Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen:
Urteil vom 3. Februar 2005
Aktenzeichen: L 9 AL 85/04
(LSG Nordrhein-Westfalen: Urteil v. 03.02.2005, Az.: L 9 AL 85/04)
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 12. März 2004 geändert. Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe der zu erstattenden Kosten des Widerspruchsverfahrens.
Der Kläger bezog ab 01.05.2003 Arbeitslosengeld. Die Beklagte hob diese Bewilligung mit Bescheid vom 28.08.2003 auf, weil sie im Hinblick auf einen Postrücklauf der Auffassung war, der Kläger sei nicht verfügbar gewesen. Dieser erhob durch seinen Bevollmächtigten am 03.09.2003 Widerspruch, mit dem er angab, er wohne immer noch unter derselben Adresse wie bisher. Nachdem die Beklagte festgestellt hatte, dass sie nicht die aktuelle Anschrift des Klägers verwandt hatte, half sie dem Widerspruch mit Bescheid vom 06.10.2003 ab und hob den angefochtenen Bescheid auf. Sie verpflichtete sich zudem, die im Widerspruchsverfahren entstandenen Kosten dem Grunde nach zu erstatten.
Der Bevollmächtigte machte daraufhin einen Gesamtbetrag von 626,40 Euro geltend. Er setzte hierbei u.a. die Rahmengebühr nach § 116 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO) mit 520,00 Euro fest. Die Beklagte bewilligte ihm mit Bescheid vom 21.10.2003 einen Erstattungsbetrag in Höhe von 296,96 Euro. Sie berücksichtigte in diesem Zusammenhang eine Rahmengebühr nach § 116 Abs. 1 BRAGO in Höhe von nur 236,00 Euro mit der Begründung, im Widerspruchsverfahren seien lediglich 2/3 der in Verfahren vor den Sozialgerichten anfallenden Rahmengebühr erstattungsfähig. Hiervon ausgehend könne der Kläger lediglich die Erstattung der Mittelgebühr beanspruchen, da es sich weder um eine schwierige noch um eine umfangreiche Streitsache gehandelt habe.
Der Kläger erhob gegen diesen Bescheid am 30.10.2003 Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.11.2003 unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 07.12.1983 - 9 a RVs 5/82 - zurückwies. Für eine Vertretung im Vorverfahren, an das sich kein gerichtliches Verfahren angeschlossen habe (isoliertes Vorverfahren), gelte der Gebührenrahmen des § 116 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BRAGO nur in einer auf 2/3 ermäßigten Höhe. Eine Erhöhung des Gebührenrahmens komme vorliegend auch nicht nach § 116 Abs. 4 BRAGO in Betracht. Das BSG habe insoweit entschieden (Beschluss vom 13.12.1994 - 9 BVs 48/94 -), dass diese Gebührenerhöhung von dem Bevollmächtigten ein besonderes Bemühen um eine außergerichtliche Erledigung des Rechtsstreits verlange, da er regelmäßig verpflichtet sei, das Vorverfahren gewissenhaft, sorgfältig und gründlich zu betreiben. Diese normale Tätigkeit werde durch eine Gebühr innerhalb des auf 2/3 herabgesetzten Rahmens des § 116 Abs. 1 BRAGO vollständig abgegolten. Da die Beteiligten keinen Vergleich im Widerspruchsverfahren abgeschlossen hätten, entfalle eine derartige Erhöhung (abgesandt am 20.11.2003).
Hiergegen richtete sich die am 02.12.2003 erhobene Klage. Der Kläger ist zu deren Begründung weiterhin bei seiner Auffassung verblieben, dass der Gebührenrahmen nach §116 Abs. 4 BRAGO zu erhöhen sei, weil er erfolgreich Widerspruch eingelegt und der Bevollmächtigte an der Erledigung der Streitsache mitgewirkt habe.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid vom 21.10.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2003 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, weitere 136,88 Euro zu erstatten.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht hat der Klage mit Urteil vom 12.03.2004 stattgegeben. Es hat die Beklagte zur Zahlung des beantragten Differenzbetrages verurteilt und ausgeführt, nach der Rechtsprechung des BSG und der herrschenden Auffassung in der Literatur erfordere eine Erhöhung des Gebührenrahmens nach § 116 Abs. 4 BRAGO zwar ein besonderes Tätigwerden des Rechtsbeistandes über das Einlegen eines Widerspruchs und dessen Begründung hinaus. Die insoweit weitergehende anwaltliche Tätigkeit müsse sodann zu einer gütlichen Erledigung des Streits zwischen den Beteiligten geführt haben, wie z.B. durch Abschluss eines Vergleichs, den der Bevollmächtigte durch seinen vermehrten Einsatz herbeigeführt habe. Das Gericht könne dieser Auffassung jedoch nicht folgen, da sie bereits nicht mit dem Wortlaut des § 24 BRAGO vereinbar sei. Der Vorschrift sei nicht zu entnehmen, dass nur den Besonderheiten des Verwaltungsverfahrens in den Fällen Rechnung getragen werden solle, in denen eine Streitbeilegung nur der Form nach, nicht aber nach ihrem Inhalt in anderer Weise als durch Vergleich erfolge. Die Erledigungsgebühr falle vielmehr auch dann an, wenn sich die Rechtssache ganz nach Zurücknahme des Verwaltungsakts erledigt habe. Die Auffassung des BSG und der herrschenden Meinung führe dazu, dass im Falle einer vollständigen Zurücknahme des angefochtenen Verwaltungsaktes durch die Beklagte eine Gebührenerhöhung nach §§ 116 Abs. 4, 24 BRAGO praktisch nicht mehr anfallen könne. Denn der Bevollmächtigte, dessen Mandant voll obsiege, könne keine über die Begründung des Widerspruchs bzw. der Klage hinausgehende Tätigkeit mehr entfalten, die ein besonderes Bemühen im Hinblick auf eine gütliche Erledigung des Rechtsstreits darstelle. Darüber hinaus könne die herrschende Meinung zu dem Ergebnis führen, dass Prozessbevollmächtigte bewusst einen überhöhten Klageantrag, stellten, von dem sie abweichen und einen Vergleich abschließen könnten, um die Rahmengebühr durch die Erledigungsgebühr zu erhöhen. Dieses stelle eine unbillige Konsequenz der Rechtsprechung des BSG dar. Das Sozialgericht hat die Berufung zugelassen.
Gegen das am 29.03.2004 zugestellte Urteil richtet sich die am 29.04.2004 eingelegte Berufung der Beklagten. Sie ist weiterhin der Meinung, dass entsprechend der ständigen Rechtsprechung des BSG und der einhelligen Literaturmeinung keine zusätzliche Erledigungsgebühr für die anwaltliche Tätigkeit im Widerspruchsverfahren in Betracht komme, wenn lediglich ordnungsgemäß Widerspruch erhoben und dieser begründet worden sei. Diese Tätigkeit sei durch den normalen Gebührenrahmen abgedeckt. Es müsse vielmehr eine weitere, zusätzliche anwaltliche Tätigkeit hinzutreten, die zur gütlichen Erledigung des Rechtsstreits geführt habe. Das sei vorliegend gerade nicht der Fall gewesen, weil der Bevollmächtigte des Klägers nur den Widerspruch erhoben und ihn damit begründet habe, dass der Kläger noch unter seiner alten Anschrift erreichbar sei. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts seien durchaus auch Fälle denkbar, in denen der Bevollmächtigte an der Sachverhaltsaufklärung mitgewirkt und somit im Sinne der §§ 116 Abs. 4, 24 BRAGO die Erledigung des Vorverfahrens herbeigeführt habe. Hierbei handele es sich dann um ein zusätzliches Mitwirken des Bevollmächtigten. Im Falle einer missbräuchlichen Werterhöhung des eingeklagten Anspruchs sei entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ferner zu prüfen, ob es sich hierbei um eine willkürliche Antragstellung gehandelt habe und die Auslagen des Anwalts daher nicht notwendig gewesen seien, so dass eine Kürzung vorzunehmen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 12.03.2004 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist darauf hin, dass er nicht nur zwei Schriftsätze erstellt habe, sondern auch im Auftrag des Klägers Widerspruch eingelegt und diesen begründet habe.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze sowie der Verwaltungsakten der Beklagten - Kundennr.: 000 - Bezug genommen, die der Entscheidungsfindung zugrundegelegen haben.
Gründe
Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung.
Die aufgrund der Zulassung zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die weitere Kostenerstattung von 136,88 Euro.
Soweit das Sozialgericht von der Rechtsprechung des BSG und der herrschenden Meinung in der Literatur zur Anwendung der §§ 116 Abs. 4, 24 BRAGO und der Bewilligung einer Erledigungsgebühr ausgegangen ist, sieht der Senat von einer erneuten Darstellung ab, weil das Sozialgericht diese zutreffend wiedergegeben hat. Ergänzend wird zu der ständigen Rechtsprechung des BSG, dass die Erhöhung des Gebührenrahmens eine über die ordnungsgemäße Einlegung des Widerspruchs und dessen Begründung hinausgehende anwaltliche Tätigkeit zur gütlichen Beilegung des Streits erfordert, auf die weiteren Entscheidungen des BSG vom 22.02.1993- 14 b/4REg 12/91 - (BSG SozR 3 - 1930 § 116 Nr. 4) und vom 12.06.1996 - 5 RJ 86/95 - (BSG SozR 3 - 1930 § 116 Nr. 9) hingewiesen. Der erkennende Senat folgt nach erneuter Prüfung der Sach- und Rechtslage weiterhin dieser Rechtsprechung und der herrschenden Meinung. Die Ausführungen des Sozialgerichts überzeugen nicht. Sie werden weder der Entstehungsgeschichte der Norm nach ihrem Sinn und Zweck gerecht.
Soweit das Sozialgericht meint, dass der Wortlaut der Vorschriften bereits der herrschenden Meinung entgegenstehe, berücksichtigt es nicht ausreichend die Auslegungsgrundsätze einer Rechtsnorm. Danach ist nicht allein der Wortlaut einer Regelung maßgebend, wobei vorliegend allerdings bereits der reine Wortlaut des "Mitwirkens an der Erledigung" in § 24 BRAGO dafür spricht, dass nicht eine lediglich normale, ordnungsgemäße anwaltliche Tätigkeit des Rechtsmitteleinlegens honoriert werden soll. Wesentliche Grundlage einer Rechtsnorm ist neben dem Wortlaut insbesondere zur Feststellung ihres Anwendungs- und Verständnisumfangs auch der gesetzgeberische Wille bzw. die Motive des Gesetzgebers, die anhand der Entstehungsgeschichte der Norm und vor allem den hierzu vom Gesetzgeber gegebenen Begründungen zu entnehmen sind. Insoweit heißt es zur Einführung der Erweiterung des Gebührenrahmens im § 116 Abs. 4 BRAGO durch das Gesetz zur Änderung der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte in der BT-Drucksache 11/6715 (Buchst. B, zu Art. 1 Nr. 1, 2 - § 113 a Abs. 2, 116 BRAGO), dass durch die Einführung der Regelung die anwaltliche Mitwirkung beim Abschluss von Vergleichen bzw. bei vergleichbarer Erledigung der Rechtssache honoriert werden solle. Für einen entsprechenden Einsatz gebe es in sozialrechtlichen Angelegenheiten anders als in anderen vergleichbaren Bereichen keine besondere Gebühr. Da dies kein ausreichender Anreiz sei, die Beilegung eines Rechtsstreits ohne streitige gerichtliche Entscheidung zu fördern, sei es angemessen, die darauf gerichteten anwaltlichen Bemühungen auch im sozialgerichtlichen Verfahren besonders zu honorieren. Diese Gesetzesbegründung lässt somit deutlich erkennen, dass mit dem Wortlaut "Mitwirken an einer Erledigung" in § 24 BRAGO nicht nur das normale ordnungsgemäße Betreiben des Verfahrens honoriert werden soll, sondern gerade ein darüber hinaus gehendes Tätigwerden des Anwalts mit der Zielrichtung, es nicht zum Klageverfahren kommen zu lassen. Dieses bedarf zwangsläufig eines zusätzlichen Tätigwerdens des Rechtsanwalts über die Einlegung des Widerspruchs und dessen Begründung hinaus, wie dies unmissverständlich in dem gesetzgeberischen Motiv der Honorierung einer dem Abschluss eines Vergleichs vergleichbaren Erledigung sowie der Förderung der Beilegung eines Rechtsstreits ohne streitige gerichtliche Entscheidung zum Ausdruck kommt.
Sämtlichen in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe ist gemein ein zusätzliches, über die normale Tätigkeit herausgehendes anwaltliches Bemühen, das gezielt auf den Verfahrensabschluss gerichtet ist, wie das in aller Regel beim Abschluss eines Vergleichs erforderlich ist. Dieser erfordert nämlich das besondere, über die "normale" Tätigkeit hinausgehende Bemühen, als der Mandant im Regelfall überzeugt werden muss, von seiner ursprünglichen Zielsetzung abzuweichen und nachzugeben, was häufig nur kraft anwaltlichen Rats und - aus Sicht des Prozessgerichts - mit anwaltlicher Unterstützung gelingen mag. Dementsprechend hat das BSG in den oben zitierten Entscheidungen in Auslegung des Wortlauts unter Berücksichtigung das gesetzgeberischen Willens dargelegt, dass es nicht ausreicht, wenn der Anwalt nur die Erledigungserklärung abgibt. Der erkennende Senat sieht keinen Grund, hiervon abzuweichen.
Auch die vom Sozialgericht befürchtete mögliche missbräuchliche Erhöhung des Klageantrags führt zu keiner anderen Auffassung. Dabei berücksichtigt das Sozialgericht nicht ausreichend, dass mit der Klageschrift zunächst nur ein Antrag angekündigt wird, die kostenrechtlich relevante Antragstellung jedenfalls im Prozess erst nach Protokollierung erfolgt und es dann im konkreten Einzelfall Sache des Gerichts ist, im Rahmen der Kostenentscheidungen dem vom Sozialgericht befürchteten Missbrauch, dessen reales Vorkommen empirisch zudem so kaum zu belegen sein dürfte, entgegenzuwirken. Zudem ist es inkonsequent, einen Gebührenrahmen von vorne herein zu erhöhen, um einen im Einzelfall befürchteten Missbrauch vorzubeugen.
Darüber hinaus weist die Beklagte zu Recht darauf hin, dass es im Falle des Verdachts einer künstlichen Streitwerterhöhung mit dem Ziel, einen Vergleichsabschluss zu ermöglichen, Sache der kostenfestsetzenden Stelle ist, die beantragte Gebührenerstattung auf ihre Angemessenheit zu prüfen und ggfls. eine Kürzung vorzunehmen.
Schließlich zeigen genannten Entscheidungen des BSG, dass für die Anwendung des § 116 Abs. 4 BRAGO durchaus Fälle verbleiben, in denen die Erhöhung der Rahmengebühr vorzunehmen ist. Denn aus den Sachverhaltsdarstellungen ergibt sich, dass dort die anwaltliche Tätigkeit über eine alleinige Einlegung des Widerspruchs und dessen Begründung hinausgegangen und die entsprechende Gebührenerhöhung durch eine folgende einvernehmliche Lösung daher gerechtfertigt gewesen ist. Wegen der anderen Sachlage kommt vorliegend die Erhöhung jedoch nicht in Betracht. Hier beschränkte sich die anwaltliche Tätigkeit allein auf die Mitteilung der Tatsache, dass sich die Anschrift des Klägers gerade nicht geändert hatte. Es fällt vor diesem konkreten Hintergrund schon schwer, dies bereits als normale, durchschnittliche anwaltliche Tätigkeit zu begreifen.
Soweit im Beschluss des Senats vom 29.03.2004 - L 9 B 62/03 AL - ansatzweise eine von den hier gemachten Darlegungen abweichende Auffassung gesehen werden könnte, hält der Senat daran ausdrücklich nicht fest.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).
LSG Nordrhein-Westfalen:
Urteil v. 03.02.2005
Az: L 9 AL 85/04
Link zum Urteil:
https://www.admody.com/urteilsdatenbank/e6996c88b8b8/LSG-Nordrhein-Westfalen_Urteil_vom_3-Februar-2005_Az_L-9-AL-85-04