Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg:
Beschluss vom 2. Dezember 2009
Aktenzeichen: OVG 11 S 32.09
(OVG Berlin-Brandenburg: Beschluss v. 02.12.2009, Az.: OVG 11 S 32.09)
1. Ein Webhosting-Unternehmen, das seinen Kunden die eigenverantwortliche Einrichtung von E-Mail-Postfächern ermöglicht, dürfte nicht nach § 113a TKG zur Vorratsdatenspeicherung verpflichtet sein.
2. Ein solches Unternehmen kann beantragen, der Bundesnetzagentur Zwangsmaßnahmen und Sanktionen zur Erzwingung einer Vorratsdatenspeicherung einstweilen zu untersagen, wenn die mit einer Vorratsdatenspeicherung verbundenen Kosten das Unternehmen zur sofortigen Geschäftsausgabe zwingen würden.
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 20. Mai 2009 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Beschwerde trägt die Antragsgegnerin.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 40.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin wendet sich gegen den Beschluss der 27. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin vom 20. Mai 2009, mit dem ihr im Wege einstweiliger Anordnung untersagt wurde, vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren VG 27 K 135.09 gegen die Antragstellerin Maßnahmen wegen des Unterlassens der Vorhaltung von Anlagen zur Vorratsdatenspeicherung einzuleiten.
Die Antragstellerin stellt als Webhosting-Unternehmen für Unternehmen und Privatper-sonen Speicherplatz auf Webservern mit Internetanbindung zur Verfügung. Die von ihr angebotenen Webhosting-Pakete umfassen dabei neben der Betreuung der Domains auch bestimmte Service-Leistungen im Zusammenhang mit der Einrichtung von Postfächern durch die Kunden zur Versendung von E-Mails über die zur Verfügung gestellten Server. Hierbei erfolgt die Einrichtung des dazu notwendigen Postfachs, der Kennung und die Aktivierung sowie der Betrieb durch den Kunden selbst. Allerdings stellt die Antragstellerin dafür eine besondere Konfigurationssoftware zur Verfügung, die insbesondere die Übersicht über das Einloggen in den Benutzerzugang, eine Zugangsanalyse und -auswertung und die Rechnungs- und Provisionsverwaltung ermöglicht bzw. erleichtert.
Die Antragstellerin erzielte im Jahre 2008 bei Gesamtbetriebseinnahmen von etwa 1... Euro einen Gewinn von ca. 1... Euro.
Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 TKG vom 22. Juni 2004 sind - wie schon nach der Vorgängerregelung in § 88 Abs. 1 TKG 1996 - die Betreiber von Telekommunikationsanlagen, mit denen Telekommunikationsdienste - TK-Dienste - für die Öffentlichkeit erbracht werden, verpflichtet, €auf eigene Kosten€ technische Einrichtungen zur Umsetzung gesetzlich vorgesehener Maßnahmen zur Überwachung der Telekommunikation vorzuhalten und organisatorische Maßnahmen für deren unverzügliche Umsetzung zu treffen. Anders als für im Einzelfall angeordnete und durchgeführte Überwachungen, für die Entschädigungsleistungen nach den Vorschriften des Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetzes (JVEG) gewährt werden, wird für die - streitgegenständlichen - sogenannten Anschaffungs- und Bereithaltungskosten (Investitionskosten) keine Entschädigung gewährt. Hieran hat sich auch durch die Aufhebung der - zuvor allerdings nicht genutzten - Verordnungsermächtigung in § 110 Abs. 9 TKG, der diesen Ausschluss in seinem Satz 2 ausdrücklich regelte, durch das TK-Entschädigungs-Neuordnungsgesetz vom 29. April 2009 (BGBl. I S. 994), das am 1. Juli 2009 in Kraft getreten ist, nichts geändert.
Durch das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG vom 21. Dezember 2007 (BGBl. I 3198) - TK-Neuregelungsgesetz - wurden u.a. die §§ 113 a und 113 b TKG neu in dieses Gesetz aufgenommen.
Gemäß § 113 a Abs. 1 TKG hat derjenige, der öffentlich zugängliche TK-Dienste für Endnutzer erbringt, von ihm bei der Nutzung erzeugte oder verarbeitete Verkehrsdaten - diese sind in den Absätzen 2 bis 5 für die Anbieter öffentlich zugänglicher Telefondienste, Anbieter von Diensten der elektronischen Post und Internetzugangsdienste im Einzelnen aufgezählt und beinhalten u.a. Nummern und Kennung der beteiligten Anschlüsse oder der Endeinrichtung, Beginn und Ende der jeweiligen Verbindung nach Datum und Uhrzeit sowie übermittelte Datenmengen, nicht aber Inhalte der elektronischen Kommunikation - für sechs Monate zu speichern bzw. im Falle nicht eigener Erzeugung oder Verarbeitung der Daten die Speicherung sicherzustellen und den Verantwortlichen zu benennen.
In § 113 b TKG ist die Übermittlungspflicht auf Anforderung an die zuständigen Stellen zur Verfolgung von Straftaten, zur Abwehr von erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, des Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes geregelt.
Das TK-Neuregelungsgesetz ist am 1. Januar 2008 in Kraft getreten. Für Anbieter von Internetzugangsdiensten, Diensten der elektronischen Post oder Internettelefondiensten gelten die Pflichten nach § 113 a TKG erst seit dem 1. Januar 2009; eine bußgeldpflichtige Ordnungswidrigkeit stellt der Verstoß gegen die Speicherungspflicht oder die dies sicherstellende Pflicht ebenfalls erst seit dem 1. Januar 2009 dar (§ 150 Abs. 12 b TKG).
Die Antragstellerin hat am 17. April 2009 beim Verwaltungsgericht Berlin Feststellungsklage (VG 27 K 135.09) mit dem Antrag erhoben festzustellen, dass sie zur Vorhaltung der technischen Anlagen zur Vorratsdatenspeicherung nicht verpflichtet, hilfsweise nicht verpflichtet sei, diese Verpflichtung entschädigungslos umzusetzen. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen geltend gemacht, bisher habe sie aus technischen Gründen - eine Identifizierung sei bei Verwendung eines Programms zur Versendung mehrerer E-Mails wegen einer identischen IP-Adresse oftmals gar nicht möglich -, aber auch aus finanziellen Gründen überhaupt keine Verkehrsdaten ihrer Kunden gespeichert gehabt. Auch seien die Investitionskosten mit ca. 6... Euro und die laufenden jährlichen Kosten mit ca. 1... Euro - insoweit werde auf ein beigefügtes Kostenangebot verwiesen - derart hoch, dass sie zur sofortigen Geschäftsaufgabe gezwungen wäre (eidesstattliche Versicherung des Unternehmensinhabers vom 16. April 2009). In der Sache sei von der Verfassungswidrigkeit der Regelung im Hinblick auf Art. 12, 14 und 3 GG auszugehen. Über diese Klage ist bisher nicht entschieden.
Auf den vorliegenden Antrag der Antragstellerin, der Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu untersagen, vor einer Entscheidung der Kammer über die Klage Maßnahmen wegen des Unterlassens der Vorratsdatenspeicherung einzuleiten, hat die 27. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin den streitgegenständlichen stattgebenden Beschluss vom 20. Mai 2009 erlassen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es bestünden erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Kostentragungspflicht der TK-Unternehmen für die Vorratsdatenspeicherung. Wegen des Verstoßes gegen das Prinzip der Steuerstaatlichkeit liege eine unzulässige Berufsausübungsregelung vor, weshalb die Kammer diese Frage in einem Parallelverfahren dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Entscheidung vorgelegt habe. Die vorliegend gebotene Folgenabwägung müsse zugunsten der Antragstellerin ausfallen, da ihr mangels Staatshaftungsansprüchen irreparable Schäden drohten. Diese könne die Antragsgegnerin durch eine - ihr auch zumutbare - verbindliche Kostenübernahme-erklärung für den Fall der Feststellung der Verfassungswidrigkeit jederzeit beseitigen. Dann aber drohten staatlicherseits keine wesentlichen Nachteile.
Zur Begründung der am 4. Juni 2009 erhobenen Beschwerde gegen den ihr am 29. Mai 2009 zugestellten Beschluss des Verwaltungsgerichts hat die Antragsgegnerin mit dem am selben Tag eingegangenen Schriftsatz vom 22. Juni 2009 im Wesentlichen geltend gemacht, die gesetzliche Kostentragungspflicht für die Vorratsdaten-speicherungspflicht sei verfassungsrechtlich unbedenklich, jedenfalls aber müsse die Folgenabwägung zu Lasten der Antragstellerin ausgehen, da sie ihr drohende schwerwiegende und nicht wieder gutzumachende Schäden, die wegen der gesetzgeberischen Entscheidung und der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung zur effektiven Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG zu fordern seien, nicht hinreichend glaubhaft gemacht habe. Die Abgabe einer Verpflichtungserklärung zur Kostenübernahme im Falle der Feststellung einer Verfassungswidrigkeit der Kostenregelung durch das Bundesverfassungsgericht komme wegen der Zuständigkeit des Haushaltsgesetzgebers und der in der genauen Höhe unklaren, jedoch erheblichen Kostenfolgen nicht in Betracht.
Im Übrigen sei die faktisch bewirkte gänzliche Aussetzung der Speicherungspflicht durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts schon deshalb zu weitgehend und somit unzulässig, weil die Kammer an deren Rechtmäßigkeit selbst keine Zweifel habe, vielmehr nur die zusätzliche Regelung, dass die TK-Unternehmen die Anschaffungs- und Bereithaltungskosten hierfür zu tragen hätten, für verfassungswidrig halte. Eine - unterstellt - unzulässige Einzelregelung im Rahmen der innerstaatlichen Umsetzung einer EG-Richtlinie könne jedoch eine faktische Aussetzung der Vorratsdaten-speicherung selbst nicht rechtfertigen, weil die Mitgliedsstaaten der EU europarechtlich zu deren effektiver Umsetzung verpflichtet seien.
Mit Schriftsatz vom 30. September 2009 hat sie auf den Verweis der Antragstellerin, wonach die Antragsgegnerin in einem Parallelfall eines vergleichbaren Webhosting-Unternehmens die Annahme eines öffentlich zugänglichen TK-Dienstes für Endnutzer im Sinne des § 113 a Abs. 1 TKG verneint habe, da es darauf ankomme, wer das Postfach einschließlich Auswahl der Kennung einrichte und betreibe, erklärt, die Tätigkeit der Antragstellerin unterscheide sich von der des anderen Unternehmens dadurch, dass sie ihren Kunden bei der durch ihn erfolgenden Einrichtung des Postfachs, der Kennung und der Aktivierung €Unterstützung€ gewähre, indem sie zu der Hardware auch die - bereits eingangs beschriebene - Konfigurationssoftware zur Verfügung stelle. Damit werde der E-Maildienst €ganz oder teilweise administriert€. Im Übrigen sei die Antragstellerin selbst in ihrer Antragsschrift davon ausgegangen, der Vorratsdatenspeicherungspflicht zu unterliegen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 20. Mai 2009 aufzuheben und den Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.
Die Antragstellerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie macht im Wesentlichen Folgendes geltend:
Das Verwaltungsgericht habe ihrem Begehren auf Aussetzung zu Recht entsprochen. Insofern werde zunächst auf die zutreffenden Gründe des Beschlusses und das bisherige Vorbringen verwiesen. Ergänzend hat sie ausgeführt und eidesstattlich versichert, infolge der notwendigen kompletten Neuprogrammierung aller Systeme werde ihr Geschäftsbetrieb zunächst völlig zum Erliegen kommen, jedenfalls aber seien die Anlaufkosten so hoch, dass sie durch den relativ niedrigen Gewinn des Kleinunternehmens nicht kompensiert werden könnten und die Einstellung des Betriebs zu erwarten sei. Überhaupt würden Kleinbetriebe auch kostenmäßig viel stärker belastet als Großunternehmen, was gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoße.
Ergänzend hat die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2009 u.a. erklärt, zwischen dem Angebot des genannten Konkurrenten, hinsichtlich dessen die Antragsgegnerin die Speicherungspflichtigkeit verneint habe, und dem eigenen gebe es hinsichtlich des Angebots an E-Mail-Dienstleistung keinen Unterschied. Nach den von ihr benannten Kriterien sei sie nicht Betreiberin eines E-Mail-Dienstes.
II.
Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist gemäß § 146 Abs. 4 VwGO unbegründet.
Allerdings hat der Senat hinsichtlich der hier nur streitgegenständlichen Pflicht für TK-Unternehmen zur Tragung der Kosten der Vorratsdatenspeicherung entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts keine den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO hinreichend rechtfertigenden verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. hierzu den Beschluss des Senats vom heutigen Tage im Verfahren OVG 11 S 81.08). Das ist vorliegend nicht weiter zu vertiefen, da der Senat erhebliche Zweifel daran hat, dass die Antragstellerin überhaupt der Speicherungspflicht unterliegt (1.) und die dann erforderliche Folgenabwägung wegen eines ihr durch die Erfüllung der entsprechenden gesetzlichen Verpflichtung drohenden, besonders schwerwiegenden Schadens zu ihren Gunsten ausgehen muss (2.).
Gegen die Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bestehen, wie das Verwaltungsgericht zutreffend anführt, keine Bedenken.
Die Antragstellerin ist vor dem Hintergrund der Bußgelddrohung bis zu 500.000 Euro in § 149 Abs. 1 Nr. 36, 37 und Abs. 2 Satz 1 TKG nicht gehalten, eine Anordnung bzw. (Zwangs)Maßnahmen der Antragsgegnerin gemäß § 115 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 TKG zur Umsetzung der Verpflichtungen aus § 110 Abs. 1 i.V.m. § 113 a TKG abzuwarten und sich hiergegen nach § 80 Abs. 5 VwGO bzw. im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens zu wenden (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 13. Januar 1969 - I C 86.64 -, Buchholz 310 § 43 VwGO Nr. 31).
Dem Erlass einer einstweiligen Anordnung steht auch nicht entgegen, dass die Antragstellerin sich vorliegend gegen eine unmittelbar durch das TKG getroffene Regelung wendet. Denn es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass vorläufiger Rechtsschutz im fachgerichtlichen Verfahren auch für diesen Fall zulässig ist. Die Fachgerichte sind hieran nämlich €für den Fall, dass sie die angegriffene Regelung für verfassungswidrig erachten, nicht dadurch gehindert, dass sie über die Frage der Verfassungswidrigkeit nicht selbst entscheiden könnten, sondern insoweit die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG einholen müssten€ (vgl. nur Beschluss des BVerfG. v. 24. Juni 1992 zu 1 BvR 1028/91, juris Rz. 29). Das ist hiernach jedenfalls dann zulässig, €wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsachenentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird€ (vgl. dazu auch Kopp, VwGO, Kommentar, 16. Aufl., § 123 Rz. 16).
Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Insbesondere würde die vorläufige Entbindung der Antragstellerin von der gesetzlichen Verpflichtung zur Einrichtung und Bereithaltung der technischen Anlagen zur Vorratsdatenspeicherung keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache darstellen. Denn hierunter ist nur eine endgültige - rechtliche oder zumindest faktische - Vorwegnahme der Hauptsache in dem Sinne zu verstehen, dass die Entscheidung und ihre Folgen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen auch nach der Hauptsachenentscheidung gänzlich nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Dass eine vorübergehende Aussetzung als solche hinsichtlich ihrer Folgen ggf. nicht rückgängig gemacht werden kann, steht dem nicht entgegen. Denn eine derartige zeitweise Vorwegnahme wohnt jeder vorläufigen Entscheidung inne, würde eine einstweilige Anordnung somit regelmäßig unzulässig machen (BVerfG, Beschluss vom 31. März 2003 - 2 BvR 1779/02 -, NVwZ 2003, 1112; Kopp, a.a.O.Rz. 14; Schoch: in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Kommentar, Loseblatt, § 123 Rz. 147 u. 154).
Nur unter engen Voraussetzungen wäre allerdings im Hinblick auf die Vorlagepflicht nach Art. 234 EG-Vertrag ein nationales Gericht befugt, durch Erlass einer einstweiligen Anordnung vorläufige Maßnahmen zu treffen, wenn es Zweifel an der Gültigkeit sekundären Gemeinschaftsrechts hat (vgl. dazu im Einzelnen Schoch, a.a.O., Rz. 68 und Kopp, a.a.O. Rz. 16 m.w.N.). Da vorliegend die Kostentragungspflicht der TK-Unternehmen für die Vorratsdatenspeicherung bzw. die hierfür erforderliche Vorhaltung technischer Einrichtungen nicht durch Gemeinschaftsrecht, insbesondere nicht durch die Richtlinie 2006/24/EG, geregelt oder vorgegeben wird, sondern allein durch den bundesdeutschen Gesetzgeber auferlegt wurde, ist die Gültigkeit sekundären Gemeinschaftsrecht hier jedoch nicht im Streit. Eine Vorlage an den EuGH zur Klärung der Vereinbarkeit der Kostentragungsregelung mit dem Grundgesetz ist daher nicht möglich (vgl. auch Lenz Borchardt, EU- und EG-Vertrag, Kommentar, 4. Auflage, Art. 234 Rz. 19 ff.).
Unzutreffend dürfte allerdings die Annahme des Verwaltungsgerichts sein, die vorläufige Untersagung behördlicher Maßnahmen sei als €Regelungsanordnung€ nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zulässig. Denn eine solche ist auf die vorläufige Veränderung des status quo durch eine dem Antragsteller günstige Interimsentscheidung gerichtet und bewirkt die vorläufige Begründung oder Erweiterung einer (bisher nicht inne gehabten) Rechtsposition. Demgegenüber ist die Sicherungsanordnung statthaft, wenn es um zustandssichernde Maßnahmen (Erhaltung einer Rechtsposition) geht, vornehmlich die Sicherung von Unterlassungsansprüchen in Rede steht (Schoch, a.a.O. Rz. 50 bis 57; Kopp, a.a.O. Rz. 6 bis 8). Vorliegend geht es nicht um die Neubegründung oder Erweiterung einer Rechtsposition, sondern um die Erhaltung einer solchen, d.h. den Schutz vor behördlichen Maßnahmen, mithin nur um Unterlassen. Dass der Kostentragungspflicht vorliegend eine gesetzliche Regelung zugrunde liegt, gebietet angesichts des genannten Schutzziels keine andere Beurteilung. Insofern würde hier vorläufiger Rechtsschutz nur über eine Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Betracht kommen.
Dem Erlass einer einstweiligen Anordnung steht auch nicht entgegen, dass die Antragstellerin inzwischen die Auffassung vertritt, sie unterliege der Vorratsdatenspeicherungspflicht deshalb nicht, weil sie keinen öffentlich zugänglichen TK-Dienst für Endnutzer im Sinne des § 113 a TKG anbiete. Denn die Antragsgegnerin sieht sie als Betreiberin eines E-Mail-Dienstes im Sinne des § 113 a Abs. 3 TKG und damit als gesetzlich zur Speicherung Verpflichtete an.
Der Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet.
1. Gemäß § 113 a Abs. 1 TKG hat derjenige, der öffentlich zugängliche TK-Dienste für Endnutzer erbringt, von ihm bei der Nutzung erzeugte oder verarbeitete Verkehrsdaten für sechs Monate zu speichern bzw. im Falle nicht eigener Erzeugung oder Verarbeitung der Daten die Speicherung sicherzustellen und den Verantwortlichen zu benennen. Nach Absatz 3 sind hiervon erfasst auch Anbieter von Diensten der elektronischen Post. Nur insoweit behauptet die Antragsgegnerin vorliegend auch eine Verpflichtung der Antragstellerin nach § 113 a TKG. Hieran bestehen allerdings nach Auffassung des Senats erhebliche Zweifel.
32Gemäß § 3 Nr. 24 TKG sind TK-Dienste in der Regel gegen Entgelt erbrachte Dienste, die ganz oder überwiegend in der Übertragung von Signalen über TK-Netze bestehen, einschließlich Übertragungsdienste in Rundfunknetzen. Diensteanbieter ist nach § 3 Nr. 6 TKG jeder, der ganz oder teilweise geschäftsmäßig TK-Dienste erbringt oder an der Erbringung solcher Dienste mitwirkt. Nach Auffassung der Antragsgegnerin ist Anbieter der E-Mail-Funktionalität bzw. des E-Mail-Dienstes derjenige, der das elektronische Postfach (mailbox) einrichtet, d.h. die Kennung bestimmt, ohne Beteiligung des Webspace-Anbieters selbstständig die Homepage gestaltet und konfiguriert, Nachrichtendienste implementiert etc. sowie das Postfach aktiviert, und es betreibt. Erfolgt dieseigenverantwortlichdurch den Kunden, dem vom Webspace-Anbieter lediglich die notwendige Hardware nebst der für die Internetpräsenz notwendigen Software - auch die für die Grundkonfiguration - zur Verfügung gestellt wird, ist jener der Anbieter (vgl. dazu die detaillierten Ausführungen im von der Antragstellerin vorgelegten Schreiben der Antragsgegnerin vom 24. August 2009 im Verfahren VG 27 L 180.09). Diese beruft sich insoweit darauf, dass das elektronische Postfach nach der Begründung des Gesetzentwurfs zu § 113 a TKG (BT-Drs. 16/5846, amtl. Abdruck S. 71 bzw. Internetabdruck S. 176 f.) die €entscheidende Quelle und Senke der E-Mail-Kommunikation€ sei. Dass diese Annahme unzutreffend ist, kann jedenfalls im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht festgestellt werden.
Wenn die Antragsgegnerin demgegenüber mit Schriftsatz vom 30. September im vorliegenden Verfahren darauf abstellt, die bloße €Unterstützung€ der Kunden durch das Zur-Verfügung-Stellen einer - die Einrichtung des Postfachs und die Verwaltung erleichternden - Konfigurationssoftware begründe die Anbieterstellung der Antragstellerin, dürfte das schon mit den eben genannten Ausführungen im Schriftsatz vom 24. August 2009 nicht zu vereinbaren sein, zumal auch der mit diesem Schreiben freigestellte Anbieter ein entsprechendes Konfigurationstool bereithält. Jedenfalls erscheint eine derartige Abgrenzung für die Frage, wer Anbieter im Sinne von Betreiber des E-Mail-Dienstes ist, wenig überzeugend. Denn die bloße Erleichterung der selbstständigen Einrichtung des Postfachs und des eigenverantwortlichen Betreibens dürfte keine Mitwirkung an derErbringung des TK-Dienstes, d.h. der Signalübertragung über TK-Netze, sein. Welche Dienste im Bereich des Datentransfers die Antragstellerin anbietet, die auf der Grundlage ihrer vorherigen Abgrenzung unter § 113 a TKG fallen sollen, bezeichnet die Antragsgegnerin nicht. Vielmehr hält sie ihre eigene Einschätzung wohl selbst nicht für abschließend, wenn sie €zurzeit keinen Grund, von der getroffenen Einordnung des Diensteangebots abzuweichen€, sieht.
Im Übrigen lässt der Vergleich des Angebots an E-Mail-Dienstleistungen der Antragstellerin mit dem des Webhosting-Unternehmens im Verfahren VG 27 L 180.09, wie seitens der Antragstellerin zu Recht vorgetragen wird, in der Tat keine Unterschiede erkennen, stellt doch auch der dortige Anbieter seinen Kunden ein Konfigurationstool u.a. für E-Mail-Adressen zur Verfügung (vgl. die Angebote im Internet). Nach alledem spricht viel dafür, die Antragstellerin nicht als Anbieterin von TK-Dienstleistungen nach § 113 a TKG anzusehen. Dass sie sich selbst - wohl in Unkenntnis der von der Bundesnetzagentur als maßgeblich angesehenen Kriterien - als solche angesehen hat, ist unerheblich.
2. Bei dieser Sachlage muss die erforderliche Folgenabwägung zu Gunsten der Antragstellerin ausgehen. Denn der Grundsatz effektiven Rechtschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG gebietet es, vorläufigen Rechtschutz zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Dies gilt v.a. dann, wenn eine erhebliche Grundrechtsverletzung droht, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1988 - 2 BvR 745/77 -, BVerfGE 79, 69, 74).
36Vorliegend ist davon auszugehen, dass der Antragstellerin derartige Nachteile drohen. Denn sie hat durch Vorlage eines Kostenangebotes für die notwendigen Investitionskosten und die laufenden jährlichen Betriebskosten für die Vorratsdatenspeicherung bereits im erstinstanzlichen Verfahren unwidersprochen dargelegt und glaubhaft gemacht, dass sie einmalige Einrichtungskosten von ca. 6... Euro und laufende jährliche Kosten von ca. 1... Euro zu tragen hätte. Nach der weiterhin vorgelegten Einnahme- und Überschussrechnung für 2008 erzielte sie im Jahre 2008 bei Gesamtbetriebseinnahmen von etwa 1... Euro einen Gewinn von ca. 1... Euro. Vor diesem Hintergrund erscheint ihre Einschätzung, diese Kosten würden sie €zur sofortigen Geschäftsaufgabe zwingen€ bzw. der Betrieb müsse €mangels Liquidität eingestellt werden€ (vgl. auch die eidesstattlichen Versicherungen des Unternehmensinhabers vom 16. April und 17. Juli 2009), mit der Folge einer möglichen Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG überzeugend.
Dem steht auf der anderen Seite das öffentliche Interesse gegenüber, dass ohne die entsprechende Anschaffung und Bereitstellung der technischen Einrichtungen die gesetzlich vorgesehene Vorratsdatenspeicherung sowie die entsprechende Auskunftserteilungspflicht und die damit bezweckte Sicherstellung effektiver Strafverfolgung und Gefahrenabwehr zumindest vorübergehend für diesen TK-Anbieter nicht möglich ist. Dabei ist insbesondere auch zu bedenken, dass diese Pflichten, mögen sie auch Spielraum in Einzelregelungen lassen, auf zwingenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, nämlich der Richtlinie 2006/24/EG, beruhen und jedenfalls die generelle Aussetzung der sich hieraus ergebenden Verpflichtungen €regelmäßig eine Störung des Gemeinschaftsinteresses an einem effektiven Vollzug des Gemeinschaftsrechts€ darstellt (s. den Gesetzentwurf, a.a.O., S. 2 f., 28 ff. und BVerfG, Beschluss vom 11. März 2008, a.a.O., Rz. 142, 147). Dort ist weiter ausgeführt, dass auch nach der Rechtsprechung des EuGH die einstweilige Aussetzung des Vollzugs zwingender gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakte durch mitgliedsstaatliche Gerichte allenfalls in besonderen Ausnahmefällen und unter strengen Voraussetzungen in Betracht kommt, wobei insbesondere das Interesse der Gemeinschaft am Vollzug des Gemeinschaftsrechts angemessen zu berücksichtigen sei (Rz. 144).
Stehen sich bei der Folgenabwägung hier auf Seiten der Antragstellerin die hohe Wahrscheinlichkeit notwendiger Einstellung des Geschäftsbetriebs, d.h. ein schwerwiegender Schaden, und auf staatlicher Seite die relativ geringen Nachteile durch Ausfall der Vorratsdatenspeicherungspflicht für ein kleines, der gesetzlichen Verpflichtung möglicherweise nicht einmal unterliegendes TK-Unternehmen (vgl. im Übrigen auch § 3 Abs. 2 Nr. 5 TKÜV, wonach bei Anschluss von nicht mehr als zehntausend Teilnehmern oder sonstigen Nutzungsberechtigten keine Vorkehrungen zur Überwachung getroffen werden müssen), mithin keine überwiegenden, besonders gewichtigen Gründe, gegenüber, liegen diese Voraussetzungen vor. Die Abwägung muss deshalb zugunsten der Antragstellerin ausfallen.
Dem kann nicht entgegenhalten werden, dass es letztlich in der Hand des deutschen Gesetzgebers liege, eine entsprechende Kostenerstattungsregelung zu schaffen, da insoweit keine gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben bestehen. Denn die Interessen- und Folgenabwägung ist auf der Grundlage der bestehenden gesetzlichen Regelung zu treffen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und § 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
OVG Berlin-Brandenburg:
Beschluss v. 02.12.2009
Az: OVG 11 S 32.09
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