Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen:
Beschluss vom 29. Oktober 2009
Aktenzeichen: L 1 B 6/09 AS
(LSG Nordrhein-Westfalen: Beschluss v. 29.10.2009, Az.: L 1 B 6/09 AS)
Tenor
Auf die Beschwerde des Bezirksrevisors als Vertreter der Staatskasse wird der Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 21.01.2009 abgeändert. Die dem Prozessbevollmächtigten der Kläger im Rahmen der Prozesskostenhilfe aus der Landeskasse zu erstattende Vergütung wird auf 366,52 EUR festgesetzt. Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten um die Anrechnung der Geschäftsgebühr im Rahmen der Beratungshilfe auf die Gebühren für das gerichtliche Verfahren.
Am 5.2.2007, 5.4.2007 und 18.7.2007 haben die Kläger Bescheide über die Bewilligung von Arbeitslosengeld II bzw. Bescheide über die Aufhebung- und Erstattung dieser Leistungen erhalten. Am 18.10.2007 hat das Amtsgericht Paderborn dem Kläger zu 1) einen Berechtigungsschein für Beratungshilfe durch einen Rechtsanwalt zur "Überprüfung des Aufhebungsbescheides der ARGE/Zahlungsaufforderung vom 23.9.2007" erteilt. Mit Schreiben vom 22.10.2007 hat der Kläger zu 1) die Aufhebung des Bescheides vom 18.7.2007 beantragt. Mit Bescheid vom 29.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.8.2008 hat die Beklagte die Aufhebung der Bescheide vom 5.2.2007, 5.4.2007 und 18.7.2007 abgelehnt.
Gegen diese Entscheidung haben die Kläger am 1.9.2007 Klage erhoben. Mit Beschluss vom 14.10.2008 hat das Sozialgericht Detmold Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt I, Q, beigeordnet. Am 24.10.2008 haben die Kläger die Klage zurückgenommen, da sie sich mit der Beklagten außergerichtlich geeinigt hatten.
Am 4.11.2008 hat der Bevollmächtigte der Kläger die Festsetzung der aus der Staatskasse zu zahlenden Vergütung gem. § 55 Abs. 1 S. 1 RVG i.H.v. 408,17 EUR beantragt. Mit Beschluss vom 4.12.2008 hat der Urkundsbeamte der Geschäftstelle die Vergütung auf 366,52 EUR festgesetzt. Die Geschäftsgebühr für die Beratungshilfe i.H.v. 70. EUR (Nr. 2503 VV/RVG) wurde zur Hälfte i.H.v. 35.-EUR auf die Gebühr für das gerichtliche Verfahren angerechnet.
Auf die Erinnerung des Prozessbevollmächtigten der Kläger hat das Sozialgericht Detmold mit Beschluss vom 21.1.2009 die dem Bevollmächtigten aus der Landeskasse zu erstattende Gebühr auf 408, 17 EUR festgesetzt. Die Gebühr im Beratungshilfeverfahren sei auf die gerichtliche Gebühr nur gem. Nr. 2503 Anm. Abs. 2 S. 1 VV/RVG anzurechnen, wenn sie außerhalb eines gerichtlichen oder behördlichen Verfahrens entstanden ist. Das Sozialgericht hat sich insoweit auf die Entscheidung des Senats vom 18.3.2008 - L 1 B 21/07 AL - gestützt.
Gegen diese Entscheidung hat der Bezirksrevisor als Vertreter der Staatskasse am 6.2.2009 Beschwerde eingelegt und beantragt, die PKH-Vergütung wieder auf 366,52 EUR festzusetzen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen auf den Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen vom 1.2.2007 - L 12 B 8/06 AS - Bezug genommen. Hiernach sei für eine Anrechnung der Geschäftsgebühr im Rahmen der Beratungshilfe nicht erforderlich, dass diese außerhalb eines gerichtlichen oder behördlichen Verfahrens entstanden ist.
Der Bevollmächtigte der Kläger ist der Beschwerde entgegengetreten. Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Über die Beschwerde entscheidet der Senat mit drei Berufsrichtern, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 8 S. 2 RVG).
Die Beschwerde, an deren Zulassung der Senat gem. §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 3 S. 2 RVG gebunden ist, ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht die Geschäftsgebühr im Rahmen der Beratungshilfe nicht auf die Gebühr für das gerichtliche Verfahren angerechnet und die zu erstattende Vergütung auf einen höheren Betrag als 366,52 EUR festgesetzt.
Es ist bereits fraglich, ob die Entscheidung des Sozialgerichts dem Beschluss des Senats vom 18.3.2008 - L 1 B 21/07 AL - entspricht. Nach dieser Entscheidung kommt die hälftige Anrechnung der Gebühren der Beratungshilfe für ein anschließendes gerichtliches oder behördliches Verfahren nur in Betracht, wenn die Beratunghilfe außerhalb eines behördlichen oder gerichtlichen Verfahrens erfolgt ist. Im vorliegenden Fall ist zweifelhaft, ob die Beratungshilfe innerhalb oder außerhalb eines behördlichen Verfahrens erbracht wurde. Denn einerseits wurde der Berechtigungsschein für die Beratungshilfe durch das Amtsgericht Paderborn bereits am 18.10.2007 erteilt, während der maßgebliche Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X erst am 22.10.2007 gestellt wurde. Andererseits datieren die Bescheide, deren Aufhebung begehrt wird, vor dem 18.10.2007, sie wurden also vor Erteilung des Berechtigungsscheins wirksam.
Der Senat braucht diese Frage jedoch nicht abschließend zu entscheiden, denn er hält an der Rechtsauffassung, die dem Beschluss vom 18.3.2008 zugrunde liegt, nicht fest.
Nach Nr. 2503 Anm. Abs. 2 S. 1 VV/RVG in der ab 1.7.2006 geltenden Fassung (Art. 5 Kostenrechtsmodernisierungsgesetz vom 5.5.2004 - BGBl. I S. 718 f -, vorher Nr. 2603 VV/RVG) ist die Geschäftsgebühr für die Beratungshilfe (70.- EUR) auf die Gebühren für ein anschließendes gerichtliches oder behördliches Verfahren zur Hälfte, d.h. in Höhe von 35. EUR, anzurechnen.
Diese Anrechnung setzt nicht voraus, dass die Geschäftsgebühr für die Beratungshilfe außerhalb eines gerichtlichen oder behördlichen Verfahrens entstanden sein muss. Insoweit hält der Senat nicht an seiner früheren Rechtsprechung fest.
Nr. 2503 Anm. Abs. 2 VV/RVG entspricht der bis zum 30.6.2004 geltenden Regelung des § 132 Abs. 2 S. 2 BRAGO. Hiernach war die Gebühr, die der Rechtsanwalt als Geschäftsgebühr für die Beratungshilfe erhielt, zur Hälfte auf die Gebühren für ein anschließendes gerichtliches oder behördliches Verfahren anzurechnen.
Nach den Gesetzesmaterialien zu § 132 Abs. 2 S. 2 BRAGO war allerdings die Annahme begründet, dass die Geschäftsgebühr für die Beratungshilfe nur auf die Gebühren für ein anschließendes gerichtliches oder behördliches Verfahren anzurechnen war, wenn die Beratungshilfe außerhalb eines gerichtlichen oder behördlichen Verfahrens erfolgt ist. Denn nach der Gesetzesbegründung (Entwurf der Bundesregierung eines Beratungshilfegesetzes, BT-Drucks. 8/3311 S. 16) sollte die für die Beratungshilfe gezahlte Gebühr "wie allgemein nach § 118 Abs. 2 BRAGO" auf die Gebühren für ein anschließendes gerichtliches oder behördliches Verfahren angerechnet werden. Nach § 118 Abs. 2 S. 1 BRAGO war eine Geschäftsgebühr nur auf die entsprechenden Gebühren für ein anschließendes gerichtliches oder behördliches Verfahren anzurechnen, soweit diese außerhalb eines solchen Verfahrens entstand. Hieraus hat der Senat im Einklang mit weiten Teilen der Rechtsprechung und Literatur (VG Stuttgart, Beschluss vom 12.3.2002 - A 5 K 11182/98; SG Hannover, Beschluss vom 3.4.1998 - S 34 SF 2/97 = JurBüro 1999, S. 78; OLG München, Beschluss vom 30.8.2007 - 11 W 1779/07 - zu Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV/RVG; Hartmann, Kostengesetze, 31. Aufl. § 132 BRAGO Rnr. 14) geschlossen, dass auch die Geschäftsgebühr für die Beratungshilfe nur anzurechnen ist, wenn diese außerhalb des gerichtlichen oder behördlichen Verfahrens entstanden ist.
Allerdings hat diese Einschränkung im Wortlaut der jetzt maßgeblichen Norm der Nr. 2503 Anm. Abs. 2 VV/RVG keinen Niederschlag gefunden, obwohl dies - wie aus dem Beispiel des § 118 Abs.2 BRAGO deutlich wird - ohne weiteres möglich gewesen wäre. Hätte der Gesetzgeber eine Anrechnung ausschließen wollen, hätte es nahe gelegen, in der Anmerkung zu Nr. 2503 VV/RVG eine Formulierung dahingehend aufzunehmen, dass die Anrechnung nur stattfindet, wenn die Geschäftsgebühr für die Beratungshilfe "außerhalb eines gerichtlichen oder behördlichen Verfahrens" entstanden ist (ebenso LSG Thüringen, Beschluss vom 16.1.2009 - L 6 B 255/08 SF; Beschluss vom 26.1.2009 - L 6 B 256/08 SF). Demzufolge wird mittlerweile auch in der kostenrechtlichen Literatur zu Nr. 2503 VV/RVG vertreten, dass es unerheblich ist, ob der Anwalt in demjenigen gerichtlichen oder behördlichen Verfahren tätig wird, das sich an das außergerichtliche oder außerbehördliche Verfahren unmittelbar anschließt, oder ob er erst in einem zeitlich nachfolgenden weiteren gerichtlichen oder behördlichen Folgeverfahren tätig wird (Hartmann, Kostengesetze, 39. Aufl., 2503 VV/RVG Rnr. 18).
Zudem unterscheidet sich der Regelungsgehalt des § 118 Abs. 2 BRAGO wesentlich von dem des § 132 Abs. 2 S. 2 BRAGO, so dass die Übertragung der Regelung des § 118 Abs. 2 BRAGO auf § 132 Abs. 2 S. 2 BRAGO und Nr. 2503 Anm. Abs. 2 VV/RVG nicht geboten ist. Das Gesetz ging in § 118 Abs. 2 BRAGO davon aus, dass es sich bei den anwaltlichen Tätigkeiten außerhalb eines gerichtlichen oder behördlichen Verfahrens und den Tätigkeiten in einem anschließenden gerichtlichen oder behördlichen Verfahren um verschiedene Gebührenangelegenheiten handelte; dadurch entstanden in den verschiedenen Gebührenangelegenheiten gesonderte Gebühren nebeneinander (Schneider, in: Riedel/Sußbauer, BRAGO, 8. Aufl., § 118 Rnr. 55). Gebühren für vorprozessuale Tätigkeiten, die von der für den Prozess bestimmten Gebühr umfasst werden, waren Gebühren, die in der Prozessangelegenheit selbst entstanden, Gebühren nach § 118 sind nicht erwachsen, so dass sich die Frage der Anrechnung nicht stellte (Schneider, in: Riedel/Sußbauer, BRAGO, 8. Aufl., § 118 Rnr. 56). Vor diesem Hintergrund ist die einschränkende Formulierung des § 118 Abs. 2 BRAGO ("außerhalb eines gerichtlichen oder behördlichen Verfahrens") zu verstehen. Demgegenüber handelte es sich bei der Geschäftsgebühr für die Beratungshilfe nach § 132 Abs. 2 S. 2 BRAGO stets um eine gesondert entstehende Gebühr, die immer auf die Gebühren für ein anschließendes gerichtliches oder behördliches Verfahren anzurechnen war (ähnlich LSG NRW, Beschluss vom 1.2.2007 - L 12 B 8/06 AS). Diese Regelung sollte nach der Gesetzesbegründung (Entwurf eines Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes, BT-Drucks. 15/1971 S. 208) durch Nr. 2603 bzw. 2503 VV/RVG übernommen werden.
Schließlich ist es auch nach Sinn und Zweck der Regelung - Vermeidung einer übermäßigen Vergütung für das gerichtliche Verfahren bei vorangehender Beratungshilfe - einleuchtender, nicht gerade dann von einer Anrechnung abzusehen, wenn die Beratungshilfe innerhalb des Verfahrens geleistet wurde, für das weitere Gebühren beansprucht werden können.
Voraussetzung für eine Anrechnung der hälftigen Geschäftsgebühr für die Beratungshilfe ist daher, dass sowohl das Beratungshilfeverfahren als auch das anschließende gerichtliche oder behördliche Verfahren vom selben Rechtsanwalt bzw. derselben Sozietät betrieben werden, beide Verfahren denselben Gegner betreffen, beide Verfahren denselben Streitgegenstand betreffen und schließlich zwischen beiden Verfahren ein gewisser zeitlicher Zusammenhang besteht (Hartmann, Kostengesetze, 39. Auflage, Nr. 2503 VV/RVG Rnr. 16-18; Pukall, in: Mayer/Kroiß, RVG, 2. Aufl. Ziff. 2503 Rnr. 8; Mayer, in: Gerold/Schmidt, RVG, 18.Aufl. Ziff. 2500-2508 RVG Rnr. 36).
Da diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind, ist die Anrechnung zu Recht erfolgt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 56 Abs. 2 S. 3 RVG.
Die Entscheidung ist nicht anfechtbar (§§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 4 S. 3 RVG).
LSG Nordrhein-Westfalen:
Beschluss v. 29.10.2009
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