Bundesverwaltungsgericht:
Beschluss vom 27. Oktober 2010
Aktenzeichen: 5 B 18.10

(BVerwG: Beschluss v. 27.10.2010, Az.: 5 B 18.10)

Tenor

Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. Januar 2010 wird zurückgewiesen.

Der Antrag der Kläger, ihnen Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt ..., ..., beizuordnen, wird abgelehnt.

Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1. Die auf den Zulassungsgrund der Grundsatzbedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

1.1 Die Beschwerde hält (zusammenfassend auf S. 5 f. der Beschwerdebegründung) folgende Fragen für grundsätzlich klärungsbedürftig:

"a) Es ist entscheidungserheblich und daher zu prüfen, ob bei der vorgegebenen Sachverhaltskonstellation auf die Bestimmung des Artikel 73 der Verordnung 1408/71 zurückzugreifen ist und die Mutter der Kläger als tätige Arbeitnehmerin im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist, oder ob auf Artikel 74 der Verordnung 1408/71 zurückzugreifen ist und der Vater als arbeitsloser Arbeitnehmer im Sinne dieser Vorschrift zu berücksichtigen ist. ...

b) Bei Anwendung der Bestimmung des Artikels 74 der Verordnung 1408/71 wäre zu prüfen, ob es sich bei Leistungen nach dem SGB II ohne Zuschlag im Sinne des § 24 Abs. 1 SGB II, wie sie der Vater der Klägerin erhält, um Leistungen €bei Arbeitslosigkeit€ handelt. ...

c) Sollte sich eine Leistungsberechtigung der Kläger weder aus Artikel 73 noch aus Artikel 74 der Verordnung 1408/71 ergeben, so wäre des Weiteren zu prüfen, ob sich ein direkter Anspruch der Kläger aus dem gemeinschaftrechtlichen Diskriminierungsverbot des Artikel 12 EGV und/oder dem Institut der Unionsbürgerschaft im Sinne des Artikel 17 EGV i.V.m. dem Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger aus Artikel 18 EGV ergibt."

Diese Fragen rechtfertigen es nicht, die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), weil es sich um Fragen auslaufenden bzw. ausgelaufenen Rechts handelt. Sämtliche Fragen betreffen die Art. 73 und 74 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörigen, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (sog. Wanderarbeitnehmerverordnung, ABl. EG L 149 vom 5. Juli 1971). Auch die Klärung der Frage c) setzt notwendig die Prüfung der Art. 73 und 74 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 bzw. eine Auseinandersetzung damit voraus, in welchem Verhältnis diese Vorschriften zu den von der Beschwerde genannten Regelungen des primären Gemeinschaftsrechts stehen.

Die Art. 73 und 74 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 sind jedoch ausgelaufenes Recht. Denn diese Vorschriften sind - wie das Berufungsgericht in dem angefochtenen Urteil (UA S. 8, 15) zu Recht festgestellt hat und wie auch die Beschwerde nicht in Abrede stellt - zwischenzeitlich aufgehoben worden. An ihre Stelle ist mit Wirkung zum 1. Mai 2010 die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. EG L 166 vom 30. April 2004) getreten. Dies ergibt sich aus Art. 89, 90 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 97 der Durchführungsverordnung Nr. 987/2009 zur Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vom 16. September 2009 (ABl. EU L 284 vom 30. Oktober 2009).

Fragen auslaufenden oder ausgelaufenen Rechts verleihen einer Rechtssache regelmäßig keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, weil dieser Zulassungsgrund die Revision eröffnen soll, um Fragen zur Auslegung des geltenden Rechts mit Blick auf die Zukunft richtungweisend zu klären (stRspr, vgl. Beschlüsse vom 8. Oktober 2007 - BVerwG 3 B 16.07 - juris Rn. 2 f.; vom 5. Mai 2009 - BVerwG 3 B 14.09 - juris Rn. 3 und vom 5. Oktober 2009 - BVerwG 6 B 17.09 - Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 4).

Etwas anderes kann zwar dann gelten, wenn sich die als rechtsgrundsätzlich aufgeworfene Frage bei den gesetzlichen Bestimmungen, die den außer Kraft getretenen Vorschriften nachgefolgt sind, in gleicher Weise stellt. Dies muss jedoch offensichtlich sein, weil es nicht Aufgabe des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens ist, in diesem Zusammenhang mehr oder weniger komplexe Fragen des jetzt geltenden Rechts zu klären und die frühere mit der geltenden Rechtslage zu vergleichen (Beschluss vom 5. Oktober 2009 a.a.O. m.w.N.). Von einer solchen Offensichtlichkeit kann hier keine Rede sein. Vielmehr stellen sich die von den Klägern aufgeworfenen Rechtsfragen nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 erkennbar nicht in gleicher Weise, da diese Verordnung die Unterhaltsvorschüsse aus ihrem Anwendungsbereich gerade ausgeschlossen hat.

Eine weitere Ausnahme von dem genannten Grundsatz ist zwar auch dann zu machen, wenn das ausgelaufene Recht noch für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft von Bedeutung ist. Für das Vorliegen einer solchen Sachlage sind allerdings die Beschwerdeführer darlegungspflichtig (Beschluss vom 20. Dezember 1995 - BVerwG 6 B 35.95 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 9 m.w.N.). Hierauf berufen sich die Kläger ohne Erfolg. So ist insbesondere die vom Prozessbevollmächtigten der Kläger benannte Zahl von drei Fällen "der vorliegenden Art", mit denen er befasst sei, hierfür nicht hinreichend. Zum einen sind diese Fälle nicht näher bezeichnet worden und es ist schon nicht ersichtlich, ob und inwieweit für sie überhaupt das ausgelaufene Recht entscheidungserheblich ist und ob sie im Übrigen mit dem vorliegenden Fall tatsächlich und rechtlich vergleichbar sind. Zum anderen kann aus der genannten Zahl der in einer Anwaltskanzlei vorhandenen Fälle nicht auf die Praxis sonstiger Kanzleien oder gar der Gerichte hochgerechnet werden; jedenfalls lässt sich daraus nicht auf einen nicht überschaubaren Personenkreis schließen. Dies gilt auch für die pauschalen und nicht substantiierten Hinweise der Kläger darauf, dass es eine große Zahl an vergleichbaren Fällen gäbe. Diese Ausführungen genügen nicht den Darlegungsanforderungen, zumal - wie die Kläger selbst zugestehen - die Urteile zu ihrem Fall die - soweit ersichtlich - einzigen gerichtlichen Entscheidungen in Deutschland zu dieser Konstellation sind.

1.2 Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache kann auch nicht daraus hergeleitet werden, dass das Bundesverwaltungsgericht - als letztinstanzliches Gericht - in dem angestrebten Revisionsverfahren eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union nach Art. 234 Abs. 3 EG zur Auslegung des im streitbefangenen Zeitraum des Jahres 2008 (für den die Kläger Unterhaltsvorschuss begehren) geltenden, mittlerweile ausgelaufenen Recht (Art. 73 und 74 der Verordnung <EWG> Nr. 1408/71) einholen müsste. Zwar kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einer Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zukommen, wenn dargelegt ist, dass in einem zukünftigen Revisionsverfahren zur Auslegung einer entscheidungsrelevanten gemeinschaftsrechtlichen Regelung voraussichtlich gemäß Art. 234 Abs. 3 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen sein wird (Beschlüsse vom 30. Januar 1996 - BVerwG 3 NB 2.94 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 111, vom 13. Juni 2007 a.a.O. und vom 5. Mai 2009 a.a.O.). Damit werden aber nur Fragen des europäischen Gemeinschaftsrechts, Fragen des Bundesrechts (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) und eine Klärung durch den Europäischen Gerichtshof einer Klärung durch das Bundesverwaltungsgericht gleichgestellt. Es ändert nichts daran, dass eine Klärung der bezeichneten Fragen zukunftsorientiert der Fortentwicklung des Rechts dienen muss und dass diese im Grundsatz ausscheidet, wenn sie allein auslaufendes oder ausgelaufenes Recht betreffen (Beschluss vom 5. Mai 2009 a.a.O.). Dies löst lediglich die Frage aus, ob in derartigen Fällen das Berufungsgericht als letztinstanzliches Gericht im Sinne von Art. 234 Abs. 3 EG anzusehen ist.

2. Aus den Darlegungen der Beschwerde ergibt sich indes auch kein Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).

2.1 Die Kläger rügen gerade nicht, das Berufungsgericht habe ihnen die Einschaltung des Gerichtshofs der Europäischen Union vorenthalten und damit den Grundsatz verletzt, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 138 Nr. 1 VwGO; vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 31. Mai 1990 - 2 BvL 12/88 u.a. - BVerfGE 82, 159 <195> und vom 30. August 2010 - 1 BvR 1631/08 - juris Rn. 46 ff.). Vielmehr vertreten sie die Auffassung, das Berufungsgericht sei, obgleich es den Charakter der entscheidungserheblichen Normen als auslaufendes Recht ausdrücklich herausgestellt hat (UA S. 8, 15), selbst nicht vorlagepflichtig gewesen.

2.2 Ein Verfahrensfehler ergibt sich ferner nicht aus den Ausführungen der Kläger dazu, das Berufungsgericht sei in der angefochtenen Entscheidung auf die von ihnen aufgeworfene Rechtsfrage nicht eingegangen (S. 4 der Beschwerdeschrift), ihnen stehe als Familienangehörigen ihrer Mutter, die tätige Arbeitnehmerin in Spanien und auf die hier abzustellen sei, ein Anspruch auf Familienleistungen und damit auf Unterhaltsvorschuss aus Art. 73 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 nach den Grundsätzen zu, die der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft in der Entscheidung zur Rechtssache Humer (EuGH, Urteil vom 5. Februar 2002 - C-255/99 - Slg. 2002, I-1205) entwickelt habe. Die Kläger bezeichnen insoweit bereits keine konkrete Verfahrensvorschrift, welche sie für verletzt halten.

Sollten die Kläger damit eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) rügen wollen, genügte ihr Vortrag ebenfalls nicht den Anforderungen an die Bezeichnung und Darlegung eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).

Zwar wäre es verfehlt gewesen, wenn das Berufungsgericht allein deshalb auf einen Vortrag der Kläger zu Art. 73 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 als materieller Anspruchsnorm nicht eingegangen wäre, weil es die Berufung mit Beschluss vom 8. September 2009 nur "im Hinblick auf die Frage der Anwendung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung des Begriffs €Leistungen bei Arbeitslosigkeit€ in Art. 74 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71" auf den vorliegenden Einzelfall zugelassen hat. Denn eine solche Begrenzung der Zulassung ist ihrerseits nicht zulässig. Eine teilweise Zulassung darf sich nur auf einen gesonderten Streitgegenstand bzw. einen rechtlich und tatsächlich selbständigen und abtrennbaren Teil des Gesamtstreitstoffs beziehen; nicht zulässig und daher unwirksam ist dagegen eine - hier vom Berufungsgericht vorgenommene - Beschränkung der Zulassung auf bestimmte Rechtsfragen oder Normen (vgl. zur Revisionszulassung Urteil vom 1. April 1976 - BVerwG 2 C 39.73 - BVerwGE 50, 292 <295>; BGH, Urteil vom 17. Juni 2004 - VII ZR 226/03 - NJW 2004, 3264 f. jeweils m.w.N.).

Allerdings haben die Kläger nicht - wie sie nunmehr mit der Beschwerde vortragen - bereits im Berufungsverfahren eine gesonderte Verletzung eines etwaigen Anspruchs aus Art. 73 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in einer Weise geltend gemacht, die das Berufungsgericht hätte veranlassen müssen, hierauf in den Entscheidungsgründen gesondert einzugehen. Sie haben nämlich im Berufungsverfahren nicht ausdrücklich und konkret die Verletzung dieser Vorschrift gerügt. Ein solches konkretes Geltendmachen eines materiellrechtlichen Anspruchs aus dieser Vorschrift im Berufungsverfahren hätte das Berufungsgericht aber erwarten dürfen, um daraus unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs auf die Notwendigkeit eines Eingehens hierauf in den Entscheidungsgründen schließen zu können, nachdem bereits das Verwaltungsgericht im Urteil vom 17. Februar 2009 (UA S. 5) die Voraussetzungen des Art. 73 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 als nicht erfüllt angesehen hatte. Zudem hat sich das Berufungsgericht in dem angefochtenen Urteil ausführlich mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Humer (a.a.O.) auseinandergesetzt und ist dabei (UA S. 13) auch (wenn auch im Rahmen der Prüfung des Art. 39 EG) auf den von den Klägern zu Unrecht als nicht berücksichtigt gerügten Gesichtspunkt eingegangen, dass die Mutter der Kläger von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht habe.

3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

4. Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung - wie sich aus den vorstehend ausgeführten Gründen ergibt - keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 115, 121 Abs. 1 ZPO).

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.






BVerwG:
Beschluss v. 27.10.2010
Az: 5 B 18.10


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