar.
aa) Allerdings erscheint es zweifelhaft, ob § 59 b Abs. 2 Nr. 8 BRAO - wie dies in der Literatur angenommen wird - als Ermächtigungsgrundlage für diese Satzungsbestimmung in Betracht kommt (vgl. Feuerich/Braun, Bundesrechtsanwaltsordnung, 4. Aufl., § 12 BORA Rn. 1; Hartung/Holl, Anwaltliche Berufsordnung, § 12 BORA Rn. 3). Diese Vorschrift betrifft das berufliche Verhalten zu anderen Rechtsanwälten und zur Rechtsanwaltskammer; sie dient nicht dem Schutz des gegnerischen Mandanten oder der Gewährleistung eines fairen Verfahrens und damit der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege als Gemeinwohlinteresse. Als Rechtsgrundlage für die Satzungsregelung über das Verbot der Umgehung des Gegenanwalts lassen sich aber andere Normen der Bundesrechtsanwaltsordnung heranziehen, insbesondere die Pflicht des Rechtsanwalts, seinen Beruf gewissenhaft auszuüben sowie seine Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege, der sein Handeln auch daran auszurichten hat, dass die Funktionsfähigkeit der staatlichen Rechtsordnung aufrechterhalten bleibt (§ 59 b Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a, § 43 BRAO).
bb) Durch das Verbot, ohne Einwilligung des Rechtsanwalts eines anderen Beteiligten mit diesem unmittelbar Kontakt aufzunehmen oder zu verhandeln, wird der betroffene Rechtsanwalt in seiner Berufsausübung berührt, da er gezwungen wird, Gespräche und Verhandlungen stets mit dem Gegenanwalt zu führen, sofern der gegnerische Anwalt nicht seine Einwilligung zu einem abweichenden Verfahren gibt. Eine solche Regelung ist nur statthaft, soweit sie sich durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls rechtfertigen lässt und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt (BVerfGE 61, 291 <312>; 76, 171 <190 f.>).
Diese Anforderungen erfüllt § 12 Abs. 1 BORA. Das Verbot der Umgehung des Gegenanwalts dient vor allem dem Schutz des anwaltlich vertretenen gegnerischen Mandanten und damit dem Gemeinwohlinteresse an der Funktionsfähigkeit einer geordneten Rechtspflege und an einem fairen Verfahren (vgl. Feuerich/Braun, a.a.O., § 12 BORA Rn. 1; Hartung/Holl, a.a.O., § 12 BORA Rn. 2). Wer einen Rechtsanwalt beauftragt, soll jederzeit und unter allen Umständen dessen Sachverstand bei Verhandlungen mit der Gegenseite nutzen können. Auch bei der Entscheidung darüber, ob im Einzelfall der anwaltliche Beistand entbehrlich erscheint, soll daher zunächst der Rat des eigenen Rechtsanwalts mitsprechen. Allein hierdurch kann gewährleistet werden, dass spätere Konflikte über rechtserhebliche Äußerungen oder taktische Fehler vermieden werden, die zunächst das Vertrauensverhältnis und schließlich die Rechtsprechung belasten.
Der Eingriff in die Berufsausübung durch § 12 Abs. 1 BORA ist auch verhältnismäßig. Er ist geeignet, den angestrebten Zweck - Schutz des gegnerischen Mandanten und Funktionsfähigkeit der Rechtspflege - zu erreichen. Ein milderes Mittel zur Erreichung der mit § 12 Abs. 1 BORA verfolgten Zwecke ist nicht ersichtlich und die Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der sie rechtfertigenden Gründe ergibt, dass die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt ist, da ein Rechtsanwalt durch die Pflicht, sich stets zunächst an den gegnerischen Rechtsanwalt zu wenden, letztlich nur geringfügig belastet wird, während die mit der Regelung verfolgten Zwecke erhebliches Gewicht haben.
b) Auch die angegriffenen Entscheidungen sind mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Auslegung und Anwendung des Gesetzesrechts Aufgabe der Fachgerichte und können vom Bundesverfassungsgericht - abgesehen von Verstößen gegen das Willkürverbot - nur darauf überprüft werden, ob sie Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Das ist der Fall, wenn die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung der Norm die Tragweite des Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt (BVerfGE 85, 248 <257 f.>).
Gemessen an diesen Grundsätzen verstoßen die angegriffenen Entscheidungen nicht gegen Art. 12 Abs. 1 GG. Sie berücksichtigen die Tragweite der Berufsausübungsfreiheit hinreichend, auch soweit im Wege der erweiternden Auslegung das Umgehungsverbot auf eine vergleichbare Konstellation ausgedehnt wird. Der Beschwerdeführer wird auch nicht unzumutbar in seiner grundrechtlichen Freiheit beschränkt. Vielmehr wird von ihm lediglich verlangt, dass er eine Verbindungsaufnahme durch den anwaltlich vertretenen gegnerischen Mandanten ablehnt, indem er ein etwaiges Telefonat unter Hinweis auf das Verbot der Umgehung des Gegenanwalts beendet und Schriftverkehr gegebenenfalls an den gegnerischen Mandanten oder dessen Rechtsanwalt zurücksendet.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Dezember 1999 (BVerfGE 101, 312) zur Unvereinbarkeit von § 13 BORA mit Art. 12 Abs. 1 GG, da § 13 BORA einen anderen Normzweck verfolgte. Diese Vorschrift diente vornehmlich Kollegialitätsinteressen, während bei § 12 BORA neben der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege der Schutz des gegnerischen Mandanten vor der Abgabe rechtlich nachteiliger Erklärungen ohne vorherige Beratung im Vordergrund steht (vgl. Feuerich/Braun, a.a.O., § 12 BORA Rn. 1 und § 13 BORA Rn. 1 f.).
3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
BVerfG:
Beschluss v. 12.07.2001
Az: 1 BvR 2272/00
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