Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen:
Beschluss vom 29. Januar 2008
Aktenzeichen: L 1 B 35/07 AS
(LSG Nordrhein-Westfalen: Beschluss v. 29.01.2008, Az.: L 1 B 35/07 AS)
Tenor
Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 24.04.2007 geändert. Die dem Beschwerdeführer zu erstattenden außergerichtlichen Kosten werden auf 216,92 Euro festgesetzt. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Kosten des Beschwerdeverfahrens, für das Gebühren nicht erhoben werden, sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Streitig ist die Höhe der erstattungsfähigen Rechtsanwaltsvergütung für ein von der Antragstellerin vor dem Sozialgericht geführtes Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.
Die Antragsgegnerin bewilligte der Antragstellerin unter Anrechnung des Einkommens ihres Lebenspartners Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) in Höhe von monatlich 354,44 Euro einschließlich eines befristeten Zuschlags nach § 24 SGB II von 254,00 Euro. Den Zuschlag zweigte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 21.12.2005 ab. Auf den hiergegen von der Antragstellerin bei dem Sozialgericht Dortmund gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruch erteilte die Antragsgegnerin ein Anerkenntnis (S 32 AS 28/06 ER).
Sodann teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass ab 01.04.2006 ein Betrag von 254,00 Euro abgezweigt werde (Bescheide vom 08.03.2006 und vom 16.03.2006). Mit anwaltlichen Schreiben vom 20.03.2006 erhob die Antragstellerin Widerspruch und beantragte zeitgleich bei dem Sozialgericht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs. Das Sozialgericht bewilligte der Antragstellerin Prozesskostenhilfe und stellte fest, dass der Widerspruch vom 20.03.2006 gegen den Bescheid vom 08.03.2006 aufschiebende Wirkung habe (Beschluss vom 12.04.2006).
Im Folgenden wies die Antragsgegnerin den Widerspruch zurück und ordnete mit dem Widerspruchsbescheid vom 11.05.2006 die sofortige Vollziehung an. Hiergegen erhob die Antragstellerin am 01.06.2006 Klage (S 32 AS 240/06) und beantragte gleichzeitig, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (S 32 AS 244/06 ER). Das Sozialgericht ordnete die aufschiebende Wirkung der Klage an (Beschluss vom 24.08.2006); die hiergegen erhobene Beschwerde wurde vom Landessozialgericht zurückgewiesen (Beschluss vom 08.01.2007 - Az.: L 19 B 97/06 AS ER).
Der Beschwerdeführer hat mit Schreiben vom 22.05.2006 seine Prozesskostenhilfeliquidation übersandt. Er hat die Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 Vergütungsverzeichnis zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (VV RVG) mit 400,00 Euro in Ansatz gebracht und zuzüglich Auslagenpauschale sowie Umsatzsteuer die Festsetzung eines Gesamtbetrages von 487,20 Euro beantragt. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des Sozialgerichts hat die Mittelgebühr nach Nr. 3103 VV RVG in Höhe von 170,00 Euro zugrunde gelegt und diese nach Kürzung auf 2/3 mit 113,00 Euro angesetzt. Zuzüglich Auslagenpauschale und Umsatzsteuer hat er insgesamt einen Betrag von 154,28 Euro festsetzt. Die hiergegen eingelegte Erinnerung hat das Sozialgericht zurückgewiesen (Beschluss vom 24.04.2007).
Gegen den ihm am 03.05.2007 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer am 08.05.2007 Beschwerde erhoben, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Nichtabhilfebeschluss vom 18.06.2007).
II.
Der Senat und nicht der an sich gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 33 Abs. 8 Satz 1 RVG zuständige Berichterstatter als Einzelrichter entscheidet über die Beschwerde, da er der Rechtssache wegen der Maßstäbe der Kostenfestsetzung in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und der Frage der Zulässigkeit einer Beschwerde gegen den eine Erinnerung gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss zurückweisenden Beschluss des Sozialgerichts grundsätzliche Bedeutung beimisst (vgl. § 56 Abs. 2 Satz 1 RVG in Verbindung mit § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG).
Die Beschwerde ist gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG zulässig, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 Euro übersteigt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 178 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), wonach gegen Entscheidungen des ersuchten oder beauftragten Richters oder des Urkundsbeamten binnen eines Monats nach Bekanntgabe das Gericht angerufen werden kann, das endgültig entscheidet. Zwar erfasst § 178 Satz 1 SGG seinem Wortlaut nach auch Kostenfestsetzungsbeschlüsse des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts. Im Hinblick auf das Prozesskosten verweist § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG allerdings auf die für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten einschlägigen Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO). Die Vorschrift trifft damit für Fälle wie dem vorliegenden eine derjenigen des § 178 SGG vorgehende, weil speziellere Regelung. Vom Verweis in § 73a Abs. 1 SGG werden nicht allein die Bestimmungen der §§ 114 ff. ZPO erfasst, sondern auch die Regelungen über die Festsetzung der aus der Staatskasse zu zahlenden Vergütungen und Vorschüsse gemäß §§ 45 ff. RVG (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW), Beschluss vom 09.08.2007 - Az.: L 20 B 91/07 AS, sozialgerichtsbarkeit.de; Keller/Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, § 73a Rn. 13 f. , Straßfeld in: Jansen, SGG, 2. Auflage 2005, § 197 Rn. 13). Der abweichenden Auffassung (LSG Niedersachsen, Beschlüsse vom 28.12.2006 - Az.: L 8 B 4/06 SO SF und vom 05.09.2007 - Az.: L 13 B 2/06 AS SF; LSG Berlin, Beschluss vom 28.02.2005 - Az.: L 9 B 166/02 KR, Juris) folgt der Senat insoweit nicht. Die dort vertretene Auffassung, das RVG sei für Fragen der Statthaftigkeit von Rechtsbehelfen im sozialgerichtlichen Verfahren nur das allgemeinere Gesetz und könne daher in seinem verfahrensrechtlichen Teil nicht eine Gebührennachprüfungsinstanz schaffen, die es als solche in der Sozialgerichtsbarkeit nicht gebe, überzeugt wegen des in § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG geregelten Verweises auf die für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten maßgebenden Vorschriften nicht. Dem kann nach Überzeugung des Senats nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass auch § 197 Abs. 2 SGG keine Beschwerdemöglichkeit im Kostenfestsetzungsverfahren gegen den unterlegenen Verfahrensgegner eröffne. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass § 197 (nur) das Verhältnis der Beteiligten zueinander betrifft, jedoch nicht im Verfahren zur Festsetzung der Prozesskostenhilfe anwendbar ist (Straßfeld in Jansen, SGG, 1. Auflage 2003, § 197, Rn. 3). Abgesehen davon zielt der durch § 56 RVG zum Ausdruck gebrachte gesetzgeberische Wille ersichtlich darauf ab, das Kostenfestsetzungsverfahren hinsichtlich der aus der Staatskasse zu zahlenden Vergütungen und Vorschüsse trotz unterschiedlicher Prozessordnungen für Verfahren nach dem SGG und der ZPO einheitlich zu regeln (LSG NRW, Beschluss vom 09.08.2007 - Az.: L 20 B 91/07 AS, sozialgerichtsbarkeit.de; vgl. auch Schnapp in Anwaltkommentar RVG, 3. Auflage 2006, § 56, Rn. 16). Diesem Regelungszweck liefe es zuwider, Ausnahmen in einzelnen Prozessordnungen zuzulassen.
In der Sache ist die Beschwerde teilweise begründet.
Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG sind bei der Bestimmung der Rechtsanwaltsvergütung alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Bedeutung der Angelegenheit, Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers/Antragstellers zu berücksichtigen. Nach § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG ist bei der Bemessung im Falle von Rahmengebühren, die sich nicht nach dem Gegenstandswert richten, das Haftungsrisiko zu berücksichtigen. Die Bestimmung der Gebühren liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Anwalts. Unbilligkeit ist bei der Bemessung dann anzunehmen, wenn die durch den Rechtsanwalt bestimmten Gebühren die nach Ansicht des Gerichts angemessenen um mehr als 20% übersteigen (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 26.02.1992 -Az.: 9aRVs 3/90 zu § 12 BRAGO, Behindertenrecht 1992, 142 bis 144).
Entgegen der vom Sozialgericht vertretenen Auffassung ist der Senat der Überzeugung, dass im Hinblick auf die Verfahrensgebühr nicht Nr. 3103 VV RVG, sondern Nr. 3102 VV RVG in Ansatz zu bringen ist. Denn dem am 20.03.2006 bei dem Sozialgericht eingegangenen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 20.03.2006 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 08.03.2006 ist eine Tätigkeit des Beschwerdeführers im Widerspruchsverfahren nicht vorausgegangen. Die Antragstellerin hat vielmehr zeitgleich Widerspruch erhoben und den Antrag gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG gestellt. Dem steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer bereits in dem Widerspruchsverfahren gegen den (Abzweigungs-) Bescheid vom 21.12.2005 tätig war. Denn hierbei hat es sich um ein anderes Verfahren und somit auch um eine andere Angelegenheit gehandelt.
Die Verfahrensgebühr ist ausgehend von den obigen Maßgaben aus dem in Nr. 3102 VV RVG aufgeführten Gebührenrahmen zu bestimmen. Danach liegt die Mindestgebühr bei 40,00 Euro und die Höchstgebühr bei 460,00 Euro. Die Mittelgebühr von 250,00 Euro ist vergleichbar der zu § 116 Abs. 1 Satz 1 BRAGO geübten Praxis anzusetzen, wenn sich die Leistung im Vergleich zur Gesamtheit der sozialgerichtlichen Verfahren insgesamt als durchschnittlich erweist, mithin als "Normalfall" abbildet. Ein solcher "Normafall" lag hier vor, so dass grundsätzlich die Mittelgebühr in Ansatz zu bringen war. Diese war allerdings auf 2/3 zu reduzieren, da der Beschwerdeführer in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes beigeordnet war.
Zwar sind die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Antragstellerin aufgrund des Bezugs existenzsichernder Leistungen als unterdurchschnittlich zu bewerten. Dieser Gesichtspunkt rechtfertigt es jedoch für sich genommen nicht, die Mittelgebühr zu unterschreiten. Denn in Konstellationen der vorliegenden Art sind stets angespannte Einkommens- und Vermögensverhältnisse gegeben. Ein Rechtsanwalt, der im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet worden ist, könnte bei anderer Betrachtungsweise nicht die Gebühr erhalten, die bei Vorliegen der weiteren Bemessungskriterien gerechtfertigt wäre (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 31.05.2007 - Az.: L 10 B 6/07 SB). Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit waren allerdings ebenfalls unterdurchschnittlich, da lediglich zwei kurze Schriftsätze zu fertigen waren, mit denen auf den unterhaltsrechtlichen Selbstbehalt und prozessuale Probleme Bezug genommen worden ist. Im Hinblick auf die tatsächlichen Umstände ist zu berücksichtigen, dass keine Beweisaufnahme durchgeführt werden musste und somit eine anwaltliche Beweiswürdigung nicht erforderlich war. Anhaltspunkte, die für ein erhöhtes Haftungsrisiko (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 29.01.2007 - Az.: L 1 AL 54/06, sozialgerichtsbarkeit.de) des Beschwerdeführers sprechen könnten, sind ebenfalls nicht ersichtlich. Demgegenüber erweist sich die Bedeutung der Angelegenheit für die Antragstellerin als überdurchschnittlich, da ihr (unter Anrechnung des Einkommens ihres Lebensgefährten) einschließlich des befristeten Zuschlags nach § 24 SGB II lediglich Leistungen in Höhe von monatlich 355,44 Euro zuerkannt worden waren, von denen die Antragsgegnerin ab 01.04.2006 einen Betrag von 254,00 Euro monatlich abzweigen wollte. Angesichts dessen hatte das Verfahren für die Antragstellerin eine existenzielle Bedeutung, die es im Ergebnis als gerechtfertigt erscheinen lässt, von der Mittelgebühr auszugehen. Unter Berücksichtigung der oben aufgezeigten Aspekte ergeben sich jedoch keine durchgreifenden Anhaltspunkte, die eine Erhöhung der Mittelgebühr rechtfertigen könnten.
Die Kürzung der Mittelgebühr auf 2/3 rechtfertigt sich hier vor dem Hintergrund, dass es sich um ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gehandelt hat. Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sind grundsätzlich von vornherein lediglich auf eine vorläufige Regelung gerichtet, und zwar zeitlich begrenzt regelmäßig durch den Eingang des Antrags bei Gericht und sodann auch nur für einen begrenzten Zeitraum. Dies gilt auch im vorliegenden Fall und zeigt sich insbesondere daran, dass die Antragsgegnerin den Widerspruch gegen den Abzweigungsbescheid vom 08.03.2006 mit Widerspruchsbescheid vom 11.05.2006 zurückgewiesen und gleichzeitig die sofortige Vollziehung angeordnet hat. Eine Sachlage, bei der der gerichtlichen Eilentscheidung eine die Hauptsache vorwegnehmende Bedeutung zukam und im Rahmen derer eine vollständige Aufklärung des Sachverhalts oder eine abschließende Prüfung der Sach- und Rechtslage durchzuführen war, lag nicht vor.
Insgesamt ergibt sich damit ein zu liquidierender Betrag von 216,92 Euro, der sich wie folgt errechnet:
Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV RVG (2/3 der Mittelgebühr): 167,00 Euro Auslagen für Post und Telekommunikation nach Nr. 7002 VV RVG: 20,00 Euro Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG - 16 %: 29,92 Euro
Die Kostenentscheidung beruht auf § 56 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVG.
Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 56 Abs. 2 Satz 1 RVG in Verbindung mit § 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).
LSG Nordrhein-Westfalen:
Beschluss v. 29.01.2008
Az: L 1 B 35/07 AS
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